Julia Stepanowa wird den Preis der Doping-Opfer-Hilfe nicht selbst entgegennehmen können, aus Sicherheitsgründen hat sie die Reise nach Berlin abgesagt. Ihren Wohnort muss sie geheim halten. Stepanowa war nahe dran, einmal auf dem Siegertreppchen zu stehen. 2011 lag ihr persönlicher Hallenrekord über 800 Meter bei 1:58:14, eine Weltklassezeit. Zustande gekommen mit Doping. Weswegen sie zwei Jahre lang, bis 2015 gesperrt wurde. Die Folgen spürt sie bis heute, auch gesundheitlich sagt sie: "Die Probleme sind eine Folge der Eisen-Injektionen, die mein Trainer mir gab. Ohne ärztliche Aufsicht oder Empfehlung. Er spritzte nicht in das Muskelgewebe, wie es hätte sein müssen, sondern dicht unter der Haut, deswegen hat sich dort eine Art Stein aus diesen Eisenpräparaten gebildet. Schlimmer als der Stein sind meine jetzt viel zu hohen Ferritin-Werte. Als ich im vorigen Jahr in Deutschland trainierte und getestet wurde, stellten die Ärzte eine zehnfache Erhöhung fest. Zu viel Ferritin kann ein Hinweis auf Krebs sein, was bei mir nicht der Fall ist. Solange ich trainiere ist bislang alles gut, aber später könnte das hohe Ferritin mein Herz und andere Organe regelrecht vergiften. Das ist eine Folge der Anwendung verbotener Präparate."
Bevor ihre Sperre 2015 endete beschlossen Julia und ihr Mann Vitali Stepanow, reinen Tisch zu machen. Sie als betroffene Athletin, er als Anti-Doping-Funktionär mochten nicht mehr zurückkehren in das russische Dopingsystem. Eine lebensgefährliche Entscheidung. "Als ich begann, die Wahrheit zu erzählen, wusste ich nicht, dass ich fliehen muss, zu Hause als Verräterin gelte. Ich dachte, dass das hilft, was ich tue. Viele Athleten haben sich über das System beklagt. Ich dachte, sie packen jetzt auch aus, damit das aufhört. Stattdessen schweigen oder lügen sie", sagt Stepanowa.
Es ist einsam geworden um die Stepanows
Zu guten Freunden meidet sie jeden Kontakt, um diese nicht zu gefährden, die meisten Kollegen wandten sich augenblicklich von ihr ab. Sie erhielt Morddrohungen. Ihr Trainer kam ungeschoren davon. Deshalb fordert Stepanowa: "Zusammen mit dem Sportler muss der Trainer disqualifiziert werden. Ich weiß bis heute nicht, woher der Trainer die Steroide hatte, die er mir verabreicht hat." Heute beherrscht Angst ihr Leben, ihre Kontaktdaten sind völlig anonymisiert, das Gespräch läuft via Internet, in den letzten anderthalb Jahren ist sie neun Mal umgezogen. Dass in ihrer Heimat ein Nachdenken über den Spitzensport eingesetzt hat, kann Julia Stepanowa nicht erkennen. Sie spricht von einer regelrechten Wegwerfmentalität: "Es geht um das Prestige, Russland muss im Sport die Nummer eins sein. Wie das geschieht ist unwichtig. Die Gesundheit der Sportler spielt keine Rolle, das Land ist groß es gibt viele Sportler. Das Schicksal der Menschen spielt keine Rolle. Wenn du nicht willst, kommt morgen ein anderer Athlet."
Nicht nur wegen der vielen Umzüge ist es einsam um die Stepanows geworden, auch Sportler meiden ihre Nähe. Sie fand keine Trainingsgruppe, lange auch keinen Betreuer. "Außerhalb Russlands ist es wie ein Fleck auf der weißen Weste. In Amerika kann ich wegen meiner Disqualifizierung keinen Trainer finden, in Russland dagegen sagt man, das ist sowieso alles nur Politik, die Sportler sind Helden." Ein völlig falsches Signal für junge Sportler, findet sie, die inzwischen Mutter ist. Julia Stepanowa wird von vielen Menschen weltweit nicht nur bewundert, sondern sogar finanziell unterstützt, denn sie hat sich für die Wahrheit entschieden und würde dies wieder tun. Eine Haltung, die deutsche Doping-Opfer-Hilfe mit der 10 000 Euro-Prämie heute ausdrücklich würdigt, sagt die Vorsitzende Ines Geipel: "Julia Stepanowa ist als aktive russische Athletin aus einem aktiven Staatsdopingsystem ausgestiegen, sie hat ihr Leben riskiert, sie hat mit Konsequenz und Mut Dokumente zusammengetragen und dieses russische aktuelle Staatsdopingsystem belegt."
Inzwischen hat Stepanowa einen Trainer. Etliche Zeitzonen von ihr entfernt, schickt er einmal pro Woche Übungspläne, sie sendet ihm die Ergebnisse. Ein einsamer Kampf gegen die Uhr, viel schwerer als im durchorganisierten Moskauer Sportbetrieb. Stepanowa sagt: "Resultate wie mit Doping werde ich kaum erbringen, aber ich wünsche mir sehr, die 800 Meter unter zwei Minuten zu laufen, obwohl viele glauben, dass das ohne Doping unmöglich ist. Und ich hoffe, dass die Athletinnen, die unter 2 min geblieben sind, das ohne Doping geschafft haben."