" Weibliche Trägerin der Handlung in der ersten Abteilung ist eine Frau von achtundvierzig Jahren, Deutsche; sie ist 1,71 groß, wiegt 68,8 kg (in Hauskleidung), liegt also nur etwa 300-400 Gramm unter dem Idealgewicht; sie hat zwischen Dunkelblau und Schwarz changierende Augen, leicht ergrautes, sehr dichtes blondes Haar, das lose herabhängt; glatt, helmartig umgibt es ihren Kopf. Die Frau heißt Leni Pfeiffer, ist eine geborene Gruyten, sie hat zweiunddreißig Jahre lang, mit Unterbrechungen versteht sich, jenem merkwürdigen Prozess unterlegen, den man den Arbeitsprozess nennt: fünf Jahre lang als ungelernte Hilfskraft im Büro ihres Vaters, siebenundzwanzig Jahre als ungelernte Gärtnereiarbeiterin. Da sie ein erhebliches immobiles Vermögen, ein solides Mietshaus in der Neustadt, das heute gut und gerne vierhunderttausend Mark Werte wäre, unter inflationistischen Umständen leichtfertig weggegeben hat, ist sie ziemlich mittellos, seitdem sie ihre Arbeit, unbegründet und ohne krank oder alt genug zu sein, aufgegeben hat. Da sie im Jahre 1941 einmal drei Tage lang mit einem Berufsunteroffizier der deutschen Wehrmacht verheiratet war, bezieht sie eine Kriegerwitwenrente, deren Aufbesserung durch eine Sozialrente noch aussteht. Man kann wohl sagen, dass es Leni Pfeiffer - nicht nur in finanzieller Hinsicht - dreckig geht, besonders seit ihr geliebter Sohn im Gefängnis sitzt. "
So lernen wir sie kennen: die sonderbare Dame im Zentrum eines tiefgestaffelten Gruppenbildes. So frontal, so überblickshaft, so fasslich werden wir ihr nicht mehr wieder begegnen. Auf den nächsten vierhundert Seiten wird uns ein Verfasser, der sich stets abgekürzt als "Verf." ins Gruppenbild einzeichnet, mit Einzelheiten ihres Lebens in Form von Zeugenaussagen und Rechercheergebnissen beliefern. Und so entsteht nach und nach um die Gestalt der Leni Pfeiffer herum ein verblüffendes Panorama Deutschlands im 20. Jahrhundert.
Je mehr wir über Leni hören, umso mehr überrascht sie uns und umso mehr verfallen wir ihr. Am Ende des Romans steht keine gewonnene Erkenntnis - dass wir jetzt endlich das Wesensgeheimnis der Leni Pfeiffer begriffen hätten - wir sind von ihr vielmehr ergriffen worden. Als handele es sich um eine übernatürliche Erscheinung. Da mag sich der Verf. noch so sehr bemühen, die Dokumente zum Sprechen zu bringen und die Fakten säuberlich zu ordnen: Leni fügt sich keiner Deutung. Und das Unfassbare greift auf die Umwelt über: In Leni Pfeiffers Umgebung hat die Plausibilität der Welt einen schweren Stand.
" Leni ist schweigsam und verschwiegen - und da hier nun einmal zwei nichtkörperliche Eigenschaften aufgezählt werden, seien zwei weitere hinzugefügt: Leni ist nicht verbittert, und sie ist reuelos, sie bereut nicht einmal, dass sie den Tod ihres ersten Mannes nie betrauert hat; (...) sie weiß wahrscheinlich einfach nicht, was Reue ist. "
Renate Matthei hat vor vielen Jahren den Begriff der "subversiven Madonna" geprägt. Tatsächlich erscheint Leni die Madonna gelegentlich - und zwar auf der Mattscheibe ihres Fernsehers nach Sendeschluss. Was sie nicht sonderlich erstaunt, denn sie hat nichts gegen Wunder. Sie ist in gewisser Weise selbst eines. Es bleibt einer ausgestiegenen Nonne überlassen, diese Erscheinung rational zu entzaubern. Es ist Lenis Spiegelbild, das ihr da selbst erscheint. Und so wie sie sich selbst nicht erkennt, erkennt auch der Leser sie nicht.
" Da nun dem Verf. (...) über Leni nicht viel mehr Material vorliegt als solches, das höchstens folgende Zusammenfassung erlaubt: vielleicht ein wenig beschränkt, Mischung aus romantisch, sinnlich, materialistisch, ein bisschen Kleistlektüre, Klavierspiel, eine dilettantische, wenn auch tiefgreifende oder -sitzende Kenntnis gewisser Sekretionsvorgänge; nimmt man sie als (durch Ehrhardts Schicksal) verhinderte Liebhaberin, als missglückte Witwe, zu dreiviertel Waisenkind) (Mutter tot, Vater im Gefängnis); mag man sie für halb- oder gar krass ungebildet halten - so erklärt doch keine dieser fraglichen Eigenschaften und nicht deren Komposition die Selbstverständlichkeiten ihres Handelns (...). "
Man könnte sagen: Leni ist sonderbar, betörend sonderbar. Man könnte sogar sagen: Sie ist jemand, der eigentlich nicht geht, jemand, den es nicht geben kann. Aber wenn man Leni mit den Augen des "Verf." betrachtet, das heißt im Zustande der Betörung, dann geschieht im Verlauf des Romans eine wunderbare Transsubstantiation, eine Verwandlung des Realen: Am Ende erscheint es uns sehr viel einleuchtender, dass die graue Eminenz des Realen einen Sprung in der Schüssel hat, ja, dass es diese Realität eigentlich gar nicht geben kann. Wenn man die Geschichte aus Lenis Perspektive betrachtet, dann verliert der Lauf der Dinge jede Notwendigkeit, den Rest von Sinn und Anstand sowieso. Das ist vielleicht die subversivste Tat der subversiven Madonna: den Mächten aller Art den Dienst zu verweigern.
Eines von Lenis Betriebsgeheimnissen besteht von Anfang an darin, dass sie die Kataster des Realen schlicht und einfach ignoriert. Aus Gründen, die wir nicht kennen, schenkt Leni den Imperativen des Realismus kein Gehör. Ihr Leben findet irgendwie außerhalb der riesigen Zweck-Mittel-Maschine der Welt statt. Tief in ihr findet eine eigensinnige Evidenz statt. Mehr kann man beim besten Willen nicht über die Gründe ihrer Handlungen sagen. Und so erklärt sich vielleicht ihr Hang zum Unwahrscheinlichen und auch Sorglosen. Etwa wenn sie sich in einen sowjetischen Zwangsarbeiter verliebt. Mit Boris zusammen flicht sie Kränze in einer Kölner Friedhofsgärtner für die endlos vielen Toten in jenen letzten beiden Kriegsjahren. In einer aufgelassenen Grabkammer, dem sogenannten "Sowjetpardies in den Grüften" zeugen die beiden während der vielen Bombenangriffe auch einen Sohn. Auf diese Sorte Liebe stand immerhin die Todesstrafe.
Wie überhaupt Leni Pfeiffer die Ökonomie der Welt gewaltig durcheinander bringt - und die Ökonomen erst Recht. Hier ein Ausschnitt gelesen von Heinrich Böll:
" Die Moderne schwärmt gerne vom Individualismus und produziert dennoch am liebsten Homunculi von der Stange. Vor kaum etwas hat der moderne Mensch mehr Angst, als die Leine der Codierungen zu kappen. Doch Individuum ist derjenige, der sich nicht als Fall einer Regel verhält, sondern der eher von der Regel abweicht Der Einzelne heißt im klassischen Griechischen: Idiotos. Und das Idiotische als Lebensform ist sozusagen Lenis Leitfaden. Das Idiotische ist die seltsame Begabung, die Leni zuteil wurde, ihr Weltbegegnungskompass. Und im Reich des Idiotischen ist wenig gewiss - nur das eine: Die Agenturen und Apparate des Realen reagieren darauf wütend allergisch. "
"Gruppenbild mit Dame" erschien 1971 erstmals. Und erst Recht im Abstand der Jahre darf man sagen: es handelt sich um ein Meisterwerk erzählerischer Weisheit. Einerseits bezieht der Roman Position zu den Jahren seiner Entstehung, andererseits erzählt er ein Weltbild, das mehr denn je Gültigkeit hat.
Als Böll im Jahre 1970 mit der Niederschrift begann, befand sich die Bundesrepublik in einem enormen Umbruch. Etwas vereinfacht gesagt könnte man sagen: die 60er Jahre waren geprägt von eher existentiellen Revolten, die sich gegen die unterschiedlichsten Zwänge wehrten. Zweifelsohne stand Heinrich Böll diesen Formen des Ungehorsams sehr nahe. Die Erfahrungen dieser Rebellionen führten jedoch zu der Einsicht, dass man sein Leben gewissermaßen nicht individuell reparieren kann. Man muss vielmehr das System ändern, den Lauf der Geschichte umbiegen. Und so sahen sich die so genannten 68er um 1970 tief in eine geschichtsphilosophische Haltung verwickelt. Diese Geschichtsphilosophie besagte so ungefähr: Morgen, wenn alles besser ist, wenn die Menschen über ihre Verhältnisse selbst entscheiden können, dann erst stellt sich die Frage nach dem wahren Menschen. Nichts könnte diese Haltung besser illustrieren als die berühmte Sentenz von Theodor W. Adorno: "Es gibt kein wahres Leben im Falschen". Und genau gegen diese Haltung schickt Heinrich Böll seine Leni ins Gefecht. Denn dieser naiven Rebellin ohne Programm liegt nichts ferner als das Abenteuer des Menschseins auf die Zeiten postrevolutionärer Paradiese zu verschieben. "Paradies now" - inklusive aller Unkosten.
Bekanntlich sind uns heute Visionen aller Art völlig aus dem Blick geraten und trotzdem leuchtet Bölls Heldin im Dunkel der pragmatischen Orientierungslosigkeit, die sich weitgehend auf Anpassung verlässt. Man muss kein Programm haben, um den Zwängen des Realismus, den Verfügungen des Systems zu widerstehen. Altmodisch gesagt: es reicht Charakter und die Lust ein Mensch zu sein. Und so endet dieser Roman auch als leicht märchenhafte Utopie - mitten in einem herrlich unaufgeräumten Paradies. Und in diesem Schlussbild begegnet der Verf. erstmals leibhaftig dem heiklen Gegenstand seiner Portraitkunst: Leni Pfeiffer - im Kreis ihrer Freunde, geschmiegt an ihren neuen Ehemann, einen Türken:
" Bemerkt der Leser, dass hier massenhaft Happy-Ends stattfinden? Händchen gehalten, Bünde geschlossen, alte Freundschaften erneuert werden, während andere durstig und hungrig auf der Strecke bleiben? Dass ein Türke, der aussieht wie ein Bauer aus der Rhön oder der Zentraleifel, die Braut heimführt? Ein Mensch, der bereits eine Frau und vier Kinder sitzen hat und auf Grund polygamer Rechte, von denen er weiß, die er aber bisher nicht hat wahrnehmen können, nicht einmal die Andeutung einer Spur von schlechtem Gewissen dabei entwickelt, möglicherweise irgendeiner Suleika offen mitgeteilt hat, wie die Dinge stehen? Ein Mann, der verglichen mit Bogakov und dem Verf. geradezu aufreizend sauber wirkt, geschrubbt geradezu: mit Bügelfalte, Krawatte; dem ein gestärktes Hemd geradezu Wonne bereitet, weil es für ihn zur Feierlichkeit des Anlasses gehört? Der immer dasitzt, als habe der fiktive Fotograf in Künstlerhut und mit Künstlerhalsbinde, ein verhindertere Maler irgendwo in Ankara oder Istanbul ungefähr im Jahr 1889, immer noch den Finger auf dem Gummiball? Ein Müllarbeiter, der Mülltonnen rollt, hochhebt, auskippt, in Liebe verbunden mit einer Frau, die um drei Männer trauert, Kafka gelesen, Hölderlin auswendig kennt, die Sängerin, Pianistin, Malerin, Geliebte, vollendete und werdende Mutter ist, die den Pulsschlag einer ehemaligen Nonne, die sich zeitlebens mit dem Problem der Wirklichkeit in literarischen Werken herumgeschlagen hat, höher und höher schlagen lässt. "
Anlass diesen großartigen Roman wiederzulesen ist eine Neuausgabe und zwar im Rahmen der sogenannten Kölner Ausgabe des Werks von Heinrich Böll. Diese kritische Werkausgabe wird bei Vollendung 27 chronologisch sortierte Bände umfassen. Wie bei solchen kritischen Ausgaben üblich findet sich neben dem Romantext jetzt auch ein vielhundertseitiger wissenschaftlicher Apparat. Für Schriftsteller stellen solche Ausgaben eine zwiespältige Angelegenheit dar. Einerseits scheinen sie im Reich der Klassiker angekommen zu sein, andererseits liegt genau da ein Problem: in der Ruhmeshalle der toten Geistesriesen verwandelt sich alles in den Mythos des Geistes.
Um es gleich zu sagen: die Frische von Bölls Text hält den Zeremonien der Kanonisierung stand. Anders gesagt, der "normale Leser" braucht diese Ausgabe nicht. Doch der Rezensent will gerne zugeben, dass er mit einigem Interesse und Vergnügen die zahlreichen Stellenkommentare gelesen hat, durch den zahlreiche Zeitbezüge wieder ins Gedächtnis gerufen werden. Was wiederum erlaubt, Bölls subtiles Spiel mit dem Dokumentarischen und dem Fiktiven genauer nachzuvollziehen. Gleichfalls fasziniert die Lektüre der Rezensionen, mit denen die erste Garnitur der deutschen Kritiker das Erscheinen des "Gruppenbilds" kommentierte: von Joachim Kaiser über Reinhard Baumgart bis zu Helmut Heissenbüttel. Geradezu verblüffend die Auslassungen von Marcel Reich-Ranicki, der mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit alles an Bölls Roman verkennt oder gar ins Gegenteil verdreht.
Dagegen verwahrt sich zurecht die ästhetische Einordnung des Romans, die die beiden Herausgeber dieses Bandes, Ralf Schnell und Jochen Schubert, leisten wollen. Doch leider stellt sich dabei einmal mehr heraus, dass die Interessen der Germanistik mit denen der nicht-professionellen Leser kaum übereinstimmen.
Der Text der beiden Editoren bemüht sich reichlich angestrengt um den Nachweis von Bölls Ankunft in der Höhenluft der ästhetischen Moderne. Zeitlebens hatte man Böll als sympathischen Moralisten aber bescheidenen Artisten diffamiert. Doch wahrscheinlich besteht Bölls wahre nicht nur ästhetische Größe eher darin, sich die unausrottbare Feldaufteilung von Kunst einerseits und Engagement andererseits nie zu eigen gemacht zu haben. Das hat er noch einmal in seinem Stockholmer Vortrag Über die Vernunft der Poesie 1973 ausdrücklich betont:
" Moral und Ästhetik erweisen sich als kongruent, untrennbar auch, ganz gleich, wie trotzig oder gelassen, wie milde oder wie wütend, mit welchem Stil, aus welcher Optik ein Autor sich an die Beschreibung oder bloße Schilderung des Humanen begeben mag. "
Insofern verfehlt man Bölls Eigenart wiederum, wenn man jetzt seinen geistreichen Umgang mit solchen sterbenslangweiligen Professoren-Grillen wie der so genannten "Intertextualität" rühmt. Mal abgesehen davon, dass die Techniken dieser gut und gerne zweihundert Jahre alt sind - wer hätte sich jenseits des geschlossenen akademischen Milieus in den letzten 30 Jahren noch dafür interessiert? So wird man den Verdacht nicht los, dass bei dieser Art der Seligsprechung etwas anderes unterschlagen wird, nämlich Heinrich Bölls eigentliches literarisches Programm, so wie er es beispielsweise in seiner Nobelpreis-Lesung 1973 formuliert hat:
" Es trifft zu und ist leicht gesagt, Sprache sei Material, und es materialisiere sich, wenn man schreibt, etwas. Wie aber könnte man erklären, dass da - was gelegentlich festgestellt wird - etwas wie Leben entsteht, Personen, Schicksale, Handlungen - dass da Verkörperung stattfindet auf etwas so Totenblassem wie Papier, wo sich die Vorstellungskraft des Autors mit der des Lesers auf eine bisher unerklärte Weise verbindet.... "
In seinen Frankfurter Vorlesungen sprach Heinrich Böll von "einer bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren Land" als dem eigentlichen Gegenstand seiner Kunst. Das geht doch weit über die Zeremonien der reinen Kunst hinaus und bedeutet nicht mehr und nicht weniger als den Anspruch des Kunstwerkes mitten in der Welt eine Rolle zu spielen. Und so spürt man auf jeder Seite des Gruppenbildes den Anspruch an den Leser im Kielwasser der fiktiven Leni Pfeiffer andere Einstellungen zum Realen auszuprobieren. Das ist immer noch: reine Kunst, aber zugleich auch imaginäre Kommunikation.
Man hat stets Bölls Auftritte als Intellektueller mit seinen literarischen Absichten vermischt. Wahrscheinlich, um so besser beide Seiten seines Engagements zu diskreditieren. Zweifelsohne war Heinrich Böll ein Intellektueller von Rang. Ich wage sogar die Behauptung: er war der einflussreichste und scharfsinnigste Intellektuelle der Bundesrepublik nach dem Krieg. Es genügt, die Bände 10 und 15 der Kölner Ausgabe aufzuschlagen, die zusammen mit dem 17. Band, der das "Gruppenbild mit Dame" enthält erscheinen.
" Halten Sie Abstinenz, lieber Herr M., naschen Sie nicht von all diesen Pralinensorten, von der Kritik, den Witzen, dem Gespräch über Literatur. "
So heißt es in einem Brief an einen jungen Katholiken aus dem Jahren 1958.
" Bald werden Sie spüren wie Ihr Magen knurrt; dass Sie nach Brot verlangen, nicht nach verwaschener Soziologie, verwaschener Politik, verwaschener Kulturkritik, wie man sie gemeinhin geboten bekommt; der Magen knurrt, und das Gehirn dürstet, dürste bis zur Verzweiflung nach Klarheit und Entschiedenheit: was dem Menschen nottut, ist Verbindlichkeit, und Sie werden nur Unverbindliches zu hören bekommen. Wenn Sie gar einmal das zweifelhafte Glück haben, eine jener Predigten zu hören, wie sie von glänzenden Rhetorikern zurechtgeschneidert werden, diese Gestik, das fein ausgeklügelte Mienenspiel, Wortgehudel, Wortgesudel - dann stellt sich bald ein anderes Gefühl ein: Brechreiz, das ist einfach zum Kotzen. Seien sie froh über jeden Priester, dem hin und wieder noch ein Stammeln unterläuft. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, aber das andere, das Wort, wird ihm leider nur selten geboten, und doch verlangen erstaunlich viele Menschen nach diesem Wort, warten drauf, auf das Wort, das so einfach wie Brot ist, das am Anfang war und am Ende sein wird. "
Der Text sollte damals im Süddeutschen Rundfunk gesendet werden. Allerdings untersagte der Intendant Hans Bausch persönlich die Ausstrahlung. Fairerweise sei hinzugefügt, dass Bausch persönlich nach Köln fuhr, um Heinrich Böll seine Gründe darzulegen.
Heinrich Böll wurde im Laufe der Zeit zusehends zu einer öffentlichen Gestalt, die sich nicht scheute, das eine oder andere "j’accuse" in die Meinungswelt zu schleudern. Doch dieser glänzende Essayist und zornige Pamphletist von Rang lässt der Welt keine erhabenen Wahrheiten zuteil werden, sondern gibt ihr bloß ihre Unwahrheiten zu spüren gibt. Böll nutzte seinen Ruhm und sein weltweites Ansehen, um den Finger auf ein paar Wunden zu legen, ob Alt- oder Neunazis, Scheindemokraten oder Scheinheilige. Man ist verblüfft, wie sehr diese Texte aus entlegenen Zeiten und längst vergessenen Anlässen geschuldet auch heute noch Stand halten; fast möchte man sagen: auf unsere doch so enorm geläuterten hypermodernen Zeiten übertragbar sind.
Im 15. Band der Kölner Ausgabe findet sich neben vielen Texten, die in die Aktualität jener Jahre eingreifen, auch die Erzählung Ende einer Dienstfahrt aus dem Jahr 1966. Es ist Bölls letzter größere Prosaarbeit vor Gruppenbild mit Dame. Und in mancher Hinsicht kündigt die Erzählung auch den spezifischen Humor an, den man im "Gruppenbild" wiederfindet.
" Humor - das macht ihn möglicherweise denen, die ihn nicht haben, so verdächtig - setzt einen gewissen minimalen Optimismus und gleichzeitig Trauer voraus: da das Wort humores Flüssigkeit, auch Säfte bedeutet und alle Körpersäfte, also Galle, Träne, Speichel, auch Urin meint, bindet es ans Stoffliche und gibt diesem gleichzeitig eine humane Qualität. Weinen und Lachen sind Merkmale des homo sapiens. Mir scheint, es gibt nur eine humane Möglichkeit des Humors: das von der Gesellschaft für Abfall Erklärte, für abfällig Gehaltene in seiner Erhabenheit zu bestimmen. Erhaben ist das Asoziale, und es muss einer Humor haben, es erhaben zu finden. "
Der ursprüngliche Titel von Gruppenbild mit Dame lautete "Abfall"
Heinrich Böll, Kölner Ausgabe
Band 10. 1956-1959. Hrsg. von Viktor Böll.
Band 15. 1966-68. Hrsg. von Werner Jung in Zusammenarbeit mit Sarah Troost.
Band 17. Gruppenbild mit Dame 1971. Hrsg. von Ralf Schnell und Jochen Schubert.
Verlag Kiepenheuer & Witsch. Köln 2005.
So lernen wir sie kennen: die sonderbare Dame im Zentrum eines tiefgestaffelten Gruppenbildes. So frontal, so überblickshaft, so fasslich werden wir ihr nicht mehr wieder begegnen. Auf den nächsten vierhundert Seiten wird uns ein Verfasser, der sich stets abgekürzt als "Verf." ins Gruppenbild einzeichnet, mit Einzelheiten ihres Lebens in Form von Zeugenaussagen und Rechercheergebnissen beliefern. Und so entsteht nach und nach um die Gestalt der Leni Pfeiffer herum ein verblüffendes Panorama Deutschlands im 20. Jahrhundert.
Je mehr wir über Leni hören, umso mehr überrascht sie uns und umso mehr verfallen wir ihr. Am Ende des Romans steht keine gewonnene Erkenntnis - dass wir jetzt endlich das Wesensgeheimnis der Leni Pfeiffer begriffen hätten - wir sind von ihr vielmehr ergriffen worden. Als handele es sich um eine übernatürliche Erscheinung. Da mag sich der Verf. noch so sehr bemühen, die Dokumente zum Sprechen zu bringen und die Fakten säuberlich zu ordnen: Leni fügt sich keiner Deutung. Und das Unfassbare greift auf die Umwelt über: In Leni Pfeiffers Umgebung hat die Plausibilität der Welt einen schweren Stand.
" Leni ist schweigsam und verschwiegen - und da hier nun einmal zwei nichtkörperliche Eigenschaften aufgezählt werden, seien zwei weitere hinzugefügt: Leni ist nicht verbittert, und sie ist reuelos, sie bereut nicht einmal, dass sie den Tod ihres ersten Mannes nie betrauert hat; (...) sie weiß wahrscheinlich einfach nicht, was Reue ist. "
Renate Matthei hat vor vielen Jahren den Begriff der "subversiven Madonna" geprägt. Tatsächlich erscheint Leni die Madonna gelegentlich - und zwar auf der Mattscheibe ihres Fernsehers nach Sendeschluss. Was sie nicht sonderlich erstaunt, denn sie hat nichts gegen Wunder. Sie ist in gewisser Weise selbst eines. Es bleibt einer ausgestiegenen Nonne überlassen, diese Erscheinung rational zu entzaubern. Es ist Lenis Spiegelbild, das ihr da selbst erscheint. Und so wie sie sich selbst nicht erkennt, erkennt auch der Leser sie nicht.
" Da nun dem Verf. (...) über Leni nicht viel mehr Material vorliegt als solches, das höchstens folgende Zusammenfassung erlaubt: vielleicht ein wenig beschränkt, Mischung aus romantisch, sinnlich, materialistisch, ein bisschen Kleistlektüre, Klavierspiel, eine dilettantische, wenn auch tiefgreifende oder -sitzende Kenntnis gewisser Sekretionsvorgänge; nimmt man sie als (durch Ehrhardts Schicksal) verhinderte Liebhaberin, als missglückte Witwe, zu dreiviertel Waisenkind) (Mutter tot, Vater im Gefängnis); mag man sie für halb- oder gar krass ungebildet halten - so erklärt doch keine dieser fraglichen Eigenschaften und nicht deren Komposition die Selbstverständlichkeiten ihres Handelns (...). "
Man könnte sagen: Leni ist sonderbar, betörend sonderbar. Man könnte sogar sagen: Sie ist jemand, der eigentlich nicht geht, jemand, den es nicht geben kann. Aber wenn man Leni mit den Augen des "Verf." betrachtet, das heißt im Zustande der Betörung, dann geschieht im Verlauf des Romans eine wunderbare Transsubstantiation, eine Verwandlung des Realen: Am Ende erscheint es uns sehr viel einleuchtender, dass die graue Eminenz des Realen einen Sprung in der Schüssel hat, ja, dass es diese Realität eigentlich gar nicht geben kann. Wenn man die Geschichte aus Lenis Perspektive betrachtet, dann verliert der Lauf der Dinge jede Notwendigkeit, den Rest von Sinn und Anstand sowieso. Das ist vielleicht die subversivste Tat der subversiven Madonna: den Mächten aller Art den Dienst zu verweigern.
Eines von Lenis Betriebsgeheimnissen besteht von Anfang an darin, dass sie die Kataster des Realen schlicht und einfach ignoriert. Aus Gründen, die wir nicht kennen, schenkt Leni den Imperativen des Realismus kein Gehör. Ihr Leben findet irgendwie außerhalb der riesigen Zweck-Mittel-Maschine der Welt statt. Tief in ihr findet eine eigensinnige Evidenz statt. Mehr kann man beim besten Willen nicht über die Gründe ihrer Handlungen sagen. Und so erklärt sich vielleicht ihr Hang zum Unwahrscheinlichen und auch Sorglosen. Etwa wenn sie sich in einen sowjetischen Zwangsarbeiter verliebt. Mit Boris zusammen flicht sie Kränze in einer Kölner Friedhofsgärtner für die endlos vielen Toten in jenen letzten beiden Kriegsjahren. In einer aufgelassenen Grabkammer, dem sogenannten "Sowjetpardies in den Grüften" zeugen die beiden während der vielen Bombenangriffe auch einen Sohn. Auf diese Sorte Liebe stand immerhin die Todesstrafe.
Wie überhaupt Leni Pfeiffer die Ökonomie der Welt gewaltig durcheinander bringt - und die Ökonomen erst Recht. Hier ein Ausschnitt gelesen von Heinrich Böll:
" Die Moderne schwärmt gerne vom Individualismus und produziert dennoch am liebsten Homunculi von der Stange. Vor kaum etwas hat der moderne Mensch mehr Angst, als die Leine der Codierungen zu kappen. Doch Individuum ist derjenige, der sich nicht als Fall einer Regel verhält, sondern der eher von der Regel abweicht Der Einzelne heißt im klassischen Griechischen: Idiotos. Und das Idiotische als Lebensform ist sozusagen Lenis Leitfaden. Das Idiotische ist die seltsame Begabung, die Leni zuteil wurde, ihr Weltbegegnungskompass. Und im Reich des Idiotischen ist wenig gewiss - nur das eine: Die Agenturen und Apparate des Realen reagieren darauf wütend allergisch. "
"Gruppenbild mit Dame" erschien 1971 erstmals. Und erst Recht im Abstand der Jahre darf man sagen: es handelt sich um ein Meisterwerk erzählerischer Weisheit. Einerseits bezieht der Roman Position zu den Jahren seiner Entstehung, andererseits erzählt er ein Weltbild, das mehr denn je Gültigkeit hat.
Als Böll im Jahre 1970 mit der Niederschrift begann, befand sich die Bundesrepublik in einem enormen Umbruch. Etwas vereinfacht gesagt könnte man sagen: die 60er Jahre waren geprägt von eher existentiellen Revolten, die sich gegen die unterschiedlichsten Zwänge wehrten. Zweifelsohne stand Heinrich Böll diesen Formen des Ungehorsams sehr nahe. Die Erfahrungen dieser Rebellionen führten jedoch zu der Einsicht, dass man sein Leben gewissermaßen nicht individuell reparieren kann. Man muss vielmehr das System ändern, den Lauf der Geschichte umbiegen. Und so sahen sich die so genannten 68er um 1970 tief in eine geschichtsphilosophische Haltung verwickelt. Diese Geschichtsphilosophie besagte so ungefähr: Morgen, wenn alles besser ist, wenn die Menschen über ihre Verhältnisse selbst entscheiden können, dann erst stellt sich die Frage nach dem wahren Menschen. Nichts könnte diese Haltung besser illustrieren als die berühmte Sentenz von Theodor W. Adorno: "Es gibt kein wahres Leben im Falschen". Und genau gegen diese Haltung schickt Heinrich Böll seine Leni ins Gefecht. Denn dieser naiven Rebellin ohne Programm liegt nichts ferner als das Abenteuer des Menschseins auf die Zeiten postrevolutionärer Paradiese zu verschieben. "Paradies now" - inklusive aller Unkosten.
Bekanntlich sind uns heute Visionen aller Art völlig aus dem Blick geraten und trotzdem leuchtet Bölls Heldin im Dunkel der pragmatischen Orientierungslosigkeit, die sich weitgehend auf Anpassung verlässt. Man muss kein Programm haben, um den Zwängen des Realismus, den Verfügungen des Systems zu widerstehen. Altmodisch gesagt: es reicht Charakter und die Lust ein Mensch zu sein. Und so endet dieser Roman auch als leicht märchenhafte Utopie - mitten in einem herrlich unaufgeräumten Paradies. Und in diesem Schlussbild begegnet der Verf. erstmals leibhaftig dem heiklen Gegenstand seiner Portraitkunst: Leni Pfeiffer - im Kreis ihrer Freunde, geschmiegt an ihren neuen Ehemann, einen Türken:
" Bemerkt der Leser, dass hier massenhaft Happy-Ends stattfinden? Händchen gehalten, Bünde geschlossen, alte Freundschaften erneuert werden, während andere durstig und hungrig auf der Strecke bleiben? Dass ein Türke, der aussieht wie ein Bauer aus der Rhön oder der Zentraleifel, die Braut heimführt? Ein Mensch, der bereits eine Frau und vier Kinder sitzen hat und auf Grund polygamer Rechte, von denen er weiß, die er aber bisher nicht hat wahrnehmen können, nicht einmal die Andeutung einer Spur von schlechtem Gewissen dabei entwickelt, möglicherweise irgendeiner Suleika offen mitgeteilt hat, wie die Dinge stehen? Ein Mann, der verglichen mit Bogakov und dem Verf. geradezu aufreizend sauber wirkt, geschrubbt geradezu: mit Bügelfalte, Krawatte; dem ein gestärktes Hemd geradezu Wonne bereitet, weil es für ihn zur Feierlichkeit des Anlasses gehört? Der immer dasitzt, als habe der fiktive Fotograf in Künstlerhut und mit Künstlerhalsbinde, ein verhindertere Maler irgendwo in Ankara oder Istanbul ungefähr im Jahr 1889, immer noch den Finger auf dem Gummiball? Ein Müllarbeiter, der Mülltonnen rollt, hochhebt, auskippt, in Liebe verbunden mit einer Frau, die um drei Männer trauert, Kafka gelesen, Hölderlin auswendig kennt, die Sängerin, Pianistin, Malerin, Geliebte, vollendete und werdende Mutter ist, die den Pulsschlag einer ehemaligen Nonne, die sich zeitlebens mit dem Problem der Wirklichkeit in literarischen Werken herumgeschlagen hat, höher und höher schlagen lässt. "
Anlass diesen großartigen Roman wiederzulesen ist eine Neuausgabe und zwar im Rahmen der sogenannten Kölner Ausgabe des Werks von Heinrich Böll. Diese kritische Werkausgabe wird bei Vollendung 27 chronologisch sortierte Bände umfassen. Wie bei solchen kritischen Ausgaben üblich findet sich neben dem Romantext jetzt auch ein vielhundertseitiger wissenschaftlicher Apparat. Für Schriftsteller stellen solche Ausgaben eine zwiespältige Angelegenheit dar. Einerseits scheinen sie im Reich der Klassiker angekommen zu sein, andererseits liegt genau da ein Problem: in der Ruhmeshalle der toten Geistesriesen verwandelt sich alles in den Mythos des Geistes.
Um es gleich zu sagen: die Frische von Bölls Text hält den Zeremonien der Kanonisierung stand. Anders gesagt, der "normale Leser" braucht diese Ausgabe nicht. Doch der Rezensent will gerne zugeben, dass er mit einigem Interesse und Vergnügen die zahlreichen Stellenkommentare gelesen hat, durch den zahlreiche Zeitbezüge wieder ins Gedächtnis gerufen werden. Was wiederum erlaubt, Bölls subtiles Spiel mit dem Dokumentarischen und dem Fiktiven genauer nachzuvollziehen. Gleichfalls fasziniert die Lektüre der Rezensionen, mit denen die erste Garnitur der deutschen Kritiker das Erscheinen des "Gruppenbilds" kommentierte: von Joachim Kaiser über Reinhard Baumgart bis zu Helmut Heissenbüttel. Geradezu verblüffend die Auslassungen von Marcel Reich-Ranicki, der mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit alles an Bölls Roman verkennt oder gar ins Gegenteil verdreht.
Dagegen verwahrt sich zurecht die ästhetische Einordnung des Romans, die die beiden Herausgeber dieses Bandes, Ralf Schnell und Jochen Schubert, leisten wollen. Doch leider stellt sich dabei einmal mehr heraus, dass die Interessen der Germanistik mit denen der nicht-professionellen Leser kaum übereinstimmen.
Der Text der beiden Editoren bemüht sich reichlich angestrengt um den Nachweis von Bölls Ankunft in der Höhenluft der ästhetischen Moderne. Zeitlebens hatte man Böll als sympathischen Moralisten aber bescheidenen Artisten diffamiert. Doch wahrscheinlich besteht Bölls wahre nicht nur ästhetische Größe eher darin, sich die unausrottbare Feldaufteilung von Kunst einerseits und Engagement andererseits nie zu eigen gemacht zu haben. Das hat er noch einmal in seinem Stockholmer Vortrag Über die Vernunft der Poesie 1973 ausdrücklich betont:
" Moral und Ästhetik erweisen sich als kongruent, untrennbar auch, ganz gleich, wie trotzig oder gelassen, wie milde oder wie wütend, mit welchem Stil, aus welcher Optik ein Autor sich an die Beschreibung oder bloße Schilderung des Humanen begeben mag. "
Insofern verfehlt man Bölls Eigenart wiederum, wenn man jetzt seinen geistreichen Umgang mit solchen sterbenslangweiligen Professoren-Grillen wie der so genannten "Intertextualität" rühmt. Mal abgesehen davon, dass die Techniken dieser gut und gerne zweihundert Jahre alt sind - wer hätte sich jenseits des geschlossenen akademischen Milieus in den letzten 30 Jahren noch dafür interessiert? So wird man den Verdacht nicht los, dass bei dieser Art der Seligsprechung etwas anderes unterschlagen wird, nämlich Heinrich Bölls eigentliches literarisches Programm, so wie er es beispielsweise in seiner Nobelpreis-Lesung 1973 formuliert hat:
" Es trifft zu und ist leicht gesagt, Sprache sei Material, und es materialisiere sich, wenn man schreibt, etwas. Wie aber könnte man erklären, dass da - was gelegentlich festgestellt wird - etwas wie Leben entsteht, Personen, Schicksale, Handlungen - dass da Verkörperung stattfindet auf etwas so Totenblassem wie Papier, wo sich die Vorstellungskraft des Autors mit der des Lesers auf eine bisher unerklärte Weise verbindet.... "
In seinen Frankfurter Vorlesungen sprach Heinrich Böll von "einer bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren Land" als dem eigentlichen Gegenstand seiner Kunst. Das geht doch weit über die Zeremonien der reinen Kunst hinaus und bedeutet nicht mehr und nicht weniger als den Anspruch des Kunstwerkes mitten in der Welt eine Rolle zu spielen. Und so spürt man auf jeder Seite des Gruppenbildes den Anspruch an den Leser im Kielwasser der fiktiven Leni Pfeiffer andere Einstellungen zum Realen auszuprobieren. Das ist immer noch: reine Kunst, aber zugleich auch imaginäre Kommunikation.
Man hat stets Bölls Auftritte als Intellektueller mit seinen literarischen Absichten vermischt. Wahrscheinlich, um so besser beide Seiten seines Engagements zu diskreditieren. Zweifelsohne war Heinrich Böll ein Intellektueller von Rang. Ich wage sogar die Behauptung: er war der einflussreichste und scharfsinnigste Intellektuelle der Bundesrepublik nach dem Krieg. Es genügt, die Bände 10 und 15 der Kölner Ausgabe aufzuschlagen, die zusammen mit dem 17. Band, der das "Gruppenbild mit Dame" enthält erscheinen.
" Halten Sie Abstinenz, lieber Herr M., naschen Sie nicht von all diesen Pralinensorten, von der Kritik, den Witzen, dem Gespräch über Literatur. "
So heißt es in einem Brief an einen jungen Katholiken aus dem Jahren 1958.
" Bald werden Sie spüren wie Ihr Magen knurrt; dass Sie nach Brot verlangen, nicht nach verwaschener Soziologie, verwaschener Politik, verwaschener Kulturkritik, wie man sie gemeinhin geboten bekommt; der Magen knurrt, und das Gehirn dürstet, dürste bis zur Verzweiflung nach Klarheit und Entschiedenheit: was dem Menschen nottut, ist Verbindlichkeit, und Sie werden nur Unverbindliches zu hören bekommen. Wenn Sie gar einmal das zweifelhafte Glück haben, eine jener Predigten zu hören, wie sie von glänzenden Rhetorikern zurechtgeschneidert werden, diese Gestik, das fein ausgeklügelte Mienenspiel, Wortgehudel, Wortgesudel - dann stellt sich bald ein anderes Gefühl ein: Brechreiz, das ist einfach zum Kotzen. Seien sie froh über jeden Priester, dem hin und wieder noch ein Stammeln unterläuft. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, aber das andere, das Wort, wird ihm leider nur selten geboten, und doch verlangen erstaunlich viele Menschen nach diesem Wort, warten drauf, auf das Wort, das so einfach wie Brot ist, das am Anfang war und am Ende sein wird. "
Der Text sollte damals im Süddeutschen Rundfunk gesendet werden. Allerdings untersagte der Intendant Hans Bausch persönlich die Ausstrahlung. Fairerweise sei hinzugefügt, dass Bausch persönlich nach Köln fuhr, um Heinrich Böll seine Gründe darzulegen.
Heinrich Böll wurde im Laufe der Zeit zusehends zu einer öffentlichen Gestalt, die sich nicht scheute, das eine oder andere "j’accuse" in die Meinungswelt zu schleudern. Doch dieser glänzende Essayist und zornige Pamphletist von Rang lässt der Welt keine erhabenen Wahrheiten zuteil werden, sondern gibt ihr bloß ihre Unwahrheiten zu spüren gibt. Böll nutzte seinen Ruhm und sein weltweites Ansehen, um den Finger auf ein paar Wunden zu legen, ob Alt- oder Neunazis, Scheindemokraten oder Scheinheilige. Man ist verblüfft, wie sehr diese Texte aus entlegenen Zeiten und längst vergessenen Anlässen geschuldet auch heute noch Stand halten; fast möchte man sagen: auf unsere doch so enorm geläuterten hypermodernen Zeiten übertragbar sind.
Im 15. Band der Kölner Ausgabe findet sich neben vielen Texten, die in die Aktualität jener Jahre eingreifen, auch die Erzählung Ende einer Dienstfahrt aus dem Jahr 1966. Es ist Bölls letzter größere Prosaarbeit vor Gruppenbild mit Dame. Und in mancher Hinsicht kündigt die Erzählung auch den spezifischen Humor an, den man im "Gruppenbild" wiederfindet.
" Humor - das macht ihn möglicherweise denen, die ihn nicht haben, so verdächtig - setzt einen gewissen minimalen Optimismus und gleichzeitig Trauer voraus: da das Wort humores Flüssigkeit, auch Säfte bedeutet und alle Körpersäfte, also Galle, Träne, Speichel, auch Urin meint, bindet es ans Stoffliche und gibt diesem gleichzeitig eine humane Qualität. Weinen und Lachen sind Merkmale des homo sapiens. Mir scheint, es gibt nur eine humane Möglichkeit des Humors: das von der Gesellschaft für Abfall Erklärte, für abfällig Gehaltene in seiner Erhabenheit zu bestimmen. Erhaben ist das Asoziale, und es muss einer Humor haben, es erhaben zu finden. "
Der ursprüngliche Titel von Gruppenbild mit Dame lautete "Abfall"
Heinrich Böll, Kölner Ausgabe
Band 10. 1956-1959. Hrsg. von Viktor Böll.
Band 15. 1966-68. Hrsg. von Werner Jung in Zusammenarbeit mit Sarah Troost.
Band 17. Gruppenbild mit Dame 1971. Hrsg. von Ralf Schnell und Jochen Schubert.
Verlag Kiepenheuer & Witsch. Köln 2005.