Wie geht es einem hochmelancholisch veranlagten Schriftsteller, wenn er sich minutiös daran erinnert, wie sich ihm - in den Nebenzimmern tobt eine Party - eine junge unbekannte Frau, fast Mädchen noch, ausgerechnet in der Hausbibliothek, spontan auf seinen Schoss setzt, ihre Brüste vorstreckt, sich an seiner Hose zu schaffen macht, sodann niederkniet und dann auf allen Vieren zum Schreibtisch vorrückt, um sich endlich seinem Drängen hinzugeben? - Es geht ihm schlecht.
Es ist eine Begegnung "Wider die Natur", wie der Titel der Erzählung lautet. Die junge Frau könnte die Tochter des Schriftstellers sein. Die märchenhafte, aber lakonisch, niemals ausschweifend, geschmäcklerisch, wenn nicht gar kühl erzählte Begegnung steht am Anfang der autobiografischen Erzählung des norwegischen Schriftstellers Tomas Espedal (geboren 1961). Er erzählt den köperbetonten Ablauf im Stile einer Chronik in allen Einzelheiten, weil es in der Begegnung mit diesem jungen Geschöpf bei der einzigen dieser Art bleibt. Mehr noch: Es ist für ihn die letzte Liebe seines Lebens. Dabei ist der Schmerzensmann noch keine fünfzig. Was die Sache noch schwerwiegender macht. Aber so ist das in der norwegischen Literatur der Gegenwart, siehe Jon Fosse, siehe Karl Ove Knausgård - die Melancholie in einem Land, in dem es den ganzen Winter lang dunkel bleibt, kann einen hier früher und mächtiger als in südlicheren Gefilden ereilen.
Für die junge Frau ist das bukolische Stelldichein an auserlesenem Ort eine Laune, ein Spiel, "ich wollte das nicht", sagt sie ihm nach dem Liebesdienst, nachdem sie bemerkt hat wie erschöpft der Mann daraus hervor ging. Für den Ich-Erzähler indes birgt die Szene ein existenzielles Schlüsselerlebnis. Es ist die alte Geschichte. Im Moment der höchsten Lust liegt der Keim größten Schmerzes. Es ist schlicht eine Pein alt zu werden. Der einzige Ausweg aus der Krise? Die Erinnerung. An die vergangenen Lieben vor allem. Von der Kindheit bis in die Jetztzeit. Von der Jugendliebe zu einem Arbeitermädchen, über die Besessenheit von einer exzentrischen Schauspielerin, mit der der Ich-Erzähler durch die halbe Welt gereist ist, mit der er ein Kind hat, eher er ihre Asche im Garten vergräbt, bis hin zu eben jener süßen Versuchung, die ihn in seinem Bibliothekszimmer übermannt.
Am Ende findet der Schmerzensmann in der Vergegenwärtigung des Vergangenen keinen Trost. Es handelt sich hier, auch wenn es nicht als solches angetreten ist, durchaus um ein Warn-Buch für ältere Männer, die ihr Ego zu bestätigen trachten, indem sie sich Hals über Kopf einer deutlich jüngeren Frau hingeben und sich falsche Hoffnungen machen.
Aber nicht allein in der Sprache der Erzählung, in der Dringlichkeit, Klarheit, wie sie den Leser zu einem intimen Zwiegespräch herausfordert, nicht in erster Linie in der verborgenen psychotherapeutischen Botschaft liegt der Reiz von "Wider die Natur". Wenn es hier einen wahren Trost gibt, dann steht er in der Bibliothek. Tomas Espedal baut neben Samuel Beckett, Marguerite Duras, Malcolm Lowry, Ovid ein literarisches Paralleluniversum und literarisches Referenzsystem auf, das in der glühenden Einverleibung des schönsten Liebesbriefwechsels in der Geschichte der Weltliteratur seinen Höhepunkt findet.
Wie Tomas Espedal sein Liebesdrama in den Liebesbriefen zwischen dem Philosophen Abaelard (1079 – 1142) und dessen Schülerin Heloïse (1095 – 1164) gespiegelt sieht, wie er aus diesem epochalen Briefwechsel aus dem 12. Jahrhundert zitiert, schafft er es, von dem eigenen geschilderten Schicksal ab- und zu einem Buch hinzulenken, das sich der Rezensent sofort nach der Lektüre von "Wider die Natur" angeeignet hat. Einen sinnlicheren und zugleich geistreicheren Austausch von Worten, Hoffnungen, Illusionen, Niederlagen, Grenzüberschreitungen zweier Liebender als in "Abelard und Heloïse" lässt sich kaum vorstellen. Wo sonst findet man Sätze wie diesen: "Unter dem Deckmantel der Unterweisung gaben wir uns ganz der Liebe hin, und unsere Beschäftigung mit Lektüre bot uns die stille Abgeschiedenheit, die unsere Liebe sich wünschte. Da wurden über dem offenen Buch mehr Worte über Liebe als über Lektüre gewechselt: Da gab es mehr Küsse als Sprüche." - Das ließe sich auch auf Tomas Espedals offen vor uns liegende Erzählung beziehen. Nach der Lektüre reden wir nicht nur über Literatur, sondern über das wirkliche Leben. Wie gut, dass es noch Küsse gibt.
Tomas Espedal: "Wider die Natur"
Matthes & Seitz, Berlin 2014, 182 Seiten, 19,90 Euro.
Matthes & Seitz, Berlin 2014, 182 Seiten, 19,90 Euro.
Abaelard und Heloïse: "Liebesbriefe"
Aus dem Lateinischen übersetzt von Wolfgang Krautz. Nachwort von Georges Duby.
Manesse Bibliothek der Weltliteratur, Zürich 2014, 247 Seiten, 19,95 Euro.
Aus dem Lateinischen übersetzt von Wolfgang Krautz. Nachwort von Georges Duby.
Manesse Bibliothek der Weltliteratur, Zürich 2014, 247 Seiten, 19,95 Euro.