Archiv

Widerspruch zum Loblied auf "OK Computer"
Der Klang des Kalküls

Ist Radioheads Album "OK Computer" wirklich ein Meisterwerk, wie gemeinhin behauptet? Musikkritiker Fabian Elsäßer meint: Die Innovationskraft der Platte wird deutlich überschätzt.

Von Fabian Elsäßer |
    Der britische Sänger und Bandleader von Radiohead, Thom Yorke
    Thom Yorkes Gesang - für Fabian Elsäßer eine Geschmacksfrage (dpa / CJ E&M/HO)
    (Gesangs-Ausschnitte)
    Bin ich eigentlich der einzige, der bei diesen Lauten nicht an den Gesang eines Genies denkt, sondern an Zahnarztbehandlungen ohne Betäubung oder einen Fall von unterlassener Erster Hilfe?
    Die Trennlinie zwischen den Radiohead-Jüngern und -Nichtverstehern verläuft genau hier: beim Gesang von Thom Yorke. Entweder man mag diese entsetzlich verkünstelte Zerdehnung offener Vokale oder nicht. Das ist Geschmackssache.
    Alles soll bedeutungsschwanger erscheinen
    Also zum Handwerk: "OK Computer" ist hübsch transparent produziert, dabei ohne viele Effekte wie Stereoverlagerungen oder ähnlichem. Und es offenbart eine ganze Menge schlauer Momente. Mal neckt ein überraschend schroffes Gitarrenriff die Ohren, mal folgen wir einem herrischen Basslauf weit hinaus auf die Planke über diesem See aus tongewordener Verzweiflung - und ehe wir uns versehen, strampeln wir darin zu einem vertrackt-verzickten Schlagzeug-Beat.
    Dies alles wiederholt sich aber so lange, bis es deutlich nach Kalkül klingt – alles an "OK Computer" soll uns bedeutungsschwanger erscheinen. Als ob noch niemand zuvor auf die Idee gekommen wäre, monotone Computerstimmen einzusetzen. Als ob nicht schon Roger Waters und Lou Reed mit ihrem "Gesang" die Grenzen der Unanhörbarkeit deutlich verschoben hätten. Als ob der Verzicht auf erkennbare Refrains und "klassische" Songstrukturen bereits der höchste Grad der Erleuchtung wäre.
    Das laute Leiden am eigenen Erfolg
    "OK Computer" ist ein interessantes Album einer Band, die ihren eigenen, unverkennbaren Sound gefunden hat. Und "Kharma Police" ist ein toller Song. Aber Meisterwerk oder Wegmarke? Das ist - im Radiohead-Kosmos wohlgemerkt - doch wohl das wesentlich radikalere "Kid A" aus dem Jahr 2000, oder?
    Da die künstlerische Qualität von Radiohead aber gefühlt als unstrittig und unantastbar gilt, sei wenigstens diese Frage erlaubt: Wie glaubwürdig ist eine Band, die so lauthals am eigenen Erfolg leidet, aber dennoch den ganzen Preisverleihungs-Zirkus mitgemacht und MTV-Videos gedreht hat und klaglos große Arenen bespielt?
    Doch halt, an meiner Tür höre ich Geräusche – oh nein, es sind aufgebrachte Radiohead-Fans! Ich glaube, sie wollen mich töten…