Denn die rasante Entwicklung in Kommunikations- und Computertechnologie, die in immer kürzeren Zeitabständen aufeinanderfolgenden Krisen, die sich potenzierenden Risiken unserer Wirtschafts- und Lebensweise lassen eine Reihe von Verdachtsmomenten aufkommen. Dass Neues in die Welt kommt, macht die Antwort zunehmend schwieriger, wie dies geschieht. Zudem: Könnte es nicht sein, dass ausgerechnet der Ursprung des Innovativen sich in völlig unberechenbaren Kategorien wie Unfall, Katastrophen und Zufall abspielt - so wie es beispielsweise das Denken Paul Virilios, Harald Welzers oder Byung-Chul Han nahelegt?
Das würde bedeuten: Die Moderne basiert darauf, eben nicht alles im Griff zu haben. In zwei aufeinanderfolgenden Sendungen der kurzen Serie "Wie kommt das Neue in die Welt?" wird ein Versuch der Würdigung dieses Ansatzes unternommen.
Produktion: DLF 2013
Zufälle und Katastrophen
Wie kommt das Neue in die Welt? (2/2)
Von Michael Reitz
Viele Menschen kennen die Geschichte eines Schiffbrüchigen, der 20 Jahre auf einer einsamen Insel leben muss: "Robinson Crusoe" von Daniel Defoe, erschienen 1719 in London. Doch dies ist nur der erste Teil des Buches. Der zweite, weniger bekannte erzählt die Geschichte Robinson Crusoes nach seiner Rettung: die eines skrupellosen Geschäftsmannes, der in den Kolonien Großbritanniens rücksichtslos zuschlägt und damit zum Prototyp des erfolgreichen Unternehmers wird. Das Bild dieses rastlosen, ständig auf der Suche nach Neuem sich herumtreibenden Homo oeconomicus setzt sich ab dem Beginn der kapitalistischen Wirtschaftsweise durch: der Projektemacher und Ideengeber, der ohne Unterlass für sein Fortkommen rackert.
Die Neuzeit ist auch die Epoche, in der der innovative Avantgardist als erstrebenswerter Charaktertypus geboren wird. Knapp 20 Jahre vor dem Roman "Robinson Crusoe" hatte Daniel Defoe einen Essay mit dem Titel "Über Projektemacherei" veröffentlicht. Er ist das wahrscheinlich erste Bewerbungsschreiben eines Innovations- oder Eventmanagers, denn Defoe schickt seine Elaborate an alle möglichen staatlichen Stellen. Die Schrift liest sich wie eine Auflistung der Möglichkeiten, durch Neues Erfolg zu haben und Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen - nicht nur persönlich, sondern auch als Nation. In seiner Einleitung sagt der Autor:
"Die Notwendigkeit, anerkanntermaßen die Mutter der Erfindungen, regt gegenwärtig die Verstandeskräfte der Menschen so lebhaft an, dass es durchaus nicht unpassend scheint, unsere Zeit zum Zweck der Unterscheidung das Zeitalter des Projektemachens zu nennen. Denn wenngleich sich die Neigung zum Erfinden schon zu Zeiten äußerer und innerer Wirren zu regen schien, so kann man mit Recht behaupten, dass bisher niemals dieser Grad des Projektemachens erreicht worden ist, zu dem wir gelangt sind."
Stellt man die beiden Bücher Daniel Defoes nebeneinander, so fällt auf, dass sie eine Grundmelodie haben: Projekte können nur dann gelingen, wenn die Katastrophe oder der Unfall möglichst großflächig ausgeschaltet werden. Das bedeutet, am Anfang der Neuerung wird das mögliche Desaster nicht nur bereits mitgedacht, sondern es kann sich zum Anlass für weiteres Fortschreiten entwickeln.
So scheitert beispielsweise Robinson Crusoe nicht gänzlich, vielmehr macht er eine zwei Jahrzehnte währende Pause auf seiner Entdeckungsreise zu neuen Kontinenten. Aus der verunfallten Masse des Schiffes besorgt er sich das Nötigste und gründet auf der Insel sein erstes Unternehmen - gerade weil er eine Katastrophe erlebt hat. Fast 300 Jahre später findet sich in der französischen Philosophie ein Gedanke, der die Notwendigkeit des unvorhergesehenen Bruchs in veränderter Form aufgreift.
"Als Schöpfung und Fall ist der Unfall ein unbewusstes Werk, eine Erfindung im Sinne einer Entblößung dessen, was verborgen war - und darauf wartete, sich vor aller Augen zu ereignen. Das Segel- oder Dampfschiff zu erfinden, bedeutet, den Schiffbruch zu erfinden. Die Eisenbahn zu erfinden, bedeutet, das Eisenbahnunglück des Entgleisens zu erfinden. Das private Automobil zu erfinden, bedeutet die Produktion der Massenkarambolage auf der Autobahn."
Der Philosoph Paul Virilio behauptet 2005 in seinem Essay "Der eigentliche Unfall", dass die Innovationsdynamik der Moderne mit ihrer Versessenheit auf das immer Neue gleichzeitig gefährliche Kuckuckseier ausbrütet. Mit der technischen Erfindung wird deren Nichtfunktionieren im Unfall nicht nur gleich mitgeliefert, sondern es ist geradezu struktureller Bestandteil für Sämtliches, was als Neues bezeichnet wird: Die Welt ist alles, was der Unfall ist.
Paul Virilio ignoriert damit die Lieblingsfrage der Optimierungsgesellschaften nach den Entstehungsmöglichkeiten des Neuen, indem er nunmehr nach dessen Gestalt und Erscheinung fragt. Er tut dies ausdrücklich nicht mit kulturpessimistischem oder maschinenstürmerischem Hintergrund, sondern er untersucht die Neuzustellungen aus dem technologischen Versandhaus anhand ihrer Sollbruchstellen, Beipackzettel und Geburtsfehler. Unfall, Katastrophe und Desaster sind dabei keine Metaphern, sondern "eigentlich" - im Sinne von wesenhaft, tatsächlich und ursprünglich.
Geht man mit Paul Virilios Argumentation weiter, so lässt sich eine These formulieren: Wenn Unfälle nicht die Ausnahme, sondern Regel und Normalzustand sind, ist jedes Projekt der technologischen Kultur per se ein unvollständiges Konstrukt. Aufgrund dieser Mangelhaftigkeit ergibt sich der Zwang zum permanenten Nachbessern bis hin zur völligen Neuschöpfung.
Beispiele hierfür wären die bei jedem Computerprogramm zwingend notwendigen Updates, ohne die das System wesentlich langsamer laufen würde; die regelmäßige Aktualisierung von Virenscannern; die Nachbesserung von ICE-Zügen oder die Rückrufaktionen ganzer Fabrikationschargen bei Autos. Hinzu kommt, was im mehr oder weniger verborgenen Produktmanagement "geplante Obsoleszenz" heißt: Ein Artikel wird von vornherein so hergestellt, dass er nach der Garantiezeit kaputt geht. Die angeborene Funktionsstörung ist somit immanentes Movens des Neuen.
Nimmt man den Untergang der Titanic im Jahr 1912 als Ausgangspunkt, so sind seitdem statistisch gesehen wesentlich mehr Menschen technikbedingten Unfällen zum Opfer gefallen als Naturkatastrophen. Einher geht mit diesem signifikanten Anstieg eine auffallende mentalitätsgeschichtliche Veränderung: Menschen gewöhnen sich nicht nur an die Statistiken über Unglücksfälle, sondern auch an die Häufigkeit der Schadensfälle selbst. Paul Virilio macht hierfür ein Phänomen verantwortlich, das er "rasenden Stillstand" nennt: Angesichts der ungeheuren und nicht mehr kontrollierbaren Beschleunigungstendenzen in der jüngsten Neuzeit optimiere sich nicht etwa gleichzeitig die Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfähigkeit des Neuen, sondern ganze Kollektive starrten stattdessen paralysiert auf alles, was zum Ereignis erklärt wird.
"Wenn das Leben früher noch ein Theater, eine Bühne mit auswechselbaren Kulissen war, dann ist das alltägliche Leben heute ein purer Zufall geworden, ein permanenter Unfall mit seinen vielfältigen Wendungen, und dieses Spektakel springt uns ununterbrochen aus den Bildschirmen entgegen. Tatsächlich ist der Unfall plötzlich bewohnbar geworden."
Diese Bewohnbarkeit bedeutet in erster Linie ein Sich-Abfinden mit den Gegebenheiten. Mit den Unwägbarkeiten des Lebens, die kalkuliert durch die Segnungen aus Technik, Wissenschaft und Forschung gemildert und handhabbar gemacht werden sollen - so lautet jedenfalls bis heute das Versprechen jeglicher Innovation. Doch das Neue ist nicht mehr das, was es mal war: Garantie der Optimierung oder finale Lösung von zum Teil jahrhundertealten Problemen wie Seuchen oder Heuschreckenplagen. Es ist eher etwas, das selbst ständig verbessert werden muss, um die Illusion des geschmierten Laufens aufrechtzuerhalten.
Gäbe es den inhärenten Faktor Unfall nicht, hätte jedes System, gleich ob technischer, kultureller oder gesellschaftlicher Bestimmungsform, keine Chance überhaupt als neu anerkannt zu werden. Bei der US-Raumfahrtbehörde NASA war es lange Zeit üblich, sich bei einer Weltraummission nicht der aktuellsten und frisch erfundenen Software anzuvertrauen, sondern einer leicht veralteten Version, deren Macken schon bekannt und damit erwäg- und behebbar waren. Insofern ist es nur konsequent, dass der Beinahe-Unfall von Apollo Dreizehn von den Technikern als "erfolgreiches Scheitern" bezeichnet wurde: Das latente und immer geahnte Unglück war zum manifesten geworden.
In gesellschaftlichen Prozessen spielt sich die Reaktion auf Störungen jedoch vollkommen anders ab als unter computergestützten Laborbedingungen. Das allgegenwärtige Überforderungsinventar besteht aus einem nervös machenden Belagerungsfieber, unter dem die Eingeschlossenen der Innovationsfestung Alltag leiden. Wir müssten eigentlich mit vollkommenen und nie gesehenen Maßnahmen auf alles Mögliche reagieren, finden uns aber ab, richten uns ein, machen bewohnbar: den Naturkollaps, das immer schneller werdende Verschwinden der Bürgerrechte, den von Steuergeldern unter Feuer gehaltenen Dauerbrenner Finanzkrise. Neues könnte geschehen, tut es aber nicht, und das mit allem nötigen Können.
Hinzu kommt eine Autorität der öffentlichen Zurschaustellung von Gefühlen, die hartnäckig mit Meinungsfreiheit und Demokratie verwechselt wird, und die jeden politischen oder kulturellen Diskurs durch die Skandalisierung von Banalitäten torpediert. Ergänzt durch einen alarmistischen Konsum, der jeglichen Versorgungszweck verloren hat.
In diesem Szenario reagieren die Zeitgenossen und ihre staatliche Ordnung wie ein unvorsichtiges Kind, das einen Spielkameraden auf der anderen Seite der belebten Straße sieht und hinüberläuft: Die Aufmerksamkeit geht auf das nächste neue Objekt und verliert das Gesamte der Umwelt gefährlich aus dem Blick. Um den solcherart zersplitterten, beschädigten und fragmentierten Menschen auf der theoretischen Ebene zumindest zu beschreiben, ist das nötig, was Paul Virilio die "Offenlegung des Unfalls der Zeit" nennt.
"Mit Vorfällen und Unfällen, mit Unglücken und Naturkatastrophen wird das alltägliche Leben zum Kaleidoskop, in dem wir ständig dem ausgesetzt sind, was eintritt, was unerwartet geschieht. Man muss also lernen, im zerbrochenen Spiegel das zu erkennen, was geschieht, und immer häufiger, aber vor allem immer schneller, zu ungelegener Zeit, ja sogar gleichzeitig geschieht."
Zugleich Ideal und Schreckensvision unserer Epoche scheint die Zeitrafferreise zu sein: Mit fortwährend wachsender Geschwindigkeit rast man an den Dingen vorbei, bestaunt das stichflammenartig entstehende Neue im Sekundentakt und kann es doch niemals fassen. Der Zapper vor dem Fernseher, der in 80 Sendern und zwei Minuten von Radio Peking bis CNN um die Welt fliegt; der ziel- und endlos Surfende, seinen Gebrauchswert als digitales Kulturwesen durch heruntergeladene Gigabytes bestimmend - sie alle sehen Erstmaliges wie von Geisterhand in die Welt kommend. Doch wie König Midas, dem alles, was er anfasste, zu Gold wurde, also auch seine Kost, so hat dieses Neue nicht den geringsten Nährwert. Es ist in der Welt, aber eine sättigende Aneignung ist nicht möglich.
Um im kulinarischen Bild zu bleiben: Die Novitäten-Häppchen kommen heute auf einem Teller daher, der sich Information nennt. Nur das auf ihm Suppe, Vorspeise, Hauptgang und Dessert nur mittels ausgefeilter Kulturtechniken voneinander zu unterscheiden sind. So ist heute bei einem Zwischenfall - beispielsweise einem Flugzeugabsturz oder dem plötzlichen Ableben eines Politikers - nicht mehr sofort zweifelsfrei zu bestimmen, ob es sich um einen Unfall, menschliches Versagen oder ein Attentat handelt.
In der politischen Sphäre hat das zuweilen eigenartige, makabre und groteske Folgen: Wer am schnellsten Neuheiten erfährt, kann und muss daraus fast ebenso schnell konkrete Handlungen ableiten und ihnen folgen. Der Imperativ der Beschleunigung in Tateinheit mit dem Einbruch des Unvorhersehbaren lässt ihm keine Zeit zur Besinnung. Wer sich diesem Diktat nicht unterwirft oder damit nicht umgehen kann, wird schleunigst bestraft. So beispielsweise die Regierung Aznar nach den Al-Qaida-Anschlägen in Madrid vom 11. März 2004: Weil sie keine Neuigkeiten wusste, erfand sie welche und wurde abgewählt.
Der eingebaute System- und Informationsunfall bringt jedoch nicht nur nervös agierende Regierungen in Verlegenheit. Information Fatigue Syndrom -Informationsmüdigkeit nennt sich ein neues Krankheitsbild. Dieser psychische Defekt entsteht durch Überfütterung mit Information. Den Patienten gehen ihre analytischen Fähigkeiten verloren, sie können sich nicht mehr konzentrieren und wollen keine Verantwortung mehr übernehmen. Ursprünglich waren von diesem Syndrom nur Menschen betroffen, die berufsmäßig riesige Informationseinheiten verstoffwechseln mussten - EDV-Berater oder Mitarbeiter von Online-Redaktionen. Mittlerweile kann es aber jeden treffen, es sei denn, er verfügt weder über ein Mobiltelefon noch über einen Internetzugang.
Das Neue reibt auf. Geradezu prophetisch mutet da der erste Satz an, der jemals durch ein Informationsmedium - das Telefon - gesprochen wurde und keine semantische Aussage oder Botschaft enthielt: "Das Pferd frisst keinen Gurkensalat". Und der britische Dichter T. S. Eliot fragte schon 1934 besorgt an:
"Wo ist das Wissen, das uns durch die Information verloren ging?"
Was diesen unkontrollierten Stromumlauf von Kapital und Information anbelangt sprachen die französischen Denker Gilles Deleuze und Felix Guattari von "Wunschmaschinen" - eine Mischung aus Technik und Psychologie, die nach ihrer Auffassung am Beginn der Epoche des Konsumkapitalismus - und in seiner Folge des Informationszeitalters - steht. Wie keine andere Wirtschaftsform hatte er es verstanden, Wünsche nicht nur zu wecken, sondern auch die ständige Produktion neuer Begehrlichkeiten sicherzustellen.
Vergleichen kann man das mit einer Art James-Bond-Logik: Zu Beginn des Films bekommt der Agent seine Waffen ausgehändigt - eine Uhr, die schießt, oder einen Kugelschreiber mit Fingerabdruckscanner. Der Film ist natürlich so konstruiert, dass 007 diese Geräte braucht. Ähnlich verhält es sich mit der modernen Konsumgesellschaft: Wir kaufen uns Sachen, von denen man uns erst erklären muss, wozu sie zu gebrauchen sind. Für bestimmte neue Maschinen, digitale Technologien braucht man die entsprechende Zurichtung des Nutzers. Von daher müsste man die Frage, wie Neues in die Welt kommt, umformulieren: Wie sind Welt und Mensch mit dem bereits existierenden Neuen kompatibel?
Gerade in Bezug auf den computerisierten Börsenhandel fällt nämlich eine Differenzierung zwischen Henne und Ei zunehmend schwerer. Wer sich dort nach wem richtet, was als Erstes neu war und anderes nach sich zog, was Ursache, was Wirkung ist, entzieht sich seit ungefähr einem Jahrzehnt der exakten analytischen Beschreibung. Hier ist die Geschwindigkeit dermaßen hoch, dass die Theoriegebilde nicht mehr hinterherkommen.
Was bleibt, ist eine Beschreibung, wie es zu diesem merkwürdigen Neuen kommen konnte und immer noch kommt, Voraussagen ausgeschlossen. Der Unfall als in die Matrix der Moderne eingewebte Zeitbombe wird zu einem Sprengsatz, der vielleicht schon längst hochgegangen ist. In seiner 2013 erschienenen Untersuchung "Ego - Das Spiel des Lebens" hat Frank Schirrmacher eine Zeitlichkeit ausgemacht, vor der alle bisherigen ontologischen Beschreibungsmuster vorläufig kapitulieren müssen. Und von der lediglich bekannt ist, dass sie das Desaster potenziell generieren könnte.
"Finanzmarkttransaktionen nähern sich mittlerweile der Lichtgeschwindigkeit an. Trader installieren ihre Server direkt neben den Computern der New Yorker Börse, um Millisekunden zu schinden. Ein eigens verlegtes transatlantisches Kabel wird die Übermittlungszeit von Daten zwischen der Wall Street und den Londoner Tradern auf 740 Nanosekunden reduzieren. Übersetzt in unser normales Zeitgefühl besteht der Unterschied darin, ob man eine Entscheidung in einer Minute oder in knapp zehn Wochen treffen muss. Die Falle schnappt millionenfach schneller zu, als irgendein menschliches Wesen auch nur imstande wäre zu begreifen, dass es in der Falle sitzt."
Die Frage "Wann kommt Neues in die Welt" lässt sich bezogen auf den Wertpapierhandel im Jahr 2013 ziemlich präzise beantworten: Alle 22 Sekunden. Solange dauert es nämlich, bis eine Aktie ihren Besitzer wechselt - in den 1950ern waren es noch vier Jahre.
Wer die Frage beantworten will, wie Neues in die Welt kommt, kann das schwer, ohne die bereits in der Frage liegende positivistische Pointe zu berücksichtigen. Denn es hat sich durchgesetzt, dass Auftauchen des Neuen mit dem des Guten gleichzusetzen. Es kommt jedoch darauf an, die dahinterliegende Aufforderung zumindest mitzuhören, um diesem Trugschluss nicht aufzusitzen: Wie müsste das Neue beschaffen sein, damit es der größtmöglichen Anzahl den maximalen Nutzen bringt?
Denn nirgendwo sonst ist das Blendwerk des Faktischen so mächtig wie in der scheinbar unabwendbaren Gleichsetzung von neu, positiv und funktionierend. Wenn ein Kreuzworträtsel bis auf das letzte Kästchen präzise gelöst ist, kann es trotzdem komplett falsch sein. Das ist neu, aber weder gutartig noch störungsfrei laufend. Die Hypermoderne löst permanent auf diese Weise ihre Probleme und aufgrund ihres maximierten Tempos kommen die Korrekturen notorisch zu spät. Bereits mit der nächsten kniffligen Aufgabe beschäftigt, stellt sie fest, dass alles nur aus Zufall gepasst hat.
Durch desaströse, zufällige und unfallartige Situationen wird das Neue zur ergreifbaren Möglichkeit. Doch das auch zugegriffen wird, steht dahin. Von Albert Einstein stammt die Behauptung, dass Ereignisse nicht eintreten, sondern wir treffen sie im Vorübergehen an, finden sie vor. Behilflich ist uns dabei der Zwillingsbruder des Unfalls, die Zufälligkeit - nicht von ungefähr werden im Englischen beide Begriffe mit dem Wort accident benannt.
Die Wissenschaftsgeschichte erzählt in diesem Zusammenhang eine Reihe illustrer Episoden: Isaac Newton lag unter einem Baum, sah einen Apfel herunterfallen und entwickelte daraus seine Fallgesetze. Der britische Forscher Alex Fleming ließ in seinem Labor unbeabsichtigt eine Bakterienkultur verschimmeln. Dort, wo die Fäulnispilze wucherten, waren die Bakterien zerstört. Fleming entwickelte daraufhin ein Medikament gegen krankheitserregende Keime, das auf Schimmelkulturen basierte. Mit dem Penicillin begann ein Siegeszug gegen bakterielle Infektionen. Albert Hofmann, Chemiker beim Schweizer Sandoz-Konzern, kreierte durch Zufall das Halluzinogen LSD, indem er mit Mutterkorn-Alkaloiden experimentierte.
Doch was zufällt, muss auch aufgehoben werden, damit es nicht mehr am Boden, sondern auf der Hand liegt. Ob das gelingt, darüber entscheiden soziale, politische und kulturelle Orientierungen und Determinanten. So hat Jared Diamond in seinem Buch "Kollaps" beispielsweise eindrucksvoll nachweisen können, dass die Wikingerkultur in Grönland deshalb zusammenbrach, weil sie auf Viehzucht basierte, die das ökologische Gefüge zerstörte. Obwohl die Alternative, auf die Ernährung mit Fisch auszuweichen, buchstäblich direkt vor der Haustür lag.
Darüber hinaus müssen die Bedingungen für einen nötigen Umbau nicht einmal unbedingt in materieller und damit manifester Form vorliegen. Die Phänomenologie Edmund Husserls betont in diesem Zusammenhang die Fähigkeit des Menschen zur "Vorerinnerung". Es ist das, was in der Spieltheorie backcasting genannt wird: Handlungsoptionen und Szenarien werden so gestaltet, dass sie einen Zustand, der in der Zukunft vergangen sein wird, in die Planung von Projekten miteinbeziehen.
Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, bereits jetzt den Weg zu rekonstruieren, der zu dem imaginierten Ziel geführt hat. Der Sozialpsychologe Harald Welzer verweist in seiner Untersuchung "Selbstdenken" auf diese Methode als ein probates Mittel, Neues gleichzeitig aus Gegenwart und Zukunft zu entwickeln. Doch der springende Punkt ist nicht die partielle Veränderung von Einzelteilen im fehlerhaften Konstruktionsplan ökologisch-politischer Gebilde.
"Was die Ökobewegung in den vergangenen Jahrzehnten gemacht hat, war richtig, nur was sie nicht gemacht hat, war falsch. Sie hat sich auf die Kritik der Auswüchse eines Wirtschaftssystems konzentriert, dessen Problematik nicht in seinen Fehlern, sondern in seinem Funktionieren besteht. Nicht seine Dysfunktionalitäten und 'Übertreibungen' zerstören die künftigen Überlebensgrundlagen, sondern sein ganz normaler Erfolg. Und dieser Erfolg erzeugt, dass es unmöglich erscheint, unter Stress die Überlebensstrategie zu wechseln. Im Gegenteil erzeugt wachsender Stress eine immer hektischere Suche nach Lösungen in gewohnter Richtung."
Ergänzend zu Harald Welzers Analyse lässt sich folgern, dass die Gefährlichkeit von Systemen - gemeint sind hier Ökologie und Ökonomie - nicht nur aus ihrem Funktionieren kommen. Sondern auch aus ihrer Tendenz, andere Systeme mit hineinzuziehen. Der grundsätzlich positiv konnotierte Begriff des Netzwerks steht hier an zentraler Stelle. Wenn das Subsystem Wirtschaft an seinen Stellschrauben dreht - Umschuldungen, Neukredite - müssen andere Subsysteme reagieren. Das wiederum erzeugt Zufallsanfälligkeiten.
Philosophen wie Byung-Chul Han gehen so weit, hier eine völlige Annullierung des autonomen Subjekts zu konstatieren. Ausgehend von Martin Heideggers Existenzialontologie behauptet er, dass die Entwicklung des Neuen den tätigen Menschen voraussetzt, der das Zuhandene, das Zeug im buchstäblichen Sinn handhabt. Doch der moderne Mensch, so Byung-Chul Han, nimmt nicht mehr in Angriff, handelt kaum noch, sondern er fingert nurmehr. Der deutsch-koreanische Denker dreht die affirmativen Begriffe "Konzept" und "Neues" grundsätzlich, indem er die digitale Vernetzung als nicht wahrgenommenen Tod des Subjekts bezeichnet. Die digitale Kultur, Paradigma der sich selbst erzeugenden Erneuerung, habe den Menschen zerstückelt und zum Projekt herunterdestilliert.
"Die Entwicklung des Subjekts zum Projekt war gewiss bereits vor dem Einzug des digitalen Mediums im Gange. Aber allgemein gilt die Formel: Die jeweilige Seins- oder Lebensform drängt in ihren kritischen Phasen auf Ausdrucksweisen, die in einem neuen Medium ihre volle Erfüllung erfahren. Es gibt eine mediale Abhängigkeit der Lebensform. Das heißt, erst das digitale Medium vollendet den Prozess, innerhalb dessen sich das Subjekt dem Projekt nähert. Das Digitale ist ein Projektmedium."
Weiter gedacht bedeuten Byung-Chul Hans Theoreme, dass das Neue nicht aus Unfällen und Katastrophen entsteht, sondern sie erst generiert. Dies bezieht sich in erster Linie auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen und Veränderungen in der Lebenswelt. Neu ist in der Tat, dass der klassische Überwachungsstaat im Aussterben begriffen ist. An seine Stelle treten jedoch die Überwachungsmärkte, die Tag für Tag durch den internationalen und unkontrollierbaren Handel mit Neuem die Erfolge der politischen Aufklärung ad absurdum führen.
Desillusionierend in Bezug auf die Affenliebe zur Innovation wirkt auch die Tatsache, dass Computerprogramme unsere Vorlieben nicht abbilden und bedienen, sondern sie durch Navigations- und Vorlieben-Systeme erst erzeugen. Auch geht es nicht mehr darum, Informationen zu verstehen, sondern sie weiterzuleiten. Folgt man Byung-Chul Han, sind mit der Herrschaft des Digitalismus nicht die souveränen User einer Technik, sondern der Unfall selbst an der Macht.
Paradoxerweise entsteht dadurch auch immer wieder Neues, doch das computerisierte Denken erzeugt keine Novitäten im Sinne von Singulärem, Nicht-Wiederholbaren. In der Gesellschaft, so Byung-Chul Han, herrschen nur unterschiedliche Zustände des Gleichen. In seinem Essay "Im Schwarm" heißt es dazu:
"Dieser Messianismus der Vernetzung hat sich nicht bewahrheitet. Die digitale Kommunikation lässt die Gemeinschaft, das Wir, vielmehr stark erodieren. Sie zerstört den öffentlichen Raum und verschärft die Vereinzelung des Menschen. Nicht die 'Nächstenliebe', sondern der Narzissmus beherrscht die digitale Kommunikation."
Den grönländischen Wikingern stand ihr eigenes kulturelles Modell im Weg. Ende des 14. Jahrhunderts mussten sie das kahl gefressene Grönland verlassen.
Das befreit von der Illusion, Katastrophen und Unfälle würden automatisch Neues erzeugen. Würde das stimmen, müssten wir bei den alarmierenden Zahlen und Werten, die uns bezüglich der Klimakatastrophe vorliegen, mit annähernd geometrischer Rasanz lernen. Wenn die Entwicklung des kulturellen Modells der Industriegesellschaften in den nächsten zwei Dekaden keinen grundlegenden Wandel erlebt, ist einiges zu befürchten. Zum Beispiel, dass sich in 600 Jahren Anthropologen darüber Gedanken machen, wie ausgerechnet eine Kulturformation, die sich wie keine andere über ihren innovativen Aktionismus definierte, so scheitern konnte.
Das Neue kommt nicht durch immer wieder veränderte und reaktive Problemlösungsstrategien in die Welt. Und auch nicht durch das bloße Vorhandensein von Mannigfaltigkeit oder kulturellen und gesellschaftlichen Farbenreichtums. Es entsteht vielmehr durch eine kreative Veränderung des Gemisches aus Fragen und Antworten. Denn die Moderne kann zu allem Auskunft geben und ist nie um eine Replik verlegen, sie ist versessen auf knifflige Fragestellungen. Der französische Dichter und Philosoph Paul Valéry bietet an dieser Stelle eine alternative Perspektive an. 1935 notierte er in seinen "Cahiers":
"In der Vergangenheit hat man als tatsächliche Neuheiten fast nur Lösungen für oder Antworten auf sehr alte, wenn nicht sogar uralte Fragen oder Probleme gefunden. Doch unsere Neuheit besteht in den nie dagewesenen Fragen selbst und keineswegs in den Lösungen, in den Aussagen und nicht in den Antworten."