Joachim Gauck: "Es war der 18. März, heute vor 22 Jahren, und wir hatten gewählt, es waren Millionen von Ostdeutschen nach 56 Jahren Herrschaft von Diktatur, die endlich Bürger sein durften."
Nichtwähler: "Wir gehen nicht wählen, weil die Leute zu viel lügen."
Joachim Gauck: "Zum ersten Mal in meinem Leben, im Alter von 50 Jahren, durfte ich in freier und geheimer und gleicher Wahl bestimmen, wer damals regieren sollte."
Nichtwähler: "Es gibt keine Partei mehr, die für eine Sache steht."
Joachim Gauck: "Nie werde ich diese Wahl vergessen, niemals weder die über 90 Prozent der Wahlbeteiligung noch meine eigene innere Bewegung. Und ich wusste, ich werde niemals eine Wahl versäumen."
Nichtwähler: "Wir haben keine Lust mehr, wir wissen nicht mehr, was wir wählen sollen, wir bleiben zu Hause."
Gegensätzlicher können Stimmen kaum sein. Auf der einen Seite Joachim Gauck, der nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten an die ersten freien Wahlen in der DDR erinnerte und daran, dass er sich damals vornahm, nie eine Wahl zu versäumen. Und auf der anderen Seite Stimmen von Menschen, die sich von der Politik nicht länger vertreten fühlen und nicht zur Wahl gehen. Seit den 80er-Jahren sinkt die Wahlbeteiligung bei Bundestags-, und erst recht bei Landtagswahlen. 60 Prozent der Bürgerinnen und Bürger gingen letzten Sonntag in Schleswig Holstein zu den Wahlurnen, in Sachsen-Anhalt waren es auch schon einmal nur 44 Prozent. Ist die Demokratie nichts mehr wert? Die Menschen sind, diagnostizieren Demografen, politikverdrossen. Einen Rückzug aus der Politik beobachtet auch Wolfgang Donsbach, Professor für Kommunikationswissenschaft an der TU Dresden:
"Die Demoskopen fragen dann zum Beispiel danach, ob die Politiker ihre Versprechen halten. Ob sie interessiert sind an dem, was die einfachen Leute wollen. Oder ob die Politiker das Beste für ihr Land wollen. Das sind alles Indikatoren für die Einstellung zum politischen System und diese Indikatoren, die sind schlechter geworden über die Jahre. Viele Menschen kümmern sich ja auch weniger um die Politik, die interessieren sich weniger dafür, was in der Politik an Themen verhandelt wird. Und das geringe Interesse daran wird dann bei vielen intern rationalisiert, dass man sagt, das ist sowieso ein schmutziges Geschäft. Wir haben einen größeren Teil als früher in der Bevölkerung, der sich zurückzieht auf den Privatbereich, der Demokratie als Gegebenheit hinnimmt und auch die Vorteile davon mitnimmt, ob das die Reisefreiheit ist oder die materiellen Freiheiten, die man in der Marktwirtschaft hat, aber sich selbst weniger einbringt."
Manchmal kaschiert Politikverdrossenheit möglicherweise nur ein politisches Desinteresse, eine Resignation vor der Komplexität politischer Zusammenhänge. Doch ohne Zweifel ist Politikverdrossenheit ebenso ein Warnsignal, ein Signal für vielfältig motivierte politische Unzufriedenheit. Nicht eingehaltene Wahlversprechen, Spendenaffären, der Eindruck, in der Gesellschaft gehe es zunehmend ungerechter zu, führen zu einem Misstrauen gegenüber Parteien, staatlichen Institutionen und dem System der Demokratie insgesamt. Dr. Dirk Jörke, Politikwissenschaftler an der Universität Greifswald beschäftigt sich mit der Geschichte des politischen Denkens sowie mit Krisensymptomen von Demokratien. Er findet die Skepsis gegenüber der etablierten Demokratie durchaus verständlich:
"Ich denke, dass das Unbehagen an den politischen Eliten, am parlamentarischen System durchaus zu Recht besteht. Wenn es in einer Demokratie darum gehen sollte, über demokratische Institutionen die Lebensverhältnisse zu steuern, dann haben viele Menschen die Erfahrung machen müssen, dass das ihre Lebensverhältnisse nicht mehr betrifft."
Die Finanz- und Staatsschuldenkrise der letzten Jahre gilt für viele Menschen als der endgültige Beweis einer Unterwerfung der Demokratie unter die Finanzmärkte und die Macht der Banken. Zunehmend verliert Politik ihre eigene Gestaltungsfähigkeit, begründet ihre Entscheidungen mit vor allem ökonomischen Sachzwängen und deshalb als - "alternativlos". Im Jahr 2008 erschien in Deutschland ein Buch des britischen Politikwissenschaftlers Colin Couch. "Postdemokratie" lautet der Titel. Und seither hat die schwelende Krise der Demokratie einen populären Namen:
"Postdemokratie bedeutet zunächst einmal, dass auf der einen Seite demokratische Institutionen wie Parlamente, Parteien, Wahlverfahren wunderbar funktionieren, auf der anderen Seite aber nicht mehr das einlösen, was mit ihnen verbunden wird, also, dass über diese Verfahren die Lebensbedingungen gesteuert werden können. Ich denke, dass es Faktoren gibt, die Anlass geben, die Rede von einer Postdemokratie ernst zu nehmen. Zum einen ist es die Verlagerung von Entscheidungskompetenzen auf andere Ebenen, der EU oder G-8- oder G-20-Treffen. Der zweite Punkt ist die Haushaltskrise des Staates auf allen Ebenen, zum Beispiel das Spardiktat. Und das Dritte ist der Rückzug der sogenannten Modernisierungsverlierer aus den demokratischen Institutionen."
Geht es also wirklich, wie die These von der Postdemokratie suggeriert, abwärts mit unserem politischen System, in dem die Bürger zunehmend den Erfordernissen eines globalen Marktes unterworfen werden? Oder ist die Demokratie im Wandel, wie der Historiker Paul Nolte in seinem vor kurzem erschienenen Buch "Was ist Demokratie?" beschreibt? Die Demokratie, so der Professor an der FU Berlin, sei mittlerweile "amorpher (und) vielgestaltiger" geworden:
"Ich finde, unserer Demokratie geht es recht gut. Sie ist quicklebendig, sie ist in einer Häutung, so wie ein Reptil, dem die alte Haut zu eng geworden ist. Und die alte Haut, das ist ein bisschen die Haut der repräsentativen Demokratie, die wir uns als Westdeutsche zumindest 1949 angezogen haben. Und das zwickt und zwackt nicht erst seit gestern, sondern seit einer Generation, seit die Grünen entstanden sind, seit die Demokratie um dieses Element der direkten Bürgerpartizipation erweitert worden ist."
Mit den Demonstrationen um das Projekt "Stuttgart 21" wurde ein Begriff populär, der seither für eine neue Form des politischen Protests steht. "Der Wutbürger", ein Begriff ursprünglich geprägt von dem Spiegel-Journalisten Dirk Kurbjuweit, erhebt seine Stimme. Angehörige des bürgerlich-etablierten Milieus geben ihrer Empörung darüber Ausdruck, dass politische Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg getroffen werden. Dirk Kurbjuweit beschrieb diese Wutbürger als Konservative. Von der Sorge um ihre eigene Welt getragen, wollen sie bewahren, was sie einmal haben. Zwar sind sie zum Beispiel gegen Atomkraft, doch ebenso sind sie gegen neue Stromtrassen für Windenergie in der eigenen Nachbarschaft:
"Mit Politikinteresse meinen wir ja eigentlich etwas anderes. Wir wollen ja keinen Bürger haben, der sich nur um die Dinge vor seiner Haustür interessiert, also ob da ein Bahnhof gebaut wird oder nicht, sondern dass er sich für die Dinge interessiert, die ihn vielleicht gar nicht selbst betreffen, sondern zum Beispiel die Menschen in einem anderen Land."
Man kann in dem Wutbürger aber auch den vorerst letzten Repräsentanten einer Bürgergesellschaft sehen, die Mitsprache bei gesellschaftlich relevanten Projekten über die Teilnahme von Wahlen und Abstimmungen hinaus einfordert. Als Ausdruck eben jener "multiplen Demokratie", von der Paul Nolte spricht, einer Demokratie der direkten politischen Teilhabe. Da mobilisieren sich Bürger in öffentlichem Protest, gegen ACTA oder gegen die Wallstreet, organisieren Konsumentenboykotte, gründen Stadtteilinitiativen oder treten sogenannten NGOs bei, wie Greenpeace oder Attac. Alexander Slonka, Geschäftsführer des Verbandes "Mehr Demokratie" in Nordrhein-Westfalen:
"Ich hab in Deutschland gar nicht das Gefühl, dass wir so wahnsinnig politikverdrossen sind. Also, die Menschen fangen ja jetzt gerade wieder an, die Politik für sich zu entdecken und sich zu beteiligen. Sie haben nur eben keine Lust auf diese Rituale, auf diese choreografierte Politik, wie sie in Parlamenten passiert. Sondern sie wollen sich äußern, sie wollen dann auch mitentscheiden."
Meint Postdemokratie also eigentlich die Krise der klassischen repräsentativen Demokratie und den Übergang zu mehr Bürgerbeteiligung? Erweitern rebellische Bürgerinnen und Bürger demokratische Freiheitsräume, indem sie die von ihnen selbst gewählten Institutionen der repräsentativen Demokratie selbst noch einmal einer zivilgesellschaftlichen Kontrolle unterwerfen? Aber auch in einer partizipatorischen Demokratie darf nicht der entscheiden, der am lautesten protestiert. Es bedarf Instrumente der Entscheidungsfindung, die den Bürgerwillen objektivieren.
"Wir sind eben nicht mehr damit zufrieden, dass das Parlament oder eine Regierung, die aus einem Parlament hervorgegangen ist, eine Entscheidung trifft, sondern dann bedarf es zusätzlicher Entscheidungsebenen. Erst beschließt ein Parlament, dann beteiligen sich Bürger, es gibt ein Mediationsverfahren, wie das beim Ausbau des Frankfurter Flughafens der Fall war, dann werden da runde Tische gebildet und man kommt da wieder zu einem Beschluss. Dann klagt ein Bürger, es entscheidet ein Gericht, das Gericht bildet eine weitere Ebene der demokratischen Entscheidungsfindung."
Und schließlich, wie im Fall von Stuttgart 21, gibt es eine Volksabstimmung:
"Das ist ja ein bisschen auch der Lackmustest so ein Entscheid. Und das tut der ganzen Sache ja auch gut. Wir haben in Baden-Württemberg über Monate über einen Bahnhof diskutiert und wir haben eine hochaktive Initiative gesehen. Und dann kam die Probe aufs Exempel und es kam ein Volksentscheid und die Initiative musste feststellen, dass sie in Baden-Württemberg nicht die Bevölkerung hinter sich wissen. Und das hat diesen Konflikt auch ein Stück weit befriedet."
Alexander Slonka vom Verband "Mehr Demokratie" berät Bürgerinitiativen zum Thema Bürgerbegehren, setzt sich für die vereinfachte Durchführung von Volksbegehren auf kommunaler und Länderebene ein. Und auch, wenn das Grundgesetz Volksentscheide auf Bundesebene bislang nicht zulässt, engagiert sich der Verband dafür, dass dies in Zukunft auch dort möglich wird. Denn in Volksentscheiden bestimmen die Bürger direkt über Themen von öffentlichem Interesse: In Bayern stimmten die Bürger für ein verschärftes Rauchverbot, die Hamburger verhinderten die Einführung der geplanten sechsjährigen Primarschule, in Berlin scheiterte ein Volksentscheid für ein Wahlrecht zwischen Ethik- und Religionsunterricht:
"Da muss eine Initiative, die lautstark ist, beweisen, dass sie die behauptete Mehrheit der Bevölkerung auch wirklich hinter sich hat. Und deswegen ist es eine sinnvolle Ergänzung der repräsentativen Demokratie. Die können sich nicht hinstellen und immer wieder die Politiker in den Parlamenten kritisieren und sagen, wir haben die Mehrheit hinter uns, sondern sie müssen beweisen, dass sie die Mehrheit hinter sich haben. Dafür werden sie aber auch belohnt, wenn es ihnen gelingt. Denn das, was dann entschieden wird, ist ja dann auch Gesetz."
Ist mehr direkte Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen also ein Mittel gegen den Vertrauensverlust in der Politik? Führen mehr Bürgerbeteiligung, runde Tische oder zivilgesellschaftliches Engagement zu einer "Demokratisierung der Demokratie", wie es der Politikwissenschaftler Claus Offe nennt?
"Ich habe mich immer sehr für Politik interessiert, ich habe mein Wahlrecht immer wahrgenommen. Ich hab mich nie in einer Partei engagiert, weil mir die richtige Partei fehlte. Und erst als die Piratenpartei kam, habe ich gesehen, das ist ein anderer Ansatz, da kann man sofort mitmachen, beteiligen und erst da war es für mich sinnvoll, mich auch politisch zu engagieren."
Simone Brand kandidiert für die Piratenpartei bei den Landtagswahlen in NRW am kommenden Sonntag. Seit zwei Jahren engagiert sie sich in der jungen Partei, weil sie dort ihre Ideen von Bürgerbeteiligung und Basisdemokratie verwirklicht sieht. Wie offensichtlich viele mit ihr. Die Mitgliederzahlen der Piraten wachsen sprunghaft, selbst Nichtwähler können die politischen Freibeuter aktivieren. Bei ihnen wird das Internet zum basisdemokratischen Instrument. Mit dem Web 2.0, so die Zukunftsvision, soll die repräsentative Demokratie zu einer "liquid democracy", zu einer Demokratie im Fluss, ausgeweitet werden. Jeder Bürger soll – softwaregestützt - zu jedem Thema seine Stimme abgeben oder delegieren und seine Meinung später auch jederzeit wieder ändern können.
"Liquid Democracy ist der Gedanke. Ich mach nicht bloß bei einer Partei alle paar Jahre ein Kreuzchen, sondern dass sich, je nachdem, welche Entscheidung ansteht, jeder entscheiden kann. Nee, da möchte ich jetzt ganz persönlich mitreden oder ich delegiere an eine Gruppe oder an eine Partei. Das heißt, welchen Entscheidungsweg ich finde, bleibt liquide, je nachdem, welches Thema gerade ansteht. Wir wollen ja weg von diesem starren Parteiensystem. Wo die Parteien, nachdem sie gewählt worden sind, nur noch die Entscheidungen treffen, wo auch jeder Bürger mitmachen kann."
Direkte Demokratie qua Bürgerbeteiligung und Volksbegehren, digitale Lösungen gegen Politikverdrossenheit: Das klingt verlockend. Doch wie repräsentativ sind diese Entscheidungsfindungen qua internetgestützter Schwarmintelligenz, qua Bürgerbegehren oder rundem Tisch dann noch?
Als in Hamburg 500.000 Menschen die Einführung einer sechsjährigen Primarschule qua Volksabstimmung kippten, waren es vor allem die Bewohner der wohlhabenderen Stadtteile, die an die Urne strömten. Die sogenannten "bildungsfernen Schichten", deren Kindern die verlängerte Grundschulzeit ja helfen sollte, blieben größerenteils zu Hause. Und dies dürfte, so warnt Dirk Jörke, für viele Prozeduren der direkten Demokratie gelten.
"Je anspruchsvoller die Verfahren sind, je mehr Sachkenntnis sie voraussetzen, je stärker sie auch bestimmte Ressourcen wie ein bestimmtes Auftreten, bestimmte rhetorische Fähigkeiten voraussetzen, umso elitärer werden die Verfahren. Am Inklusivsten ist eigentlich das Wahlverfahren. Und da haben wir den Trend, dass sich die neuen Unterschichten nicht beteiligen. Und das ist umso stärker der Fall, je neuer und anspruchsvoller die Verfahren werden. Insofern zeigt sich gerade in diesem Punkt die Zweischneidigkeit der ganzen Diskussion über die Modernisierung oder eines Formwandels der Demokratie. Und meines Erachtens ist wichtig, bevor man das Loblied dieser neuen Formen singt, darauf zu achten, wer sich daran beteiligt und wer nicht."
Die neuen Formen der Bürgerbeteiligung stärken also möglicherweise vor allem die Mittelschichten. Sie werden von jenen genutzt, die wahrscheinlich auch zur Wahl gehen und damit die Stützen der repräsentativen Demokratie sind. Auch Paul Nolte sieht die Gefahr eines zunehmenden "Klassencharakters" der Demokratie. Und der Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Donsbach schloss gerade eine Studie mit dem Ergebnis ab, dass besonders junge Menschen zunehmend weniger Interesse an politischer Information haben. Er malt gar das Modell einer "Drei-Klassen-Informationsgesellschaft" aus:
"Die Tendenz geht dahin, dass wir einen immer größeren Teil der Bevölkerung haben, der sich von der Politik abwendet. Ich nenne das das kommunikative Prekariat, also Menschen, die an der sozialen Kommunikation kaum noch teilnehmen. Die konsumieren dann noch Massenkommunikation im Internet oder Fernsehen, weil sie der Unterhaltung dienen. Dann sehe ich in der Mitte den Mittelstand der politisch Halbgebildeten der Fernsehtalkshows. Es sind Menschen, die denken, sie interessieren sich und engagieren sich für Politik, wenn sie die Talkshows im Fernsehen sehen, aber da relativ wenig an Sachwissen transportiert bekommen, sondern sich doch überwiegend an den Hahnen- und Hennenkämpfen ergötzen. Und darauf sitzend haben wir, was ich die politische Elite nenne, also Menschen, die politisch sehr interessiert sind und sich einbringen in die Politik, die auch mehr darüber wissen und die auch mehr die Politik bestimmen können."
Ob direkte oder repräsentative Demokratie: Die 'politische Elite', von der Wolfgang Donsbach gerade sprach, wird sich ihre Mitsprache nicht nehmen lassen. Die schwächeren Gruppen der Gesellschaft würden hingegen von der parlamentarischen Parteiendemokratie besser vertreten. Und deshalb könnte eine vitale Mitmachdemokratie die Spaltung der Gesellschaft durchaus noch verstärken. Und das heißt, meint Dirk Jörke:
"Meines Erachtens deuten die Zeichen darauf hin, dass uns der Diskurs über die Postdemokratie und die Phänomene, die mit diesen Diskurs bezeichnet werden, noch länger beschäftigt werden."
Nichtwähler: "Wir gehen nicht wählen, weil die Leute zu viel lügen."
Joachim Gauck: "Zum ersten Mal in meinem Leben, im Alter von 50 Jahren, durfte ich in freier und geheimer und gleicher Wahl bestimmen, wer damals regieren sollte."
Nichtwähler: "Es gibt keine Partei mehr, die für eine Sache steht."
Joachim Gauck: "Nie werde ich diese Wahl vergessen, niemals weder die über 90 Prozent der Wahlbeteiligung noch meine eigene innere Bewegung. Und ich wusste, ich werde niemals eine Wahl versäumen."
Nichtwähler: "Wir haben keine Lust mehr, wir wissen nicht mehr, was wir wählen sollen, wir bleiben zu Hause."
Gegensätzlicher können Stimmen kaum sein. Auf der einen Seite Joachim Gauck, der nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten an die ersten freien Wahlen in der DDR erinnerte und daran, dass er sich damals vornahm, nie eine Wahl zu versäumen. Und auf der anderen Seite Stimmen von Menschen, die sich von der Politik nicht länger vertreten fühlen und nicht zur Wahl gehen. Seit den 80er-Jahren sinkt die Wahlbeteiligung bei Bundestags-, und erst recht bei Landtagswahlen. 60 Prozent der Bürgerinnen und Bürger gingen letzten Sonntag in Schleswig Holstein zu den Wahlurnen, in Sachsen-Anhalt waren es auch schon einmal nur 44 Prozent. Ist die Demokratie nichts mehr wert? Die Menschen sind, diagnostizieren Demografen, politikverdrossen. Einen Rückzug aus der Politik beobachtet auch Wolfgang Donsbach, Professor für Kommunikationswissenschaft an der TU Dresden:
"Die Demoskopen fragen dann zum Beispiel danach, ob die Politiker ihre Versprechen halten. Ob sie interessiert sind an dem, was die einfachen Leute wollen. Oder ob die Politiker das Beste für ihr Land wollen. Das sind alles Indikatoren für die Einstellung zum politischen System und diese Indikatoren, die sind schlechter geworden über die Jahre. Viele Menschen kümmern sich ja auch weniger um die Politik, die interessieren sich weniger dafür, was in der Politik an Themen verhandelt wird. Und das geringe Interesse daran wird dann bei vielen intern rationalisiert, dass man sagt, das ist sowieso ein schmutziges Geschäft. Wir haben einen größeren Teil als früher in der Bevölkerung, der sich zurückzieht auf den Privatbereich, der Demokratie als Gegebenheit hinnimmt und auch die Vorteile davon mitnimmt, ob das die Reisefreiheit ist oder die materiellen Freiheiten, die man in der Marktwirtschaft hat, aber sich selbst weniger einbringt."
Manchmal kaschiert Politikverdrossenheit möglicherweise nur ein politisches Desinteresse, eine Resignation vor der Komplexität politischer Zusammenhänge. Doch ohne Zweifel ist Politikverdrossenheit ebenso ein Warnsignal, ein Signal für vielfältig motivierte politische Unzufriedenheit. Nicht eingehaltene Wahlversprechen, Spendenaffären, der Eindruck, in der Gesellschaft gehe es zunehmend ungerechter zu, führen zu einem Misstrauen gegenüber Parteien, staatlichen Institutionen und dem System der Demokratie insgesamt. Dr. Dirk Jörke, Politikwissenschaftler an der Universität Greifswald beschäftigt sich mit der Geschichte des politischen Denkens sowie mit Krisensymptomen von Demokratien. Er findet die Skepsis gegenüber der etablierten Demokratie durchaus verständlich:
"Ich denke, dass das Unbehagen an den politischen Eliten, am parlamentarischen System durchaus zu Recht besteht. Wenn es in einer Demokratie darum gehen sollte, über demokratische Institutionen die Lebensverhältnisse zu steuern, dann haben viele Menschen die Erfahrung machen müssen, dass das ihre Lebensverhältnisse nicht mehr betrifft."
Die Finanz- und Staatsschuldenkrise der letzten Jahre gilt für viele Menschen als der endgültige Beweis einer Unterwerfung der Demokratie unter die Finanzmärkte und die Macht der Banken. Zunehmend verliert Politik ihre eigene Gestaltungsfähigkeit, begründet ihre Entscheidungen mit vor allem ökonomischen Sachzwängen und deshalb als - "alternativlos". Im Jahr 2008 erschien in Deutschland ein Buch des britischen Politikwissenschaftlers Colin Couch. "Postdemokratie" lautet der Titel. Und seither hat die schwelende Krise der Demokratie einen populären Namen:
"Postdemokratie bedeutet zunächst einmal, dass auf der einen Seite demokratische Institutionen wie Parlamente, Parteien, Wahlverfahren wunderbar funktionieren, auf der anderen Seite aber nicht mehr das einlösen, was mit ihnen verbunden wird, also, dass über diese Verfahren die Lebensbedingungen gesteuert werden können. Ich denke, dass es Faktoren gibt, die Anlass geben, die Rede von einer Postdemokratie ernst zu nehmen. Zum einen ist es die Verlagerung von Entscheidungskompetenzen auf andere Ebenen, der EU oder G-8- oder G-20-Treffen. Der zweite Punkt ist die Haushaltskrise des Staates auf allen Ebenen, zum Beispiel das Spardiktat. Und das Dritte ist der Rückzug der sogenannten Modernisierungsverlierer aus den demokratischen Institutionen."
Geht es also wirklich, wie die These von der Postdemokratie suggeriert, abwärts mit unserem politischen System, in dem die Bürger zunehmend den Erfordernissen eines globalen Marktes unterworfen werden? Oder ist die Demokratie im Wandel, wie der Historiker Paul Nolte in seinem vor kurzem erschienenen Buch "Was ist Demokratie?" beschreibt? Die Demokratie, so der Professor an der FU Berlin, sei mittlerweile "amorpher (und) vielgestaltiger" geworden:
"Ich finde, unserer Demokratie geht es recht gut. Sie ist quicklebendig, sie ist in einer Häutung, so wie ein Reptil, dem die alte Haut zu eng geworden ist. Und die alte Haut, das ist ein bisschen die Haut der repräsentativen Demokratie, die wir uns als Westdeutsche zumindest 1949 angezogen haben. Und das zwickt und zwackt nicht erst seit gestern, sondern seit einer Generation, seit die Grünen entstanden sind, seit die Demokratie um dieses Element der direkten Bürgerpartizipation erweitert worden ist."
Mit den Demonstrationen um das Projekt "Stuttgart 21" wurde ein Begriff populär, der seither für eine neue Form des politischen Protests steht. "Der Wutbürger", ein Begriff ursprünglich geprägt von dem Spiegel-Journalisten Dirk Kurbjuweit, erhebt seine Stimme. Angehörige des bürgerlich-etablierten Milieus geben ihrer Empörung darüber Ausdruck, dass politische Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg getroffen werden. Dirk Kurbjuweit beschrieb diese Wutbürger als Konservative. Von der Sorge um ihre eigene Welt getragen, wollen sie bewahren, was sie einmal haben. Zwar sind sie zum Beispiel gegen Atomkraft, doch ebenso sind sie gegen neue Stromtrassen für Windenergie in der eigenen Nachbarschaft:
"Mit Politikinteresse meinen wir ja eigentlich etwas anderes. Wir wollen ja keinen Bürger haben, der sich nur um die Dinge vor seiner Haustür interessiert, also ob da ein Bahnhof gebaut wird oder nicht, sondern dass er sich für die Dinge interessiert, die ihn vielleicht gar nicht selbst betreffen, sondern zum Beispiel die Menschen in einem anderen Land."
Man kann in dem Wutbürger aber auch den vorerst letzten Repräsentanten einer Bürgergesellschaft sehen, die Mitsprache bei gesellschaftlich relevanten Projekten über die Teilnahme von Wahlen und Abstimmungen hinaus einfordert. Als Ausdruck eben jener "multiplen Demokratie", von der Paul Nolte spricht, einer Demokratie der direkten politischen Teilhabe. Da mobilisieren sich Bürger in öffentlichem Protest, gegen ACTA oder gegen die Wallstreet, organisieren Konsumentenboykotte, gründen Stadtteilinitiativen oder treten sogenannten NGOs bei, wie Greenpeace oder Attac. Alexander Slonka, Geschäftsführer des Verbandes "Mehr Demokratie" in Nordrhein-Westfalen:
"Ich hab in Deutschland gar nicht das Gefühl, dass wir so wahnsinnig politikverdrossen sind. Also, die Menschen fangen ja jetzt gerade wieder an, die Politik für sich zu entdecken und sich zu beteiligen. Sie haben nur eben keine Lust auf diese Rituale, auf diese choreografierte Politik, wie sie in Parlamenten passiert. Sondern sie wollen sich äußern, sie wollen dann auch mitentscheiden."
Meint Postdemokratie also eigentlich die Krise der klassischen repräsentativen Demokratie und den Übergang zu mehr Bürgerbeteiligung? Erweitern rebellische Bürgerinnen und Bürger demokratische Freiheitsräume, indem sie die von ihnen selbst gewählten Institutionen der repräsentativen Demokratie selbst noch einmal einer zivilgesellschaftlichen Kontrolle unterwerfen? Aber auch in einer partizipatorischen Demokratie darf nicht der entscheiden, der am lautesten protestiert. Es bedarf Instrumente der Entscheidungsfindung, die den Bürgerwillen objektivieren.
"Wir sind eben nicht mehr damit zufrieden, dass das Parlament oder eine Regierung, die aus einem Parlament hervorgegangen ist, eine Entscheidung trifft, sondern dann bedarf es zusätzlicher Entscheidungsebenen. Erst beschließt ein Parlament, dann beteiligen sich Bürger, es gibt ein Mediationsverfahren, wie das beim Ausbau des Frankfurter Flughafens der Fall war, dann werden da runde Tische gebildet und man kommt da wieder zu einem Beschluss. Dann klagt ein Bürger, es entscheidet ein Gericht, das Gericht bildet eine weitere Ebene der demokratischen Entscheidungsfindung."
Und schließlich, wie im Fall von Stuttgart 21, gibt es eine Volksabstimmung:
"Das ist ja ein bisschen auch der Lackmustest so ein Entscheid. Und das tut der ganzen Sache ja auch gut. Wir haben in Baden-Württemberg über Monate über einen Bahnhof diskutiert und wir haben eine hochaktive Initiative gesehen. Und dann kam die Probe aufs Exempel und es kam ein Volksentscheid und die Initiative musste feststellen, dass sie in Baden-Württemberg nicht die Bevölkerung hinter sich wissen. Und das hat diesen Konflikt auch ein Stück weit befriedet."
Alexander Slonka vom Verband "Mehr Demokratie" berät Bürgerinitiativen zum Thema Bürgerbegehren, setzt sich für die vereinfachte Durchführung von Volksbegehren auf kommunaler und Länderebene ein. Und auch, wenn das Grundgesetz Volksentscheide auf Bundesebene bislang nicht zulässt, engagiert sich der Verband dafür, dass dies in Zukunft auch dort möglich wird. Denn in Volksentscheiden bestimmen die Bürger direkt über Themen von öffentlichem Interesse: In Bayern stimmten die Bürger für ein verschärftes Rauchverbot, die Hamburger verhinderten die Einführung der geplanten sechsjährigen Primarschule, in Berlin scheiterte ein Volksentscheid für ein Wahlrecht zwischen Ethik- und Religionsunterricht:
"Da muss eine Initiative, die lautstark ist, beweisen, dass sie die behauptete Mehrheit der Bevölkerung auch wirklich hinter sich hat. Und deswegen ist es eine sinnvolle Ergänzung der repräsentativen Demokratie. Die können sich nicht hinstellen und immer wieder die Politiker in den Parlamenten kritisieren und sagen, wir haben die Mehrheit hinter uns, sondern sie müssen beweisen, dass sie die Mehrheit hinter sich haben. Dafür werden sie aber auch belohnt, wenn es ihnen gelingt. Denn das, was dann entschieden wird, ist ja dann auch Gesetz."
Ist mehr direkte Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen also ein Mittel gegen den Vertrauensverlust in der Politik? Führen mehr Bürgerbeteiligung, runde Tische oder zivilgesellschaftliches Engagement zu einer "Demokratisierung der Demokratie", wie es der Politikwissenschaftler Claus Offe nennt?
"Ich habe mich immer sehr für Politik interessiert, ich habe mein Wahlrecht immer wahrgenommen. Ich hab mich nie in einer Partei engagiert, weil mir die richtige Partei fehlte. Und erst als die Piratenpartei kam, habe ich gesehen, das ist ein anderer Ansatz, da kann man sofort mitmachen, beteiligen und erst da war es für mich sinnvoll, mich auch politisch zu engagieren."
Simone Brand kandidiert für die Piratenpartei bei den Landtagswahlen in NRW am kommenden Sonntag. Seit zwei Jahren engagiert sie sich in der jungen Partei, weil sie dort ihre Ideen von Bürgerbeteiligung und Basisdemokratie verwirklicht sieht. Wie offensichtlich viele mit ihr. Die Mitgliederzahlen der Piraten wachsen sprunghaft, selbst Nichtwähler können die politischen Freibeuter aktivieren. Bei ihnen wird das Internet zum basisdemokratischen Instrument. Mit dem Web 2.0, so die Zukunftsvision, soll die repräsentative Demokratie zu einer "liquid democracy", zu einer Demokratie im Fluss, ausgeweitet werden. Jeder Bürger soll – softwaregestützt - zu jedem Thema seine Stimme abgeben oder delegieren und seine Meinung später auch jederzeit wieder ändern können.
"Liquid Democracy ist der Gedanke. Ich mach nicht bloß bei einer Partei alle paar Jahre ein Kreuzchen, sondern dass sich, je nachdem, welche Entscheidung ansteht, jeder entscheiden kann. Nee, da möchte ich jetzt ganz persönlich mitreden oder ich delegiere an eine Gruppe oder an eine Partei. Das heißt, welchen Entscheidungsweg ich finde, bleibt liquide, je nachdem, welches Thema gerade ansteht. Wir wollen ja weg von diesem starren Parteiensystem. Wo die Parteien, nachdem sie gewählt worden sind, nur noch die Entscheidungen treffen, wo auch jeder Bürger mitmachen kann."
Direkte Demokratie qua Bürgerbeteiligung und Volksbegehren, digitale Lösungen gegen Politikverdrossenheit: Das klingt verlockend. Doch wie repräsentativ sind diese Entscheidungsfindungen qua internetgestützter Schwarmintelligenz, qua Bürgerbegehren oder rundem Tisch dann noch?
Als in Hamburg 500.000 Menschen die Einführung einer sechsjährigen Primarschule qua Volksabstimmung kippten, waren es vor allem die Bewohner der wohlhabenderen Stadtteile, die an die Urne strömten. Die sogenannten "bildungsfernen Schichten", deren Kindern die verlängerte Grundschulzeit ja helfen sollte, blieben größerenteils zu Hause. Und dies dürfte, so warnt Dirk Jörke, für viele Prozeduren der direkten Demokratie gelten.
"Je anspruchsvoller die Verfahren sind, je mehr Sachkenntnis sie voraussetzen, je stärker sie auch bestimmte Ressourcen wie ein bestimmtes Auftreten, bestimmte rhetorische Fähigkeiten voraussetzen, umso elitärer werden die Verfahren. Am Inklusivsten ist eigentlich das Wahlverfahren. Und da haben wir den Trend, dass sich die neuen Unterschichten nicht beteiligen. Und das ist umso stärker der Fall, je neuer und anspruchsvoller die Verfahren werden. Insofern zeigt sich gerade in diesem Punkt die Zweischneidigkeit der ganzen Diskussion über die Modernisierung oder eines Formwandels der Demokratie. Und meines Erachtens ist wichtig, bevor man das Loblied dieser neuen Formen singt, darauf zu achten, wer sich daran beteiligt und wer nicht."
Die neuen Formen der Bürgerbeteiligung stärken also möglicherweise vor allem die Mittelschichten. Sie werden von jenen genutzt, die wahrscheinlich auch zur Wahl gehen und damit die Stützen der repräsentativen Demokratie sind. Auch Paul Nolte sieht die Gefahr eines zunehmenden "Klassencharakters" der Demokratie. Und der Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Donsbach schloss gerade eine Studie mit dem Ergebnis ab, dass besonders junge Menschen zunehmend weniger Interesse an politischer Information haben. Er malt gar das Modell einer "Drei-Klassen-Informationsgesellschaft" aus:
"Die Tendenz geht dahin, dass wir einen immer größeren Teil der Bevölkerung haben, der sich von der Politik abwendet. Ich nenne das das kommunikative Prekariat, also Menschen, die an der sozialen Kommunikation kaum noch teilnehmen. Die konsumieren dann noch Massenkommunikation im Internet oder Fernsehen, weil sie der Unterhaltung dienen. Dann sehe ich in der Mitte den Mittelstand der politisch Halbgebildeten der Fernsehtalkshows. Es sind Menschen, die denken, sie interessieren sich und engagieren sich für Politik, wenn sie die Talkshows im Fernsehen sehen, aber da relativ wenig an Sachwissen transportiert bekommen, sondern sich doch überwiegend an den Hahnen- und Hennenkämpfen ergötzen. Und darauf sitzend haben wir, was ich die politische Elite nenne, also Menschen, die politisch sehr interessiert sind und sich einbringen in die Politik, die auch mehr darüber wissen und die auch mehr die Politik bestimmen können."
Ob direkte oder repräsentative Demokratie: Die 'politische Elite', von der Wolfgang Donsbach gerade sprach, wird sich ihre Mitsprache nicht nehmen lassen. Die schwächeren Gruppen der Gesellschaft würden hingegen von der parlamentarischen Parteiendemokratie besser vertreten. Und deshalb könnte eine vitale Mitmachdemokratie die Spaltung der Gesellschaft durchaus noch verstärken. Und das heißt, meint Dirk Jörke:
"Meines Erachtens deuten die Zeichen darauf hin, dass uns der Diskurs über die Postdemokratie und die Phänomene, die mit diesen Diskurs bezeichnet werden, noch länger beschäftigt werden."