Wortberg, Christoph:
Easy, Beltz & Gelberg 2011, 238 Seiten
"Ich hab ins Bett gemacht", sagte sie leise. "Ja", sagte ich. "Ist nicht zu überriechen". (...) Sie fing an zu weinen. "Hör auf zu heulen, Mama." (...) Ich zog ein Laken und einen gemusterten Bettüberzug aus dem Schrank. Der Geruch nach frischem Waschpulver vermischte sich mit dem Uringestank. Es war widerlich. Und peinlich. "
Alex, die Hauptfigur in Christoph Wortbergs Jugendroman "Easy" ist überfordert. Seitdem seine Mutter ihren Job als Reinigungskraft in einer Putzkolonne verloren hat, weil sie nicht mit ihrem Chef schlafen wollte, liegt sie im Bett und steht nicht mehr auf. So kümmert sich der 14-Jährige um sie und um seine zwei kleinen Brüder: Er begleitet sie zu ihrem ersten Schultag in die Grundschule, kocht für sie und lässt sich schließlich selbst krankschreiben, um seine Familie versorgen zu können - nur, damit niemand merkt, was bei ihm zuhause los ist.
Aus finanzieller Not geht er sogar für seine Mutter zum Arbeitsamt. Mithilfe einer jungen Bibliothekarin, die er in der Bücherei kennengelernt hat, schafft er es, einen Job für sie zu ergattern. Doch es ist zwecklos: Seiner Mutter geht es zunehmend schlechter und Alex verstrickt sich mehr und mehr in ein Geflecht aus Lügen. Letzten Endes bittet er den Ex-Freund der Mutter um Hilfe. Denn alleine schafft er es einfach nicht.
Das, was der Autor Christoph Wortberg in seinem Roman "Easy" erzählt, begegnet dem Leser derzeit häufiger in Jugendbüchern: psychisch kranke Eltern. Dabei sind es fast ausschließlich die Mütter, die an Depressionen leiden.
Ute Dettmar, Professorin für Kinder und Jugendliteratur an der Universität Oldenburg:
"Das ist tatsächlich so, wenn man heute Jugendliteratur liest, die tatsächlich auch versucht, heutige Lebenswirklichkeit abzubilden und Szenarien zu entwickeln, die sozialrealistisch sind oder die psychologisch realistisch erzählen über Aufwachsen, über Adoleszenz heute, dass man häufig das Gefühl hat, dass die Eltern sehr viel mit sich zu tun haben, dass es psychische Belastungen gibt in den Familien, bis hin tatsächlich zu psychischen Störungen und Krankheiten, von denen auch erzählt wird."
Die Entwicklung auf dem Jugendbuchmarkt ist also keine Modeerscheinung, sondern ein Spiegel der Realität. Und diese sieht ernüchternd aus: Psychologen, die in diesem Bereich forschen, gehen davon aus, dass in Deutschland rund 4,5 Millionen Menschen psychisch krank sind. Die Dunkelziffer ist jedoch weitaus höher und es werden immer mehr. Bei den meisten Erkrankungen handelt es sich um Depressionen. Auch Angsterkrankungen, das sogenannte Burnout, Schizophrenie oder Persönlichkeitsstörungen sind keine Seltenheit. Viele der Betroffenen haben Kinder. In Deutschland geht man von etwa drei Millionen betroffenen Kindern unter 18 Jahren aus, bei denen ein oder beide Elternteile psychisch krank sind. Die Forschung spricht häufig von den so genannten "vergessenen Kindern", so Silke Wiegand-Grefe. Sie ist Psychoanalytikerin und arbeitet seit Jahren mit betroffenen Kindern und Jugendlichen:
"Die Problematik von Kindern depressiver Eltern ist, dass sie weil die Eltern ihre Elternfunktion nicht so ausüben können, dann selbst Elternfunktionen übernehmen, das nennen wir dann Parentifizierung, wenn es mehrere Kinder sind, sind es meistens die ältesten Kinder, also das bedeutet, dass die Kinder Elternfunktionen übernehmen, für die jüngeren Geschwister sorgen, einkaufen gehen, den Haushalt bewältigen, sich quasi verantwortlich fühlen für das Funktionieren der Familie und für die Mutter."
Die derzeitigen Jugendbücher gehen auf sehr verschiedene Art und Weise mit diesem Thema um. Dabei fällt auf, dass amerikanische oder angelsächsische Autorinnen und Autoren psychische Erkrankungen oft nicht an eine einzige Figur im Roman koppeln, sondern in einen größeren Familienzusammenhang stellen, manchmal wie ein unterschwelliges Geheimnis, dem nicht nur ängstlich, sondern auch humorvoll und optimistisch begegnet werden kann. In der deutschsprachigen Literatur dagegen nimmt die Erkrankung eines Elternteils oftmals das gesamte Denken und Handeln der jungen Helden ein. Hier wird chronologisch erzählt, vom Anfang bis zum Ende der Erkrankung, mit der die zunehmende Überforderung der Hauptfigur einhergeht.
Der Roman "Easy" von Christoph Wortberg, von dem anfangs erzählt worden ist, bedient sich genau dieses Schemas.
Inspiriert wurde der Autor zu seinem Roman keineswegs durch die aktuelle gesellschaftliche Situation. Zwar hat er für das Thema recherchiert und hat sich mit Ärzten und Psychoanalytikern darüber unterhalten. Ausschlaggebend waren für ihn jedoch an Depressionen erkrankte Menschen in seinem Bekanntenkreis und seine eigenen Erfahrungen.
"Ich hab´ ein eigenes Erlebnis gehabt in meiner Jugend, wo die Mutter eines besten Freundes von mir in Holland in einem Ferienaufenthalt durchgedreht ist. Die Frau hat also gedacht, es stehe ein Angriff aus dem Universum bevor und hat nicht mehr gewusst, wer sie ist und wir mussten Cognac mit Ei, mit geschlagenem Eischaum trinken, um irgendwie zu überleben, das war die Fantasie, die diese Frau hatte. Dieses Ereignis hat mich natürlich geprägt, dieses Ereignis hat mich auch verfolgt, das war mir aber eigentlich alles gar nicht klar bis ich dieses Buch geschrieben habe, "Easy"."
Christoph Wortberg reizte die Idee, über einen Jugendlichen zu schreiben, der plötzlich ins kalte Wasser geworfen wird und alles alleine meistern muss - so wie er damals. Die Depression der Mutter ist Ausgangspunkt für die großen Herausforderungen, die sich dem jugendlichen Helden stellen: der Druck vonseiten des Jugendamts, das Misstrauen anderer Eltern, dass in seiner Familie etwas nicht stimmt und die Armut. Christoph Wortberg geht es in seinem Roman nicht darum, Ratgeber für betroffene Jugendliche zu sein. Er glaubt eher, dass Jugendliche ein großes Interesse an diesen Geschichten haben.
"Natürlich gibt es bei Jugendlichen einen Bedarf an solchen Stoffen, so wie es bei Erwachsenen auch einen Bedarf an solchen Stoffen gibt. Literatur will sich auseinandersetzen mit Gesellschaft, mit dem Leben, mit den Bedingungen des Lebens, mit den Bedingungen der eigenen Existenz, und das tun Jugendliche genauso wie Erwachsene."
Smith, Pete:
Arm sind die anderen, Ueberreuter 2011, 159 Seiten
Ähnlich, jedoch noch eine Spur existenzieller als bei "Easy" geht es im Roman des deutschen Autors Pete Smith zu. "Arm sind die anderen", so der Titel für Jugendliche ab 14. Hier begegnet dem Leser der 15-jährige Sly, der mit seiner depressiven Mutter, seinen drei jüngeren Geschwistern und seinem an Alzheimer erkrankten Opa in einem sozialen Brennpunkt lebt. Ausflüge ins Frankfurter Rotlichtmilieu gehören zu Slys Alltag und er kann sich inmitten dieser Perspektiv- und Haltlosigkeit durchaus vorstellen, einst als Pornostar zu arbeiten. Doch alles kommt anders, als Slys Mutter eines Tages verschwunden ist. Ihre Abschiedsworte hat sie mit Lippenstift an den Badezimmerspiegel geschrieben: "Ich kann nicht mehr", liest Sly und plötzlich hängt alles an ihm.
Mir war, als stürzte ich durch einen Spiegel in eine Welt ohne Grund. (...) Die dunklen Tage, vielleicht hatten sie Mama ja schon viel länger im Griff. Wann hatte sie das letzte Mal mit einem von uns gelacht? (...) Tatsächlich hatte sich Mama in den letzten Jahren verändert. Früher hieß es: "Bloß nicht lockerlassen!" Später nur noch "Wozu weiterstrampeln?
Sly versucht von nun an die Kontrolle zu bewahren und gerät zunehmend unter Druck, denn er hat Angst, dass er und seine Geschwister ins Heim müssen, wenn auffliegt, was bei ihm zuhause los ist. Er versucht seine Mutter zu verstehen. Warum ist sie fortgegangen? Hat es mit ihren vielen Männerbeziehungen zu tun?
Die meisten Typen verschwinden, sobald sie sie rumgekriegt haben. Schlimmer sind die, die bleiben. Loser, die die Beine hochlegen (...), Hilfsjobber, die sich aufspielen wie Dagobert Duck. Wegen einiger dieser Wichser mussten wir sogar umziehen. Doch egal wo wir sind, der letzte Akt ist immer derselbe: Mama heult, Enja kotzt, Inno gräbt sich ein - und ich spiele die Supernanny. Die meisten schleichen sich ohne Abschied davon. Falls sie etwas zurücklassen, dann bloß ein weiteres Baby.
Slys Privatleben muss zurückstecken. Für die erste Liebe ist hier kein Platz. Stattdessen ist er rund um die Uhr damit beschäftigt, sich um seine Familie zu kümmern und seine Mutter zu suchen. Als Sly seine Familie ein einziges Mal aus den Augen lässt, weil er mit einer Krankenschwester schläft, sind die Folgen fatal: Sein Opa läuft währenddessen davon, bei der Suche nach ihm und seiner Mutter gerät Sly in eine Schlägerei und landet im Gefängnis. Doch die Mutter ist plötzlich wieder da. Und das ist für Sly letztendlich am wichtigsten. "Arm sind die anderen" zeigt ohne Umschweife, welche Folgen es haben kann, wenn Kinder und Jugendliche versuchen, ohne professionelle Hilfe die familiäre Situation zu retten.
Stehle, Katrin:
Das Gegenteil von fröhlich, Gabriel Verlag 2011, 240 Seiten
Dass Kinder und Jugendliche die elterliche psychische Erkrankung verheimlichen, ist keine Frage des gesellschaftlichen Milieus. Das zeigt der Roman mit dem Titel "Das Gegenteil von fröhlich" für Jugendliche ab 13. Geschrieben hat ihn die Autorin Katrin Stehle.
"Ich wollte die Geschichte in einer relativ normalen Familie spielen lassen, also nichts, was sich so weit weg anfühlt. Also ich denke, relativ viele Jugendliche, die lesen, kommen ja eigentlich aus "normalen", aus Familien, wo jetzt nicht in so krassen sozialen Verhältnissen leben und irgendwie fand ich das spannend, dass das auch da passieren kann, dass was Krasses passiert."
So ist "Das Gegenteil von fröhlich" in der gebildeten Mittelschicht angesiedelt, wo der Besuch einer Privatschule und Bio-Kost zum Alltag gehören. Trotz dieser unterschiedlichen Grundvoraussetzungen wird die Geschichte nach einem ähnlich realistischen Muster wie "Easy" und "Arm sind die anderen" erzählt: Eine depressive Mutter, ein abwesender Vater. Und mittendrin wieder das älteste Kind der Familie, die 15-jährige Nellie, die in der Ich-Form erzählt.
Auch hier geraten die eigentlichen Jugendthemen wie Liebe, Partys oder erster Sex in den Hintergrund. Stattdessen ist Nellie von morgens bis abends damit beschäftigt, die Krankheit der Mutter zu verheimlichen und ihre Geschwister zu versorgen. Ihr ist das alles peinlich, sie schämt sich und hat immer mehr Angst. Die einzige Person, die ihr hätte helfen können, ist die Freundin ihrer Mutter. Doch die ist in einem spirituellen Camp in Indien. Nellies Vater ist in Holland und ruft zwar täglich von dort aus bei seiner Familie in Berlin an, doch er ist viel zu sehr mit sich selbst als Universitätsdozent und seiner Geliebten beschäftigt, um Nellies Not zu begreifen:
"Hi, Große!" "(...) Ich bin froh, dass Du es bist. Mama liegt immer noch im Bett. Ihr geht es echt nicht gut. Papa, ich schaffe das alles nicht!" "Dreimal tief durchatmen. (...) Ich habe heute Morgen mit ihr telefoniert. Sie hat etwas schwach geklungen, schien aber ganz zuversichtlich, dass es schon wieder wird. So was weiß man selbst am besten, glaub mir.
Nellies Vater vertritt die Meinung, dass mit Vernunft und Disziplin das Leben zu meistern ist. Doch Nellie begreift, dass sie damit hier nicht weiterkommt. Aus Scham zieht sie sich vor ihren Freundinnen zurück, beginnt zu lügen und vertraut sich nur einem fremden Jungen im Park an. Sie nennt ihn den Spinner, denn er klettert auf Bäume, stellt ihr Rätsel, hört ihr zu. Vor allem aber scheint er sich mit dem seltsamen Verhalten ihrer Mutter bestens auszukennen, vermutlich aus eigener Erfahrung. Er hat keine Berührungsängste mit Nellies Familie, schaut nicht peinlich berührt weg und sorgt letztendlich dafür, dass Nellie und ihre Geschwister von einer Sozialarbeiterin Hilfe bekommen. Die Mutter kommt in die Psychiatrie und die Familie bleibt ein wenig hilflos zurück.
Katrin Stehles Roman ist durchdrungen von psychologischem Wissen und zugleich von eigenen Erfahrungen. Sie selbst kennt Anflüge von Depressionen und die Idee für ihre Figuren hat sie aus ihrem unmittelbaren Umfeld geschöpft. Doch schon früher, in ihrer eigenen Jugend, haben sie psychische Erkrankungen gereizt.
"Für mich war das relativ lang so als Jugendliche, das ich das sehr unheimlich fand, psychische Erkrankungen, und gleichzeitig sehr spannend, weil ich nicht fassen konnte, was das eigentlich ist und - ja, ich find´s heute immer noch sehr spannend einfach."
Dazu die Literaturwissenschaftlerin Ute Dettmar:
"Also, ich denk, die Literatur ist attraktiv, weil sie ganz existenzielle Themen anspricht, Grundthemen anspricht, weil sie über Verlustängste erzählt, über Sorgen, über Lebensängste, über Krisen und die Fiktion ein Raum ist, in dem man das ausleben kann, relativ geschützt noch, gerade wenn man nicht betroffen ist, sich sehr gut vorstellen kann, von nicht jetzt diesen spezifischen Problemen, aber von den Problemen, die damit angesprochen sind."
Haugen, Tormod:
Die Nachtvögel, Verlag Benzinger 1978, 144 Seiten
Faszination, Schrecken, Spannung. Psychisch kranke Eltern in Jugendbüchern scheinen genau das zu versprechen.
Das Thema ist zwar gesellschaftlich brandaktuell, jedoch insgesamt nicht neu. Die Ursprünge finden sich in der Kinderliteratur der 1980er Jahre. Als Schlüsseltext gilt das Kinderbuch mit dem Titel "Die Nachtvögel" des norwegischen Autors Tormod Haugen. 1975 ist das Buch in Norwegen erschienen, 1978 auch in der deutschen Übersetzung, ein Jahr später wurde es sogar mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte Kinderbuch ausgezeichnet. Stringent wird hier die Geschichte des achtjährigen Joachims erzählt. Er leidet an Ängsten und Albträumen, doch im Laufe der Erzählung wird deutlich, dass dies viel mit seinem familiären Umfeld zu tun hat, vor allem mit seinem Vater.
Papa wurde krankgeschrieben. Seine Nerven machten nicht mehr mit. Fritz, der Doktor, den Mama und Papa kannten, sagte, dass Papa eine Zeit lang daheimbleiben und die Ruhe bewahren sollte. (...) Aber Papas Nerven wurden nicht besser. Wenn es ihm schlecht ging, verschwand er einfach und blieb bis spät in die Nacht fort, Joachim ballte die Fäuste und biss die Zähne zusammen. Am liebsten hätte er losgeheult, wenn er an die Nerven seines Papas dachte. Sie hatten ihn so verändert. Er war ganz anders als früher.
In der Kinderliteratur zählt Tormod Haugens Roman "Die Nachtvögel" zum Genre des psychologischen Kinderromans. Doch wie verhält es sich in der Jugendliteratur? Die Autorin Katrin Stehle:
"Ich glaube, im Moment gibt´s so eine Art Trend, wo´s viel darum geht, also was passiert in der Familie, es geht viel so um Beziehungen untereinander und da werden solche nahen Themen irgendwie glaub ich automatisch wieder größer. Dass es also viel darum geht, also ja, wie kann ich in meinem kleinen Leben glücklich werden. Ich hab das Gefühl, also als ich jetzt jung war, jugendlich war, da waren viele große Themen also von außen interessant, also irgendwie so Demos und so. Es war nicht so interessant, eine Familie zu gründen, zum Beispiel."
Ute Dettmar von der Universität Oldenburg bestätigt diesen Eindruck: Die Familie gewinnt in vielen Jugendbüchern wieder an Bedeutung. Nicht mehr die Adoleszenz, die Ablösung von den Eltern oder eine eigene Jugendkultur steht hier im Vordergrund, sondern die Familie. Für die Jugendliteratur bedeutet das derzeit eine literarische Neuorientierung.
"Die Eltern sind ja viel zu schwach, die werden ja von den Kindern geschützt, und das als Thema, würde ich sagen, also das sind dann nicht mehr die Adoleszenzromane, in denen das eine Rolle spielt, sondern das sind tatsächlich Familienromane, und deswegen werden die auch von nem übergreifenden Publikum gelesen, das sind ja alles Texte, die man heute unter dieses Etikett "All Age" einordnen könnte. Also, die Zielgruppe Jugendliche wird hier aufgebrochen, das sind alles Texte, die man als Erwachsener lesen kann und die Jugendliche lesen."
Carmichael, Clay:
Zoe, Hanser Verlag 2011, 256 Seiten
Schaut man auf die aktuelle amerikanische und angelsächsische Jugendliteratur, in der psychisch kranke Eltern eine Rolle spielen, so kann man - anders als bei den deutschsprachigen Büchern - durchaus von All-Age-Familienromanen sprechen.
Ein gutes Beispiel ist der Roman "Zoe" der US-amerikanischen Autorin Clay Carmichael. Wie in den anderen vorgestellten Romanen gibt es auch hier keinen Vater und wieder einmal spielt die Depression der Mutter eine entscheidende Rolle. Anders ist jedoch: Die psychisch kranke Mutter der 11-jährigen Zoe gehört der Vergangenheit an. Denn Zoes Mutter ist tot. Sie hat sich in der Psychiatrie das Leben genommen. Das erfährt der Leser in Rückblenden, genauso wie Details über die Erkrankung der Mutter.
Wenn sie nicht im Krankenhaus war oder bei einem ihrer mies bezahlten Jobs, dann blieb sie den ganzen Tag über im Schlafzimmer, hinter verschlossener Tür und heruntergelassenen Jalousien. Manchmal vergaß ich völlig, dass sie überhaupt da war, ehrlich.
Zoe lebt nach dem Tod der Mutter bei ihrem Onkel Henry, in einem abgelegen Haus am Waldrand im US-Bundesstaat Georgia. Henry ist ein cholerischer Freak mit Muskelshirt, Ohrring und Kopftuch. Seinen Job als Herzchirurg hat er aufgegeben, um sich voll und ganz der Kunst zu widmen. Nach und nach bauen Zoe und Henry eine Beziehung zueinander auf und Zoe stellt fest, dass sie mit ihrer Erfahrung als Tochter einer psychisch kranken Mutter nicht allein ist:
Henry wies auf ein anderes Bild, auf dem eine zerbrechliche, hilflos wirkende Frau zu sehen war. (...) "Und wer ist das?", fragte ich. "Meine Mutter." "Wie war sie?" "Wie Deine Mutter, wenn auch auf ihre eigene Weise." Ich überlegte mir gut, was ich sagte. "Krank im Kopf?" "Ja." "Und wie war sie sonst?" Er dachte eine Weile nach. "Im Grunde habe ich nicht die geringste Ahnung, wie sie war, hinter so viel Krankheit.
Der neu eröffnete Zugang zu Kunst und Literatur, vor allem aber die Erfahrung, dass sich ihr Onkel und neue Freunde für sie einsetzen, wenn es hart auf hart kommt, helfen Zoe dabei, ihr Misstrauen abzustreifen, das sie nach Jahren des Allein- und Verlassenseins wie einen Schutzanzug trägt.
Ich wusste, er würde nicht immer auf meiner Seite stehen - manchmal hatte ich schon verrückte Einfälle. (...) Trotzdem fühlte es sich seltsam an, Henry zu vertrauen, wie ein Schwäche, etwas Riskantes, so, als würde ich eine Tür offen stehen lassen, die ich sonst immer verschlossen hielt.
Dem Roman "Zoe" gelingt es, die psychische Erkrankung der Mutter exemplarisch zu nutzen. Das, was die Hautfigur hinter sich hat, begegnet dem Leser hier in vielfältigen Variationen: In der Figur des Onkels, aber auch in Form weiterer Figuren, die in ihrer Kindheit vernachlässigt worden sind. Da ist beispielsweise ein wilder Junge im Wald, der dort seit Jahren mit seinem Vater lebt, der sich kaum um ihn kümmert. Der Roman besticht durch seine Intelligenz und seine hohe literarische Qualität. Denn die Autorin weitet den Blick auf ihre Figuren, indem sie darstellt, dass die Erfahrung des Verlassenseins bis ins hohe Alter prägt.
Und noch etwas tut sie: Sie zeigt, dass Traumata überwunden werden können, nicht nur durch Zuwendung, sondern auch durch die Kunst. So findet Zoes Onkel beim Anfertigen seiner Skulpturen ein Ventil für sein Leiden. Das ist übrigens kein seltenes Phänomen: Menschen, die unter der psychischen Erkrankung ihrer Eltern gelitten oder andere Traumata erfahren haben, wenden sich der Kunst zu, so die Psychoanalytikerin Silke Wiegand-Grefe:
Es gibt eine große Fähigkeit letztlich dann ja auch, mit diesen Erfahrungen, die quasi gewissermaßen nicht gegen sich zu wenden, gegen sich selbst und selbst depressiv zu werden, sondern mit den Erfahrungen in irgendeiner Weise nach außen zu gehen und eben die Kunst zum Beispiel ist da allein durch die Nichtsprachlichkeit beispielsweise sehr geeignet.
Kuipers, Alice:
Vor meinen Augen, FJB 2011, 220 Seiten
Die Kunst als Mittel gegen die Depression. Darum geht es unter anderem in dem Roman mit dem Titel "Vor meinen Augen" der britischen Autorin Alice Kuipers. Es ist eine Geschichte in Tagebuchform, geschrieben von der 15-jährige Sophie. Bei einem Bombenanschlag in der Londoner U-Bahn ist ihre drei Jahre ältere Schwester ums Leben gekommen. Sophie war dabei, doch sie spricht mit niemandem darüber. Auch dem Leser wird das erst nach und nach deutlich. Doch dass Sophie traumatisiert ist, weiß er bald.
Wir waren im Flur vor den Klassenzimmern. Die Menge an Leuten brachte mich zum Schwitzen. Wenn noch mehr Leute in den Flur strömten, dann konnte leicht eine Massenpanik ausbrechen wie bei überfüllten Konzerthallen, man las ja darüber. Ein Schweißtropfen rollte ganz langsam unter meinem T-Shirt hinab.
Sophie merkt selbst nicht, dass sie Hilfe benötigt. Zwar hat sie zunehmend den Eindruck, dass mit ihr etwas nicht stimmt, doch das sagt sie nicht einmal ihren besten Freundinnen, geschweige denn ihrer Therapeutin, zu der sie einmal pro Woche muss und die sie nicht mag. Nur einer neuen Mitschülerin vertraut sie sich an. Diese schreibt Gedichte, mit denen sie den Verlust ihrer Mutter verarbeitet. Sophie ist sich sicher, dass ihre eigene Mutter verrückt ist. Warum sonst schließt sie sich in ihrem Zimmer ein, lacht nicht und sammelt Dinge, die anderen Menschen verloren haben? Sie versteht nicht, dass ihre Mutter trauert. Sie glaubt, dass sie sie nicht mehr liebt. Doch anstatt ihr das zu sagen, zieht sich Sophie mehr und mehr zurück und bemüht sich um äußere Normalität. Doch der Leser merkt, dass sie durch ihr Schweigen zunehmend depressiv wird. Erst als Sophies Mutter wieder Boden gewinnt, können die beiden zueinanderfinden und gemeinsam trauern. Und Sophie findet für ihr Trauma nicht nur die Lyrik als Ausdrucksform, sondern auch eine Therapeutin, der sie vertraut.
Und dann begann ich, über den Bombenanschlag zu reden und wie es an diesem Tag war. Allein darüber zu reden, versetzte mich in Panik, aber Koreen hörte zu und wartete, während ich mit meinen Gefühlen kämpfte. Mir wurde klar, dass es okay ist, wenn ich eine ganze Weile brauche, um mich von dem zu erholen, was passiert ist. Es ist normal.
"Vor meinen Augen" ist ein zu Tränen rührendes und zugleich Mut machendes Buch. Der Autorin Alice Kuipers gelingt es, die Hauptfigur immer tiefer in eine Depression rutschen zu lassen ohne, dass sie es selbst realisiert. Stattdessen erlebt sie ihr Umfeld als zunehmend verrückt oder nimmt es kaum noch wahr. Ihr Roman ist eine literarische Leistung und zugleich ein Appell, dem Schmerz über den Verlust eines Menschen eine Stimme zu geben.
Ob als Hintergrundkulisse, generationenübergreifendes Thema oder hauptsächlicher jugendlicher Lebensinhalt: Psychisch kranke Eltern tauchen inzwischen in vielen Varianten in der Jugendliteratur auf. Sie sind eine Herausforderung für die jungen, willensstarken Heldinnen und Helden. Ob tragisch, skurril oder nachdenklich stimmend: Die Romane sind meist durchdrungen vom Wissen der Autorinnen und Autoren. So blickt der Leser hinter die Fassaden und betritt gesellschaftliche Tabuzonen. Dabei kommt die Unterhaltung keineswegs zu kurz - und die gelingt oft auf höchstem Niveau.
Literaturliste
Carmichael, Clay:
Zoe, Hanser Verlag 2011, 256 Seiten
Haugen, Tormod:
Die Nachtvögel, Verlag Benzinger 1978, 144 Seiten
Kuipers, Alice:
Vor meinen Augen, FJB 2011, 220 Seiten
Schlieper, Birgit:
Abgemeldet, Sauerländer 2011
Smith, Pete:
Arm sind die anderen, Ueberreuter 2011, 159 Seiten
Stehle, Katrin:
Das Gegenteil von fröhlich, Gabriel Verlag 2011, 240 Seiten
Wiegand-Grefe, Silke, Mattejat, Fritz, Lenz, Albert:
Kinder mit psychisch kranken Eltern, Vandenhock & Ruprecht 2010, 496 Seiten
Wiegand-Grefe, Silke/ Halverscheid, Susanne/ Plass, Angela:
Kinder und ihre psychisch kranken Eltern, Verlag Hogrefe 2011, 162 Seiten
Wortberg, Christoph:
Easy, Beltz & Gelberg 2011, 238 Seiten
Easy, Beltz & Gelberg 2011, 238 Seiten
"Ich hab ins Bett gemacht", sagte sie leise. "Ja", sagte ich. "Ist nicht zu überriechen". (...) Sie fing an zu weinen. "Hör auf zu heulen, Mama." (...) Ich zog ein Laken und einen gemusterten Bettüberzug aus dem Schrank. Der Geruch nach frischem Waschpulver vermischte sich mit dem Uringestank. Es war widerlich. Und peinlich. "
Alex, die Hauptfigur in Christoph Wortbergs Jugendroman "Easy" ist überfordert. Seitdem seine Mutter ihren Job als Reinigungskraft in einer Putzkolonne verloren hat, weil sie nicht mit ihrem Chef schlafen wollte, liegt sie im Bett und steht nicht mehr auf. So kümmert sich der 14-Jährige um sie und um seine zwei kleinen Brüder: Er begleitet sie zu ihrem ersten Schultag in die Grundschule, kocht für sie und lässt sich schließlich selbst krankschreiben, um seine Familie versorgen zu können - nur, damit niemand merkt, was bei ihm zuhause los ist.
Aus finanzieller Not geht er sogar für seine Mutter zum Arbeitsamt. Mithilfe einer jungen Bibliothekarin, die er in der Bücherei kennengelernt hat, schafft er es, einen Job für sie zu ergattern. Doch es ist zwecklos: Seiner Mutter geht es zunehmend schlechter und Alex verstrickt sich mehr und mehr in ein Geflecht aus Lügen. Letzten Endes bittet er den Ex-Freund der Mutter um Hilfe. Denn alleine schafft er es einfach nicht.
Das, was der Autor Christoph Wortberg in seinem Roman "Easy" erzählt, begegnet dem Leser derzeit häufiger in Jugendbüchern: psychisch kranke Eltern. Dabei sind es fast ausschließlich die Mütter, die an Depressionen leiden.
Ute Dettmar, Professorin für Kinder und Jugendliteratur an der Universität Oldenburg:
"Das ist tatsächlich so, wenn man heute Jugendliteratur liest, die tatsächlich auch versucht, heutige Lebenswirklichkeit abzubilden und Szenarien zu entwickeln, die sozialrealistisch sind oder die psychologisch realistisch erzählen über Aufwachsen, über Adoleszenz heute, dass man häufig das Gefühl hat, dass die Eltern sehr viel mit sich zu tun haben, dass es psychische Belastungen gibt in den Familien, bis hin tatsächlich zu psychischen Störungen und Krankheiten, von denen auch erzählt wird."
Die Entwicklung auf dem Jugendbuchmarkt ist also keine Modeerscheinung, sondern ein Spiegel der Realität. Und diese sieht ernüchternd aus: Psychologen, die in diesem Bereich forschen, gehen davon aus, dass in Deutschland rund 4,5 Millionen Menschen psychisch krank sind. Die Dunkelziffer ist jedoch weitaus höher und es werden immer mehr. Bei den meisten Erkrankungen handelt es sich um Depressionen. Auch Angsterkrankungen, das sogenannte Burnout, Schizophrenie oder Persönlichkeitsstörungen sind keine Seltenheit. Viele der Betroffenen haben Kinder. In Deutschland geht man von etwa drei Millionen betroffenen Kindern unter 18 Jahren aus, bei denen ein oder beide Elternteile psychisch krank sind. Die Forschung spricht häufig von den so genannten "vergessenen Kindern", so Silke Wiegand-Grefe. Sie ist Psychoanalytikerin und arbeitet seit Jahren mit betroffenen Kindern und Jugendlichen:
"Die Problematik von Kindern depressiver Eltern ist, dass sie weil die Eltern ihre Elternfunktion nicht so ausüben können, dann selbst Elternfunktionen übernehmen, das nennen wir dann Parentifizierung, wenn es mehrere Kinder sind, sind es meistens die ältesten Kinder, also das bedeutet, dass die Kinder Elternfunktionen übernehmen, für die jüngeren Geschwister sorgen, einkaufen gehen, den Haushalt bewältigen, sich quasi verantwortlich fühlen für das Funktionieren der Familie und für die Mutter."
Die derzeitigen Jugendbücher gehen auf sehr verschiedene Art und Weise mit diesem Thema um. Dabei fällt auf, dass amerikanische oder angelsächsische Autorinnen und Autoren psychische Erkrankungen oft nicht an eine einzige Figur im Roman koppeln, sondern in einen größeren Familienzusammenhang stellen, manchmal wie ein unterschwelliges Geheimnis, dem nicht nur ängstlich, sondern auch humorvoll und optimistisch begegnet werden kann. In der deutschsprachigen Literatur dagegen nimmt die Erkrankung eines Elternteils oftmals das gesamte Denken und Handeln der jungen Helden ein. Hier wird chronologisch erzählt, vom Anfang bis zum Ende der Erkrankung, mit der die zunehmende Überforderung der Hauptfigur einhergeht.
Der Roman "Easy" von Christoph Wortberg, von dem anfangs erzählt worden ist, bedient sich genau dieses Schemas.
Inspiriert wurde der Autor zu seinem Roman keineswegs durch die aktuelle gesellschaftliche Situation. Zwar hat er für das Thema recherchiert und hat sich mit Ärzten und Psychoanalytikern darüber unterhalten. Ausschlaggebend waren für ihn jedoch an Depressionen erkrankte Menschen in seinem Bekanntenkreis und seine eigenen Erfahrungen.
"Ich hab´ ein eigenes Erlebnis gehabt in meiner Jugend, wo die Mutter eines besten Freundes von mir in Holland in einem Ferienaufenthalt durchgedreht ist. Die Frau hat also gedacht, es stehe ein Angriff aus dem Universum bevor und hat nicht mehr gewusst, wer sie ist und wir mussten Cognac mit Ei, mit geschlagenem Eischaum trinken, um irgendwie zu überleben, das war die Fantasie, die diese Frau hatte. Dieses Ereignis hat mich natürlich geprägt, dieses Ereignis hat mich auch verfolgt, das war mir aber eigentlich alles gar nicht klar bis ich dieses Buch geschrieben habe, "Easy"."
Christoph Wortberg reizte die Idee, über einen Jugendlichen zu schreiben, der plötzlich ins kalte Wasser geworfen wird und alles alleine meistern muss - so wie er damals. Die Depression der Mutter ist Ausgangspunkt für die großen Herausforderungen, die sich dem jugendlichen Helden stellen: der Druck vonseiten des Jugendamts, das Misstrauen anderer Eltern, dass in seiner Familie etwas nicht stimmt und die Armut. Christoph Wortberg geht es in seinem Roman nicht darum, Ratgeber für betroffene Jugendliche zu sein. Er glaubt eher, dass Jugendliche ein großes Interesse an diesen Geschichten haben.
"Natürlich gibt es bei Jugendlichen einen Bedarf an solchen Stoffen, so wie es bei Erwachsenen auch einen Bedarf an solchen Stoffen gibt. Literatur will sich auseinandersetzen mit Gesellschaft, mit dem Leben, mit den Bedingungen des Lebens, mit den Bedingungen der eigenen Existenz, und das tun Jugendliche genauso wie Erwachsene."
Smith, Pete:
Arm sind die anderen, Ueberreuter 2011, 159 Seiten
Ähnlich, jedoch noch eine Spur existenzieller als bei "Easy" geht es im Roman des deutschen Autors Pete Smith zu. "Arm sind die anderen", so der Titel für Jugendliche ab 14. Hier begegnet dem Leser der 15-jährige Sly, der mit seiner depressiven Mutter, seinen drei jüngeren Geschwistern und seinem an Alzheimer erkrankten Opa in einem sozialen Brennpunkt lebt. Ausflüge ins Frankfurter Rotlichtmilieu gehören zu Slys Alltag und er kann sich inmitten dieser Perspektiv- und Haltlosigkeit durchaus vorstellen, einst als Pornostar zu arbeiten. Doch alles kommt anders, als Slys Mutter eines Tages verschwunden ist. Ihre Abschiedsworte hat sie mit Lippenstift an den Badezimmerspiegel geschrieben: "Ich kann nicht mehr", liest Sly und plötzlich hängt alles an ihm.
Mir war, als stürzte ich durch einen Spiegel in eine Welt ohne Grund. (...) Die dunklen Tage, vielleicht hatten sie Mama ja schon viel länger im Griff. Wann hatte sie das letzte Mal mit einem von uns gelacht? (...) Tatsächlich hatte sich Mama in den letzten Jahren verändert. Früher hieß es: "Bloß nicht lockerlassen!" Später nur noch "Wozu weiterstrampeln?
Sly versucht von nun an die Kontrolle zu bewahren und gerät zunehmend unter Druck, denn er hat Angst, dass er und seine Geschwister ins Heim müssen, wenn auffliegt, was bei ihm zuhause los ist. Er versucht seine Mutter zu verstehen. Warum ist sie fortgegangen? Hat es mit ihren vielen Männerbeziehungen zu tun?
Die meisten Typen verschwinden, sobald sie sie rumgekriegt haben. Schlimmer sind die, die bleiben. Loser, die die Beine hochlegen (...), Hilfsjobber, die sich aufspielen wie Dagobert Duck. Wegen einiger dieser Wichser mussten wir sogar umziehen. Doch egal wo wir sind, der letzte Akt ist immer derselbe: Mama heult, Enja kotzt, Inno gräbt sich ein - und ich spiele die Supernanny. Die meisten schleichen sich ohne Abschied davon. Falls sie etwas zurücklassen, dann bloß ein weiteres Baby.
Slys Privatleben muss zurückstecken. Für die erste Liebe ist hier kein Platz. Stattdessen ist er rund um die Uhr damit beschäftigt, sich um seine Familie zu kümmern und seine Mutter zu suchen. Als Sly seine Familie ein einziges Mal aus den Augen lässt, weil er mit einer Krankenschwester schläft, sind die Folgen fatal: Sein Opa läuft währenddessen davon, bei der Suche nach ihm und seiner Mutter gerät Sly in eine Schlägerei und landet im Gefängnis. Doch die Mutter ist plötzlich wieder da. Und das ist für Sly letztendlich am wichtigsten. "Arm sind die anderen" zeigt ohne Umschweife, welche Folgen es haben kann, wenn Kinder und Jugendliche versuchen, ohne professionelle Hilfe die familiäre Situation zu retten.
Stehle, Katrin:
Das Gegenteil von fröhlich, Gabriel Verlag 2011, 240 Seiten
Dass Kinder und Jugendliche die elterliche psychische Erkrankung verheimlichen, ist keine Frage des gesellschaftlichen Milieus. Das zeigt der Roman mit dem Titel "Das Gegenteil von fröhlich" für Jugendliche ab 13. Geschrieben hat ihn die Autorin Katrin Stehle.
"Ich wollte die Geschichte in einer relativ normalen Familie spielen lassen, also nichts, was sich so weit weg anfühlt. Also ich denke, relativ viele Jugendliche, die lesen, kommen ja eigentlich aus "normalen", aus Familien, wo jetzt nicht in so krassen sozialen Verhältnissen leben und irgendwie fand ich das spannend, dass das auch da passieren kann, dass was Krasses passiert."
So ist "Das Gegenteil von fröhlich" in der gebildeten Mittelschicht angesiedelt, wo der Besuch einer Privatschule und Bio-Kost zum Alltag gehören. Trotz dieser unterschiedlichen Grundvoraussetzungen wird die Geschichte nach einem ähnlich realistischen Muster wie "Easy" und "Arm sind die anderen" erzählt: Eine depressive Mutter, ein abwesender Vater. Und mittendrin wieder das älteste Kind der Familie, die 15-jährige Nellie, die in der Ich-Form erzählt.
Auch hier geraten die eigentlichen Jugendthemen wie Liebe, Partys oder erster Sex in den Hintergrund. Stattdessen ist Nellie von morgens bis abends damit beschäftigt, die Krankheit der Mutter zu verheimlichen und ihre Geschwister zu versorgen. Ihr ist das alles peinlich, sie schämt sich und hat immer mehr Angst. Die einzige Person, die ihr hätte helfen können, ist die Freundin ihrer Mutter. Doch die ist in einem spirituellen Camp in Indien. Nellies Vater ist in Holland und ruft zwar täglich von dort aus bei seiner Familie in Berlin an, doch er ist viel zu sehr mit sich selbst als Universitätsdozent und seiner Geliebten beschäftigt, um Nellies Not zu begreifen:
"Hi, Große!" "(...) Ich bin froh, dass Du es bist. Mama liegt immer noch im Bett. Ihr geht es echt nicht gut. Papa, ich schaffe das alles nicht!" "Dreimal tief durchatmen. (...) Ich habe heute Morgen mit ihr telefoniert. Sie hat etwas schwach geklungen, schien aber ganz zuversichtlich, dass es schon wieder wird. So was weiß man selbst am besten, glaub mir.
Nellies Vater vertritt die Meinung, dass mit Vernunft und Disziplin das Leben zu meistern ist. Doch Nellie begreift, dass sie damit hier nicht weiterkommt. Aus Scham zieht sie sich vor ihren Freundinnen zurück, beginnt zu lügen und vertraut sich nur einem fremden Jungen im Park an. Sie nennt ihn den Spinner, denn er klettert auf Bäume, stellt ihr Rätsel, hört ihr zu. Vor allem aber scheint er sich mit dem seltsamen Verhalten ihrer Mutter bestens auszukennen, vermutlich aus eigener Erfahrung. Er hat keine Berührungsängste mit Nellies Familie, schaut nicht peinlich berührt weg und sorgt letztendlich dafür, dass Nellie und ihre Geschwister von einer Sozialarbeiterin Hilfe bekommen. Die Mutter kommt in die Psychiatrie und die Familie bleibt ein wenig hilflos zurück.
Katrin Stehles Roman ist durchdrungen von psychologischem Wissen und zugleich von eigenen Erfahrungen. Sie selbst kennt Anflüge von Depressionen und die Idee für ihre Figuren hat sie aus ihrem unmittelbaren Umfeld geschöpft. Doch schon früher, in ihrer eigenen Jugend, haben sie psychische Erkrankungen gereizt.
"Für mich war das relativ lang so als Jugendliche, das ich das sehr unheimlich fand, psychische Erkrankungen, und gleichzeitig sehr spannend, weil ich nicht fassen konnte, was das eigentlich ist und - ja, ich find´s heute immer noch sehr spannend einfach."
Dazu die Literaturwissenschaftlerin Ute Dettmar:
"Also, ich denk, die Literatur ist attraktiv, weil sie ganz existenzielle Themen anspricht, Grundthemen anspricht, weil sie über Verlustängste erzählt, über Sorgen, über Lebensängste, über Krisen und die Fiktion ein Raum ist, in dem man das ausleben kann, relativ geschützt noch, gerade wenn man nicht betroffen ist, sich sehr gut vorstellen kann, von nicht jetzt diesen spezifischen Problemen, aber von den Problemen, die damit angesprochen sind."
Haugen, Tormod:
Die Nachtvögel, Verlag Benzinger 1978, 144 Seiten
Faszination, Schrecken, Spannung. Psychisch kranke Eltern in Jugendbüchern scheinen genau das zu versprechen.
Das Thema ist zwar gesellschaftlich brandaktuell, jedoch insgesamt nicht neu. Die Ursprünge finden sich in der Kinderliteratur der 1980er Jahre. Als Schlüsseltext gilt das Kinderbuch mit dem Titel "Die Nachtvögel" des norwegischen Autors Tormod Haugen. 1975 ist das Buch in Norwegen erschienen, 1978 auch in der deutschen Übersetzung, ein Jahr später wurde es sogar mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte Kinderbuch ausgezeichnet. Stringent wird hier die Geschichte des achtjährigen Joachims erzählt. Er leidet an Ängsten und Albträumen, doch im Laufe der Erzählung wird deutlich, dass dies viel mit seinem familiären Umfeld zu tun hat, vor allem mit seinem Vater.
Papa wurde krankgeschrieben. Seine Nerven machten nicht mehr mit. Fritz, der Doktor, den Mama und Papa kannten, sagte, dass Papa eine Zeit lang daheimbleiben und die Ruhe bewahren sollte. (...) Aber Papas Nerven wurden nicht besser. Wenn es ihm schlecht ging, verschwand er einfach und blieb bis spät in die Nacht fort, Joachim ballte die Fäuste und biss die Zähne zusammen. Am liebsten hätte er losgeheult, wenn er an die Nerven seines Papas dachte. Sie hatten ihn so verändert. Er war ganz anders als früher.
In der Kinderliteratur zählt Tormod Haugens Roman "Die Nachtvögel" zum Genre des psychologischen Kinderromans. Doch wie verhält es sich in der Jugendliteratur? Die Autorin Katrin Stehle:
"Ich glaube, im Moment gibt´s so eine Art Trend, wo´s viel darum geht, also was passiert in der Familie, es geht viel so um Beziehungen untereinander und da werden solche nahen Themen irgendwie glaub ich automatisch wieder größer. Dass es also viel darum geht, also ja, wie kann ich in meinem kleinen Leben glücklich werden. Ich hab das Gefühl, also als ich jetzt jung war, jugendlich war, da waren viele große Themen also von außen interessant, also irgendwie so Demos und so. Es war nicht so interessant, eine Familie zu gründen, zum Beispiel."
Ute Dettmar von der Universität Oldenburg bestätigt diesen Eindruck: Die Familie gewinnt in vielen Jugendbüchern wieder an Bedeutung. Nicht mehr die Adoleszenz, die Ablösung von den Eltern oder eine eigene Jugendkultur steht hier im Vordergrund, sondern die Familie. Für die Jugendliteratur bedeutet das derzeit eine literarische Neuorientierung.
"Die Eltern sind ja viel zu schwach, die werden ja von den Kindern geschützt, und das als Thema, würde ich sagen, also das sind dann nicht mehr die Adoleszenzromane, in denen das eine Rolle spielt, sondern das sind tatsächlich Familienromane, und deswegen werden die auch von nem übergreifenden Publikum gelesen, das sind ja alles Texte, die man heute unter dieses Etikett "All Age" einordnen könnte. Also, die Zielgruppe Jugendliche wird hier aufgebrochen, das sind alles Texte, die man als Erwachsener lesen kann und die Jugendliche lesen."
Carmichael, Clay:
Zoe, Hanser Verlag 2011, 256 Seiten
Schaut man auf die aktuelle amerikanische und angelsächsische Jugendliteratur, in der psychisch kranke Eltern eine Rolle spielen, so kann man - anders als bei den deutschsprachigen Büchern - durchaus von All-Age-Familienromanen sprechen.
Ein gutes Beispiel ist der Roman "Zoe" der US-amerikanischen Autorin Clay Carmichael. Wie in den anderen vorgestellten Romanen gibt es auch hier keinen Vater und wieder einmal spielt die Depression der Mutter eine entscheidende Rolle. Anders ist jedoch: Die psychisch kranke Mutter der 11-jährigen Zoe gehört der Vergangenheit an. Denn Zoes Mutter ist tot. Sie hat sich in der Psychiatrie das Leben genommen. Das erfährt der Leser in Rückblenden, genauso wie Details über die Erkrankung der Mutter.
Wenn sie nicht im Krankenhaus war oder bei einem ihrer mies bezahlten Jobs, dann blieb sie den ganzen Tag über im Schlafzimmer, hinter verschlossener Tür und heruntergelassenen Jalousien. Manchmal vergaß ich völlig, dass sie überhaupt da war, ehrlich.
Zoe lebt nach dem Tod der Mutter bei ihrem Onkel Henry, in einem abgelegen Haus am Waldrand im US-Bundesstaat Georgia. Henry ist ein cholerischer Freak mit Muskelshirt, Ohrring und Kopftuch. Seinen Job als Herzchirurg hat er aufgegeben, um sich voll und ganz der Kunst zu widmen. Nach und nach bauen Zoe und Henry eine Beziehung zueinander auf und Zoe stellt fest, dass sie mit ihrer Erfahrung als Tochter einer psychisch kranken Mutter nicht allein ist:
Henry wies auf ein anderes Bild, auf dem eine zerbrechliche, hilflos wirkende Frau zu sehen war. (...) "Und wer ist das?", fragte ich. "Meine Mutter." "Wie war sie?" "Wie Deine Mutter, wenn auch auf ihre eigene Weise." Ich überlegte mir gut, was ich sagte. "Krank im Kopf?" "Ja." "Und wie war sie sonst?" Er dachte eine Weile nach. "Im Grunde habe ich nicht die geringste Ahnung, wie sie war, hinter so viel Krankheit.
Der neu eröffnete Zugang zu Kunst und Literatur, vor allem aber die Erfahrung, dass sich ihr Onkel und neue Freunde für sie einsetzen, wenn es hart auf hart kommt, helfen Zoe dabei, ihr Misstrauen abzustreifen, das sie nach Jahren des Allein- und Verlassenseins wie einen Schutzanzug trägt.
Ich wusste, er würde nicht immer auf meiner Seite stehen - manchmal hatte ich schon verrückte Einfälle. (...) Trotzdem fühlte es sich seltsam an, Henry zu vertrauen, wie ein Schwäche, etwas Riskantes, so, als würde ich eine Tür offen stehen lassen, die ich sonst immer verschlossen hielt.
Dem Roman "Zoe" gelingt es, die psychische Erkrankung der Mutter exemplarisch zu nutzen. Das, was die Hautfigur hinter sich hat, begegnet dem Leser hier in vielfältigen Variationen: In der Figur des Onkels, aber auch in Form weiterer Figuren, die in ihrer Kindheit vernachlässigt worden sind. Da ist beispielsweise ein wilder Junge im Wald, der dort seit Jahren mit seinem Vater lebt, der sich kaum um ihn kümmert. Der Roman besticht durch seine Intelligenz und seine hohe literarische Qualität. Denn die Autorin weitet den Blick auf ihre Figuren, indem sie darstellt, dass die Erfahrung des Verlassenseins bis ins hohe Alter prägt.
Und noch etwas tut sie: Sie zeigt, dass Traumata überwunden werden können, nicht nur durch Zuwendung, sondern auch durch die Kunst. So findet Zoes Onkel beim Anfertigen seiner Skulpturen ein Ventil für sein Leiden. Das ist übrigens kein seltenes Phänomen: Menschen, die unter der psychischen Erkrankung ihrer Eltern gelitten oder andere Traumata erfahren haben, wenden sich der Kunst zu, so die Psychoanalytikerin Silke Wiegand-Grefe:
Es gibt eine große Fähigkeit letztlich dann ja auch, mit diesen Erfahrungen, die quasi gewissermaßen nicht gegen sich zu wenden, gegen sich selbst und selbst depressiv zu werden, sondern mit den Erfahrungen in irgendeiner Weise nach außen zu gehen und eben die Kunst zum Beispiel ist da allein durch die Nichtsprachlichkeit beispielsweise sehr geeignet.
Kuipers, Alice:
Vor meinen Augen, FJB 2011, 220 Seiten
Die Kunst als Mittel gegen die Depression. Darum geht es unter anderem in dem Roman mit dem Titel "Vor meinen Augen" der britischen Autorin Alice Kuipers. Es ist eine Geschichte in Tagebuchform, geschrieben von der 15-jährige Sophie. Bei einem Bombenanschlag in der Londoner U-Bahn ist ihre drei Jahre ältere Schwester ums Leben gekommen. Sophie war dabei, doch sie spricht mit niemandem darüber. Auch dem Leser wird das erst nach und nach deutlich. Doch dass Sophie traumatisiert ist, weiß er bald.
Wir waren im Flur vor den Klassenzimmern. Die Menge an Leuten brachte mich zum Schwitzen. Wenn noch mehr Leute in den Flur strömten, dann konnte leicht eine Massenpanik ausbrechen wie bei überfüllten Konzerthallen, man las ja darüber. Ein Schweißtropfen rollte ganz langsam unter meinem T-Shirt hinab.
Sophie merkt selbst nicht, dass sie Hilfe benötigt. Zwar hat sie zunehmend den Eindruck, dass mit ihr etwas nicht stimmt, doch das sagt sie nicht einmal ihren besten Freundinnen, geschweige denn ihrer Therapeutin, zu der sie einmal pro Woche muss und die sie nicht mag. Nur einer neuen Mitschülerin vertraut sie sich an. Diese schreibt Gedichte, mit denen sie den Verlust ihrer Mutter verarbeitet. Sophie ist sich sicher, dass ihre eigene Mutter verrückt ist. Warum sonst schließt sie sich in ihrem Zimmer ein, lacht nicht und sammelt Dinge, die anderen Menschen verloren haben? Sie versteht nicht, dass ihre Mutter trauert. Sie glaubt, dass sie sie nicht mehr liebt. Doch anstatt ihr das zu sagen, zieht sich Sophie mehr und mehr zurück und bemüht sich um äußere Normalität. Doch der Leser merkt, dass sie durch ihr Schweigen zunehmend depressiv wird. Erst als Sophies Mutter wieder Boden gewinnt, können die beiden zueinanderfinden und gemeinsam trauern. Und Sophie findet für ihr Trauma nicht nur die Lyrik als Ausdrucksform, sondern auch eine Therapeutin, der sie vertraut.
Und dann begann ich, über den Bombenanschlag zu reden und wie es an diesem Tag war. Allein darüber zu reden, versetzte mich in Panik, aber Koreen hörte zu und wartete, während ich mit meinen Gefühlen kämpfte. Mir wurde klar, dass es okay ist, wenn ich eine ganze Weile brauche, um mich von dem zu erholen, was passiert ist. Es ist normal.
"Vor meinen Augen" ist ein zu Tränen rührendes und zugleich Mut machendes Buch. Der Autorin Alice Kuipers gelingt es, die Hauptfigur immer tiefer in eine Depression rutschen zu lassen ohne, dass sie es selbst realisiert. Stattdessen erlebt sie ihr Umfeld als zunehmend verrückt oder nimmt es kaum noch wahr. Ihr Roman ist eine literarische Leistung und zugleich ein Appell, dem Schmerz über den Verlust eines Menschen eine Stimme zu geben.
Ob als Hintergrundkulisse, generationenübergreifendes Thema oder hauptsächlicher jugendlicher Lebensinhalt: Psychisch kranke Eltern tauchen inzwischen in vielen Varianten in der Jugendliteratur auf. Sie sind eine Herausforderung für die jungen, willensstarken Heldinnen und Helden. Ob tragisch, skurril oder nachdenklich stimmend: Die Romane sind meist durchdrungen vom Wissen der Autorinnen und Autoren. So blickt der Leser hinter die Fassaden und betritt gesellschaftliche Tabuzonen. Dabei kommt die Unterhaltung keineswegs zu kurz - und die gelingt oft auf höchstem Niveau.
Literaturliste
Carmichael, Clay:
Zoe, Hanser Verlag 2011, 256 Seiten
Haugen, Tormod:
Die Nachtvögel, Verlag Benzinger 1978, 144 Seiten
Kuipers, Alice:
Vor meinen Augen, FJB 2011, 220 Seiten
Schlieper, Birgit:
Abgemeldet, Sauerländer 2011
Smith, Pete:
Arm sind die anderen, Ueberreuter 2011, 159 Seiten
Stehle, Katrin:
Das Gegenteil von fröhlich, Gabriel Verlag 2011, 240 Seiten
Wiegand-Grefe, Silke, Mattejat, Fritz, Lenz, Albert:
Kinder mit psychisch kranken Eltern, Vandenhock & Ruprecht 2010, 496 Seiten
Wiegand-Grefe, Silke/ Halverscheid, Susanne/ Plass, Angela:
Kinder und ihre psychisch kranken Eltern, Verlag Hogrefe 2011, 162 Seiten
Wortberg, Christoph:
Easy, Beltz & Gelberg 2011, 238 Seiten