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Wer repräsentiert die Nation?
Immer wieder hitzige Debatten um Gedenktage in Frankreich

Polemisch ausgetragene Kontroversen begleiten die Gedenktage im geschichtsfixierten Frankreich. In diesem Jahr entzündete sich ein Streit unter anderem an Charles Maurras, emblematische Figur der französischen Rechten im 20. Jahrhundert. Der Kampf um das Deutungsmonopol hat in Frankreich eine lange Tradition.

Von Albrecht Betz |
    Der Schriftsteller Charles Maurras (1868-1952) auf einer Aufnahme aus dem Jahr 1939 vor dem Institut de France in Paris
    Der Schriftsteller Charles Maurras (1868-1952) auf einer Aufnahme aus dem Jahr 1939 vor dem Institut de France in Paris (AFP)
    Kaum ein Land in Europa hat ein so leidenschaftliches Verhältnis zur Geschichte wie Frankreich. Vor allem zur eigenen. Wo sonst gibt es ein, so wörtlich, "Komitee der Wachsamkeit über den öffentlichen Gebrauch der Geschichte"? Wo sonst sind derart hitzige Debatten an der Tagesordnung, wenn es darum geht, an wen oder was erinnert werden soll - wessen wird gedacht, wer wird gefeiert, womit identifizieren sich Republik und Nation? Aber auch: wer oder was wird ausgeschlossen? Und warum?
    Die französischen Medien sind immer wieder voll von Kommentaren der Intellektuellen, die sich berufen fühlen, zu diesen Fragen Stellung zu nehmen.
    Kampf um das Deutungsmonopol
    Zwischen der Sinnbesetzung der Vergangenheit und deren Instrumentalisierung in der jeweiligen Gegenwart sind die Grenzen fließend. Vom Kampf um das Deutungsmonopol ist die Rede, von ideologisch motivierten Umdeutungen der Geschichte, der Begriffe, der historischen Mythen. Sicher wird im Oktober 2018 der 60. Geburtstag der Fünften Republik, die mit dem Namen des ehemaligen Staatspräsidenten de Gaulle verknüpft ist, "zelebriert" werden; des 100. Todestages des Dichters Apollinaire wird eher "gedacht".
    Vor den Wahlen 2017 hatte Ex-Präsident Sarkozy als sein Ziel verkündet, "das Erbe von 1968 zu liquidieren". Anfang dieses Jahres hingegen überlegten Präsident Macron und sein Bekannter Dany Cohn-Bendit, wie man auf intelligente Weise an den inzwischen legendären Mai '68 erinnern könne. Sie überließen dann aber den Medien die visuelle und akustische Gedenkarbeit; sie erstreckte sich über Monate.
    Heftige Debatte über Verächter der Republik
    Gegenstand des Anstoßes einer heftigen Debatte in diesem Jahr war der 1868 geborene Schriftsteller Charles Maurras, Gründer der Zeitschrift "Action franҫaise", Verächter der Republik.
    Die Aufnahme von Maurras in den jährlichen "Kalender der nationalen Ehrungen" sei eine Schande empörten sich die Kritiker; man müsse seinen enormen Einfluss nicht nur auf das geistige Frankreich historisch zur Kenntnis nehmen, argumentierten die Befürworter.
    "Das ist die Rache von Dreyfus !!!...", rief der 77-jährige Charles Maurras nach der Verkündung des Urteils in den Saal des Gerichts in Lyon, als es ihn bei Kriegsende 1945 wegen "Einvernehmens mit dem Feind" zu lebenslänglicher Haft verurteilt.
    Die erregten Proteste gegen ein Erinnern an den rechtsextremen Ideologen in Frankreich zwangen die Pariser Kulturministerin im Januar, Maurras’ Namen und das Gedenken zu seinem 150. Geburtstag in diesem Jahr von der Liste zu nehmen und den Katalog des offiziellen französischen Gedenkprogramms einstampfen zu lassen.
    Wie so oft in Frankreich standen sich in der Maurras-Debatte zwei Lager gegenüber. Das Auswahlkomitee und seine Mitglieder rechtfertigten, man wolle Frankreichs dunkle Seiten nicht verschweigen.
    "Zensur der Geschichte"?
    Auch umstrittene, große historische Wirkung müsse anerkannt werden, selbst wenn den einen oder anderen die ideologische Richtung nicht passe. Schlagwörter machten die Runde, etwa "Zensur der Geschichte", oder im anderen Lager "Wahlhilfe für die Reaktion". Austritte aus dem für die Wahl der Gedenktage zuständigen Komitee häuften sich.
    Aus dieser Debatte abgeleitet stellen sich Fragen: Wie konnte ein rechtsradikaler Ideologe und Publizist die politische Diskussion der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so stark dominieren? In welcher Hinsicht berufen sich heute Politiker wie die Nichte Jean-Marie Le Pens oder in den USA Steve Bannon auf ihn? Ist der integrale Nationalismus, den Maurras vertrat, brauchbar für die Identitären in Europa, die derzeit wie Pilze aus dem Boden schießen und die Nation gegen Europa in Stellung bringen wollen?
    In Maurras' Rhetorik jedenfalls könnten sie fündig werden: "Die Nation ist der größte gemeinschaftliche Kreis den es gibt... sie ist der Gipfel der Hierarchie der politischen Ideen. Von allen starken Realitäten ist sie die stärkste."
    Zu fragen ist auch: Welche Autoren hat Maurras, der sich als Schriftsteller verstand, zumindest zeitweilig beeinflusst? Das ist nicht unwichtig bei dem hohen Prestige, das die schreibende Zunft in Frankreich genießt.
    Einer der nicht zu den unmittelbaren Maurras-Jüngern gehörte, ein Deutschland-Bewunderer und Kollaborateur, dessen 50. Todestag ebenfalls in der erwähnten Gedenkbroschüre stand, war der in Deutschland wenig bekannte Jacques Chardonne, der Lieblings-Romancier von Präsident Mitterrand. Er hatte während des Krieges, 1941 und 1942, an den beiden "europäischen" Schriftsteller-Treffen in Weimar teilgenommen, zu denen Goebbels eingeladen hatte. Auch die Erinnerung an Chardonne löste Proteste aus und musste zurückgezogen werden.
    Kontroversen und ideologische Spaltungen, oft befeuert mit radikalen Thesen, sind in Frankreich an der Tagesordnung, rhetorische Schaukämpfe finden ein waches und engagiertes Publikum. Der revolutionäre Gestus ist ebenso akzeptiert wie die vehemente Verteidigung des Bestehenden; was in der Realität - wie vor 50 Jahren im Mai 1968 - zu dynamischen Erschütterungen führen kann oder zur "blockierten Gesellschaft". Als vor einigen Generationen die Völkerpsychologie hoch im Kurs stand, gab es Versuche, die Mentalität im Lande als Verbindung von Skepsis und Hedonismus zu charakterisieren. Derlei Annäherungen sind nicht immer hilfreich.
    Zwei Frankreiche
    Vielmehr gilt seit der Französischen Revolution 1789, dass sich "les deux France" - zwei Frankreiche - gegenüberstehen: jenes der Menschenrechte, der universalistischen, fortschrittlichen Ideen, republikanisch und laizistisch, mit Paris als tonangebendem Zentrum, das in der Aufklärung wurzelt, im "siècle des lumières".
    Die Videoprojektion "La Liberté Raisonée" von Cristina Lucas. Diese zeigt das politische Symbolbild schlechthin: Die Freiheit erkämpft sich ihren Weg, nach dem berühmten Gemälde von Eugene Delacroix.
    Videoprojektion "La Liberté Raisonée" von Cristina Lucas. Die Freiheit erkämpft sich ihren Weg, nach dem berühmten Gemälde von Eugene Delacroix. (Stefanie Görtz)
    Dagegen steht "la France profonde", jene katholisch ländliche "Nation", mit den sakrosankten Bereichen Familie, Kirche und Armee vermeintlich sicheren Traditionen verpflichtet; zu ihnen gehört nicht selten der Antisemitismus. Dieses "eigentliche" Frankreich zu bewahren bedurfte es - beim Übergang in die Moderne im 19. Jahrhundert - eines kohärenten Ensembles von "Feindbildern": als negativer Kontrast. Eine gegen Ende des Jahrhunderts entstehende Massenpresse vermochte sie erfolgreich zu propagieren.
    Charles Maurras hatte eine vierfache feindliche Phalanx ausgemacht, gleichsam die Inkarnationen des Nichtfranzösischen: die Juden, die Protestanten, die Freimaurer und die Ausländer; antinationale und zersetzende Elemente alle vier, die das Land zu schwächen drohten. Frankreich habe mit und nach der Revolution von 1789 einen falschen Weg eingeschlagen. Notwendig sei daher eine Bündelung der konservativen Kräfte, die Abschaffung der korrupten Republik, der liberalen Demokratie, der Idee der Gleichheit und der Macht des Geldes.
    Dagegen als positives Ziel: die Wiedererrichtung der Monarchie, das Wiederanschließen an jene Tradition, der das Land seine Größe, seine "grandeur", bis vor kurzem verdankte: "die 40 Könige, die Frankreich gemacht haben", in 800 Jahren. Derlei Positionen können heute selbst in der Retrospektive irritieren. So hielt der bekannte Essayist Jean-François Kahn in der Zeitung "Libération" dem Komitee vor: "Das ist der Maurras, dessen ihr gedenken wollt: ein Rassist, ein radikaler Fremdenfeind, ein Bewunderer Mussolinis und ein absolutistischer Reaktionär..."
    Über den Monarchismus im Weltbild, das Maurras propagierte, sahen viele seiner Verehrer und Schüler hinweg. Wie obsolet er war, wurde spätestens bei Ende des Ersten Weltkriegs 1918 deutlich, als in Europa - um mit Ernst Jünger zu sprechen - viele Kronen in den Staub rollten.
    Spaltung der Nation am Beispiel der Dreyfus-Affäre
    Nichts aber machte die Spaltung der Nation am Ende des 19. Jahrhunderts sichtbarer als die Dreyfus-Affäre, die 1894 begann und durch Émile Zolas donnerndes "J’accuse" - "Ich klage an" - vor genau 120 Jahren in die Geschichte geistigen Widerstands einging. Der Begriff des "Intellektuellen", der in Frankreich so wichtig werden sollte, trat damals in die Welt. "Dreyfusards", darunter Marcel Proust, und "Anti-Dreyfusards" wie Maurras samt der konservativen Mehrheit des Landes standen einander gegenüber.
    Der Spionageverdacht gegen den jüdischen Offizier Hauptmann Dreyfus war ein Verdacht, der sich später als eine von der Armeespitze fabrizierte Fälschung erwies. Als Verdacht bediente er in der durch die Massenpresse manipulierten Öffentlichkeit viele bereits eingeschliffene Klischees. Dazu gehörte einmal, dass Dreyfus aus dem als patriotisch unzuverlässig geltenden Grenzland Elsass stammte; das stand zur der Zeit unter deutscher Verwaltung - also der des Erbfeindes. Zum anderen war er Spross einer sehr wohlhabenden Familie, was die Gewerkschafter - mit Ausnahme von Jean Jaurès - abhielt, sich für ihn einzusetzen. Vor allem aber: Er war Jude - und damit für viele gar kein Franzose. "Tod den jüdischen Kapitalisten!" war bereits früher ein geläufiger Ruf von links. Von der rechtsradikalen Presse wurde die Assoziationskette: Jude - Judas - Hochverrat hemmungslos wiederholt. Die ganze Affäre passte ins weltanschauliche Feindbild von Maurras. Noch als die Fakten das Gegenteil bewiesen, hielt er fest an seinem Urteil, Dreyfus habe Unheil über das Land gebracht, die nationale Zerrissenheit gefördert, beinahe einen Bürgerkrieg verursacht.
    Dass er unschuldig war, konnte er ihm nie verzeihen: Noch Maurras' anfangs zitierte Reaktion auf die eigene Verurteilung beweist, welche Bedeutung die "Affäre" zeitlebens für ihn hatte. Sie blieb wichtigster Bezugspunkt und war frühes Katapult für den eigenen konterrevolutionären Fundamentalismus.
    Wenn von Maurras als Haupt einer Schule und ideologischem Führer die Rede ist, meint man die aus der "Affäre" hervorgegangene "Action française": eine rechts-konservative politische Gruppierung und die von Maurras herausgegebene Zeitung gleichen Namens, die in der Zwischenkriegszeit massiven Einfluss gewann. Auch der junge Charles de Gaulle und der Student François Mitterrand gehörten zeitweilig zu ihren Lesern. Überhaupt dominierte in den Militärschulen wie bei den Studenten im Pariser Quartier Latin und ebenso auf dem offizielleren rechten Seine-Ufer der Chauvinismus. Die Erinnerung an "La Grande Guerre" von 1914 bis 1918 war frisch.
    Titelseite der nationalistischen französischen Zeitschrift L'Action française um 1940
    Titelseite der nationalistischen französischen Zeitschrift L'Action française um 1940 (imago / CollectionxLeemage)
    Die Gespenster Dekadenz und Kommunistenfurcht
    Umso überraschender war der Sieg der Volksfront 1936, der dem rechten Milieu als Katastrophe erscheinen musste. Nicht nur kamen zum ersten Mal Sozialisten an die Macht; der Regierungschef Léon Blum war ein Jude. Und das in einem Land, in dem die Gespenster Dekadenz und Kommunistenfurcht umgingen; das von seinen furchtbaren Verlusten im Krieg traumatisiert war und einer deutschen Revanche entgegensehen musste.
    Und das von Italien und Deutschland flankiert war, wo der Faschismus sichtbar eine bedrohlich dynamische Kraft entfaltete: im Kontrast zur eigenen, morschen Demokratie und einem korrupten parlamentarischen System mit ständig wechselnden Regierungen.
    Gegen die verbalen Abscheulichkeiten, mit denen die Rechtspresse gegen die Volksfront hetzte und die öffentliche Meinung in Wallung brachte, wirkte etwa Célines oft zitierte Devise "Lieber Hitler als Blum!" beinahe gemäßigt. Maurras schrieb: "Blum ist menschlicher Abfall. Er gehört erschossen, und zwar von hinten." Und meinte: Wie schon durch Dreyfus werde durch Blum die nationale Ehre beschmutzt.
    Solche Äußerungen waren kein Hinderungsgrund, Maurras im Folgejahr in eine der höchsten Institutionen des Landes zu wählen: in die Académie française.1940, im Jahr des deutschen Überfalls und des Zusammenbruchs der Grande Nation, begrüßte Maurras die Machtübernahme Marschall Pétains zum "Chef" Frankreichs als "himmlische Überraschung": Endlich könnten mit einer "Révolution Nationale" die Republik und die liberale Demokratie überwunden, der Parlamentarismus abgeschafft und die Gewerkschaften aufgelöst werden, um einem korporatistischen Regime Platz zu machen.
    Autoritäre Systeme wie die von Franco oder Salazar dienten als Orientierung. Vor allem sollte der Antisemitismus einer des Staates werden. Dass all dies unter deutscher Besatzung und Oberaufsicht zu geschehen habe, mit den notwendigen Kompromissen, nahm er in Kauf; an seiner Deutschfeindlichkeit änderte das nichts. Die Nazi-Ideologie hält Maurras zeitlebens für einen Auswuchs des Pangermanismus.
    "Action Française", die von Maurras herausgegebene Zeitung, erschien nach der Niederlage in Lyon - bis zum Ende der deutschen Okkupation im Sommer 1944. Wohl deshalb fiel es seinen Richtern leicht, Maurras in die Nähe der jetzt diabolisierten "Collaboration" zu bringen.
    Und damit um sein früheres Ansehen. Michel Déon, der junge Redaktionssekretär, den Maurras während der letzten Jahre der "Action Française" als seinen Assistenten beschäftigt hatte, wurde später ein in Frankreich gern gelesener Schriftsteller. Auch auf ihn fiel noch ein später Schatten wegen seiner Jahre mit Maurras. Zwar war er 40 Jahre nach seinem Meister 1978 ebenfalls in die Académie française gewählt worden. Aber die Bürgermeisterin von Paris, die Sozialistin und Tochter spanischer Antifaschisten Anne Hidalgo, lehnte es ab, den einst "braunen" Déon in der Hauptstadt beerdigen zu lassen. Eine von der Tageszeitung "Le Figaro" initiierte Petition mit zahlreichen Unterschriften von Autoren ließ Madame Hidalgo kapitulieren; sie revidierte ihr Urteil. Déon fand im Frühjahr auf dem Pariser Friedhof Montparnasse seine Ruhestätte.
    Absage des Erinnerns an Chardonne
    Ins Frühjahr 2018 wäre das Gedenken des 50. Todestages von Jacques Chardonne gefallen. Doch das Erinnern an den von Staatspräsidenten François Mitterrand so geschätzten Romancier wurde abgesagt.
    Chardonne, großbürgerlicher Herkunft, gilt als Schöngeist, als hervorragender Stilist. Auf seinen genauen psychologischen Beobachtungen von Ehe- und Paarbeziehungen, vor allem in Romanen der 30er Jahre, gründet sein Renommee als Schriftsteller. Er war der bourgeoise Kritiker der Bourgeoisie mithin, geprägt von ihrem Wertekanon, mit Wurzeln in der Provinz.
    Seine Versuche als Essayist, seine heute naiv erscheinenden Annäherungsversuche an Nazi-Deutschland während des Krieges gaben genauso Anlass zu Protest wie die Übernahme von Positionen von Maurras. Chardonne hatte 1941 und 42 die Delegation französischer Autoren nach Weimar geleitet, zu den Europäischen Schriftstellertagen, mit denen Goebbels eine Gegenorganisation zum Internationalen PEN-Club aufbauen wollte. Chardonne stand der Besatzungsmacht wohlwollend gegenüber; er hatte Zugang zu ihren hohen Stellen.
    Dass gerade Chardonne, der Romanautor, der als Spezialist des Intimen galt, sich im Krieg die Berliner Propaganda zu eigen machte und sich für ein "Europa unter deutscher Führung" einsetzte, überraschte bereits zu seiner Zeit. Raymond Aron, Soziologe und Publizist im Londoner Exil, schreibt 1941: "Offenbar nichts prädestinierte Jacques Chardonne zu jener Arbeit, die er heute betreibt (...) Warum plötzlich dieses Hinrennen auf den öffentlichen Platz? Warum diese schallende Stellungnahme zugunsten eines deutschen Europa?"
    Deutsche Truppenmitglieder im Oktober 1940 in Paris
    Über den Umgang mit den deutschen Nazi-Besatzern in Frankreich wird bis heute debattiert (AP)
    Aron warnte Chardonne, alles auf die Karte eines deutschen Sieges zu setzen. Politische Blindheit sei nicht länger entschuldbar. Unausgesprochen schwebte der Vorwurf des Opportunismus über allem. Zum Zeitpunkt seiner Kritik wusste Aron noch nicht, dass Chardonne sich mit seinen Schriftstellerkollegen nach Weimar einladen ließ. Goebbels erwartete als Gegenleistung von ihnen, dass sie über das Gastland, sprich das Dritte Reich - glorifizierende Reiseberichte veröffentlichen würden. Was auch geschah.
    Mit den Worten eines offiziellen deutschen Kommentators: "Fast alle Mitglieder der französischen Delegation berichteten im Anschluss an dieses Dichtertreffen und die vorausgegangene gemeinsame Dichterfahrt durch das Deutsche Reich in den verschiedensten französischen Zeitschriften über die tiefen und nachhaltigen Eindrücke, die ihnen der mehrwöchige Aufenthalt in Deutschland vermittelt hatte (...) Sie offenbaren den Geist einer echten Verständigungsbereitschaft und den Willen zu einer ehrlichen kulturellen Zusammenarbeit am Zustandekommen einer neuen europäischen Gemeinschaft."
    Was Chardonne von Maurras übernommen hatte, war das Bekenntnis zum Autoritären, die Ablehnung der Französischen Revolution und ihrer Folgen, den Anti-Kommunismus und den patriotischen Kult des "Bodens", der Erde. Ferner das Beharren auf der Notwendigkeit von Hierarchie, was die Akzeptanz von Ungleichheit bedeutet, und das Führerprinzip, das einem verbreiteten französischen Hang zur charismatischen Leitfigur entspricht, oft als Cäsarismus bezeichnet: ein Chef als Bändiger anarchischer Tendenzen, Garant der Ordnung und Wahrer der Interessen der Nation.
    Trotz zahlreicher Berührungspunkte mit jüngeren Autoren der "Action française", trotz partieller Übereinstimmungen mit Maurras erscheint Chardonne als distinguiert, als einer, der Exzessives meidet; selbst sein gelegentlich bemerkbarer Antisemitismus bleibt vergleichsweise dezent.
    Fast in Religionsnähe rückt Chardonne hingegen den Nationalsozialismus. Nur durch ihn könne Europa wiederauferstehen, denn der deutsche Genius habe ihm eine ganz neue heroische Form gegeben und eine Seele eingehaucht; eine herrliche menschliche Erhebung habe sich in Deutschland ereignet, sichtbare soziale Errungenschaften seien zu bewundern, die Bändigung des vorgefundenen Chaos sei gelungen. Die Kollaboration mit diesem Land sei Kern einer Völkerverständigung.
    Auf beiden Seiten, im Kommunismus wie im Kapitalismus, sei der 'Materialismus' das Grundübel, in jeglichem 'Massenhaften' drücke es sich aus.
    Zurückgezogen stirbt Chardonne in seinem idyllischen Landhaus in der Charente im Mai 1968, während in Paris das Quartier Latin in Aufruhr ist. 50 Jahre später neigt sich die ideologische Waage, nach manchen Funden, zu Ungunsten Chardonnes. Der Vorschlag eines öffentlichen Gedenkens wird fallengelassen.
    Zu Beginn des Jahres 2018 wurde bekannt, dass der bedeutendste Pariser Verleger Gallimard ein Projekt habe zurückziehen müssen. Sein Vorhaben, die seit langem tabuisierten antisemitischen Pamphlete von Céline zu veröffentlichen, habe einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Es ging Gallimard darum, die Werkausgabe eines seiner berühmtesten Autoren zu vervollständigen. Doch die Proteste, die ihm entgegenschlugen, zwangen ihn, das Projekt auf Eis zu legen.
    Natürlich wusste Gallimard, dass vieles mit Céline Zusammenhängende in Frankreich als "sulfureux", als "schwefelhaltig" gilt. Er glaubte, die Wogen glätten zu können, indem er eine von Historikern kommentierte Ausgabe vorzulegen versprach, ähnlich der deutschen Neuausgabe von "Mein Kampf". Weder die Opponenten gaben bisher nach, noch Gallimard - er spricht von "Verschiebung". Der Ausgang ist offen.
    Infragestellen von Gedenktagen
    Geschichtsrevisionen - und das Infragestellen von Gedenktagen gehört dazu - haben dann Konjunktur, wenn Personen oder Ereignisse nicht in das aktuelle Bild einer Gesellschaftsgruppe passen. Polemisch ausgetragene Kontroversen, so ist zu vermuten, werden im geschichtsfixierten Frankreich auch künftig die Gedenktage begleiten. Widersprüchliche Selbstbilder konkurrieren miteinander.
    Der britische Historiker Eric Hobsbawm sagt: "Nationen und Staaten verlangen nach Geschichte (...) Bei diesem Bedarf geht es nicht um historische Wahrheit, sondern um die Begründung einer spezifischen Form von 'Wir'-Gemeinschaft, der Nation."
    Fast leichtfertig erscheint da ein Bonmot des französischen Historikers Pierre Gaxotte: "Die Geschichte ist eine Tapete, die der Mensch auf die Vergangenheit klebt."