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Wenn dem Körper der Sprit ausgeht

Sportler kennen den sogenannten Hungerast während eines Marathonlaufs oder einer langen Fahrradetappe. Er entsteht, wenn der Zucker knapp wird im Körper.

Von Andrea Westhoff |
    Ich war gerade dabei, eine 72-Kilometer-Runde zu beenden, als ich circa zehn Kilometer vor der Haustür merkte, wie sich ein starkes Hungergefühl breitmachte. "Okay, dann wirst Du gleich zu Hause mächtig zuschlagen", dachte ich mir. Dann brach mir kalter Schweiß aus, ich fror. Einen Moment später fühlte sich das Fahrrad so an, als hätte ich in beiden Reifen keine Luft mehr. Alsdann wurde mir schwindelig und etwas schwarz vor den Augen. Äußerst wacklig kam ich zum Stehen, setzte mich sofort auf den Boden, wurstelte zittrig die beiden "Notbrote" aus der Tasche und verschlang sie mit einer Gier, wie ich sie bisher noch nicht bei mir erlebt hatte.

    So beschreibt "Paule" in einem Internetforum das, was Sportler einen Hungerast nennen – medizinisch betrachtet eine Unterzuckerung.

    Pfeiffer: "Wenn man Sport macht und wirklich an die Leistungsgrenze geht, dann verbrennt der Muskel Zucker. Der Körper geht dann radikal an die Vorräte, und Zucker ist ein besserer Brennstoff als Fett, was der Muskel auch benutzen kann, also eine typische Situation, wo man Unterzucker bekommt, ist, wenn man sich sehr anstrengt."

    Der gesamte Körper, insbesondere das Gehirn, braucht Zucker, genauer Glukose, als Energielieferant für die Zellen, neben Fett und Eiweiß. Und normalerweise wird die ausreichende Versorgung in einem ausgeklügelten System geregelt, erklärt Professor Andreas Pfeiffer, Leiter der Abteilung für Endokrinologie, Diabetes und Ernährungsmedizin der Charite:

    "Es gibt im Grunde zwei Zustände: Das eine ist der Zustand nach dem Essen – wenn man zum Beispiel Kohlenhydrate gegessen hat, also zum Beispiel Brot, Nudeln, Kartoffeln, die enthalten ja Stärke, und Stärke sind Zuckermoleküle in der langen Kette, die werden im Darm gespalten und dann aufgenommen, und dann steigt der Zuckerspiegel im Körper im Allgemeinen relativ schnell an, das führt zu einer Hormonausschüttung, die den Zuckerstoffwechsel reguliert, das Insulin, und der Zucker wird dann zum Teil gespeichert in der Leber, der, der nicht unmittelbar verbraucht werden kann, und der Zucker, der dann noch mehr kommt, wird letztlich umgewandelt in Fett und dann als Fett gespeichert, wenn man ihn nicht verbraucht, durch Muskelarbeit zum Beispiel."

    Der zweite Zustand tritt ein, wenn kein Zucker von außen zugeführt wird – normalerweise nachts oder bei Diäten:

    "Und dafür haben wir die Leber, die kann zunächst den Zucker freisetzen, den sie gespeichert hat, das ist das Glykogen, und dann kann die Leber noch aus Muskel Zucker bilden, und das kann sie auch tun über Wochen."

    Der Blutzuckerspiegel schwankt also im Tagesverlauf und ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich, sodass sich kein genauer Grenzwert für eine Unterzuckerung, angeben lässt.

    Es gibt zwar einige spezielle Erkrankungen, die eine Unterzuckerung auslösen können: ein sogenanntes Insulinom etwa, ein gutartiger Tumor, der ungeregelt Insulin ausschüttet, oder Störungen der "Zucker bildenden" Organe, also der Leber oder Nebennieren. Normalerweise aber ist die Hypoglykämie keine eigenständige Krankheit, sondern ein vorübergehender Mangelzustand, der allerdings sehr unangenehme, zum Teil lebensbedrohliche Folgen für die Gesundheit haben kann:

    "Vor allen Dingen Menschen mit Typ-I-Diabetes können deutlich Unterzuckerung haben, wenn sie zu viel Insulin gespritzt haben oder Sport machen oder Ähnliches, und da gibt es zwei Arten von Reaktionen: entweder man wird unruhig, kriegt Schweißausbruch, Herzklopfen, Heißhunger –, und das andere ist, wenn der deutlich runter geht, eine Art von apathischer Reaktion; und wenn man wirklich tief unterzuckert, also unter etwa 40 Milligramm pro Deziliter geht, dann kriegt man Denkstörungen, dann reden die Leute meistens viel, reden aber Unsinn, ja und dann irgendwann kommt dann auch der Bewusstseinsverlust."

    Manchmal führt eine Unterzuckerung die Betroffenen – und Experten wie Andreas Pfeiffer – sogar vor Gericht!

    "Es kann tatsächlich sein, dass Unterzuckerungen zu Aggressivität führen, es kommt immer wieder zu Prozessen, weil da wirklich groteske Dinge passieren können, wo die Menschen sich wirklich völlig fehlbenehmen und hinterher auch nicht wissen, was sie getan haben. Und das glaubt ihnen dann keiner, man sieht es ja nicht direkt, und dann ist natürlich die Beurteilung dann immer: War's nun wirklich eine Unterzuckerung oder hat er sich schlecht benommen?"
    Verursacht werden kann ein zu niedrigen Blutzuckerspiegel durch viele Faktoren: Vor allem sind eben Diabetiker gefährdet und Menschen, die zu wenig essen, entweder weil sie eine Fastenkur machen oder einfach "nicht dazu kommen", im stressigen Arbeitsalltag etwa. Manchmal ist aber auch genau das Gegenteil der Grund für eine Hypoglykämie:

    "Ungefähr ein Drittel der Menschen hat, wenn er viele Kohlenhydrate zu sich nimmt, so etwa drei Stunden später eine sogenannte reaktive Hypoglykämie, die ist nicht wirklich gefährlich, aber man kriegt dann Heißhunger, das ist einer der Gründe, warum Menschen dann viel essen, und das ist oft der Hunger auf Süßes, weil unser Stoffwechsel da schon recht schlau reguliert ist und uns sozusagen an den Futtertrog treibt über diese Unterzuckerung."

    In diesen Teufelskreis aus "Unterzuckerung durch zu viel Zucker" geraten besonders oft Übergewichtige, die dadurch noch weiter zunehmen, sagt Andreas Pfeiffer, der auch am Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke arbeitet. Und ebenso können die heftigen Kreislaufprobleme nach durchzechter Nacht Anzeichen für zu wenig Zucker im Blut sein.

    "Alkohol ist ein Zuckerabbauprodukt oder Kohlenhydrat, was der Körper verstoffwechseln muss, das kann er nicht speichern, und das führt dazu, dass in der Leber die Zuckerbildung unterdrückt wird. Deshalb kann also Alkohol tatsächlich zu Unterzuckerung führen, vor allem bei etwas umfangreicherem Genuss, aber selbst eine relativ kleine Menge Alkohol, sein Viertel Wein, führt zum Beispiel bei Menschen mit Diabetes zu einem niedrigeren Zucker am nächsten Morgen."
    Man kann – und muss – sich bei Unterzuckerung schnell selbst helfen: Mit einem Glas Fruchtsaft, Cola, mit stark gesüßtem Tee oder Weißbrot. Diabetiker sollten möglichst immer ein Stück Traubenzucker dabei haben. Allerdings gibt es bei ihnen nur ein relativ kleines "Zeitfenster", weil sie durch den chronisch gestörten Zuckerhaushalt die Symptome erst sehr spät spüren. Sie werden häufiger apathisch und handlungsunfähig.

    "Und da gibt es dann Glukagonspritzen, das also zu einer kräftigen Zuckerbildung führt durch das Hormon Glukagon, was man unter die Haut spritzen kann oder in den Muskel, da geht's noch schneller, und da trainiert man dann auch die Angehörigen."

    Zur Vorbeugung gibt es für Diabetiker ein "Wahrnehmungstraining" sowie eine sorgfältige Schulung für den richtigen Umgang mit Kohlenhydraten und Insulin. Aber auch Gesunde können und sollten darauf Acht geben, dass ihr Blutzuckerspiegel nicht allzu oft aus dem Lot gerät. Eine ausgewogene Ernährung ist dafür immer gut, ansonsten kann man sich am "Glykämischen Index" orientieren.

    "Der glykämische Index ist eine Größe, die die Ernährungswissenschaftler eingeführt haben, der beschreibt, wie schnell ein Nahrungsmitteln aus Kohlenhydraten als Zucker im Blut auftaucht. Und Sachen mit niedrigem glykämischen Index tauchen relativ langsam auf, da ist zum Beispiel dann morgens statt einem weißem Brötchen Vollkornbrot besser, alles was gemahlen ist, wird schnell aufgenommen, also auch Graubrot oder auch wenn sie Vollkornbrot nehmen und das komplett vermahlen haben, das wird schnell resorbiert, fast so schnell wie ein weißes Brötchen."

    Ausdauer- und Extremsportler müssen noch etwas mehr tun, um einer Unterzuckerung, dem berühmten "Hungerast", vorzubeugen: Sie sollten schon Tage vorher die Kohlenhydratspeicher im Körper "auffüllen" – bei Marathonläufen gibt es oft sogenannte "Nudelparties" am Vorabend – und sie sollten immer eine Extra-Portion Zucker für den Notfall dabei haben.