Es gibt auf dieser Welt nicht viele Straßen, auf denen sich Porsche und Fiaker die Spur teilen. Der Wiener Opernring im Ersten Wiener Bezirk ist so eine. Vor dem stattlichen Prunkbau, eröffnet 1869, wartet Markus Lust, Chefredakteur des Online-Magazins "Vice" in Österreich.
"Hier findet ja der Opernball statt. Und beim Opernball ist die männliche Etikette, hier einen Smoking zu tragen und zwar einen Smoking mit einer weißen Fliege. Und die weiße Fliege rührt einzig und allein daher, dass die Kellner, die da drinnen herumlaufen, genau gleich angezogen sind – nur mit schwarzer Fliege. Und es ist den Leuten unglaublich wichtig, sich unterscheidbar zu machen von dem Pöbel."
"Die Etikette knechtet uns"
Provokant und manchmal unbequem, politisch wie poppig, – das gilt für "Vice" genauso wie für Chefredakteur Markus Lust. Der Kerl im bunten Strickpulli kann mit Opernball, 1. Bezirk und vor allem Etikette wenig anfangen.
"Wenn uns irgendwas bisher knechtet, oder wenn wir uns mit irgendwas selbst knechten, dann mit dieser Etikette."
So wenig, dass auch er ein Buch geschrieben hat, mit dem Titel: "111 Gründe, Wien zu hassen. Die Stadt so wie sie wirklich ist."
"Ich bin in der Hinsicht glaube ich sehr österreichisch. Ich bin hier, weil ich mich gern drüber aufrege." Denn ihm stößt nicht nur die Kleiderordnung auf:
"Es zeigt sich an der Sprache, finde ich. Erstmal ist Österreichisch unglaublich grammatikalisch kompliziert im Vergleich zum Hochdeutschen. Also Österreichisch ist meistens im passiv formuliert: Wird die Butter noch gebraucht? Nicht: Brauchst Du die Butter noch?‘ Weil da müsste man jemanden direkt ansprechen. Das macht man ungern."
"Noch deutlicher wird’s bei einer Redensart, ohne die der Wiener seinen Alltag praktisch nicht bestreiten kann. Man hört es an jedem Würschtlstand und bei jedem Handytelefonat: 'Das geht sich aus.' Der Ausdruck 'geht sich aus' ist was sehr Österreichisches. Weil es gibt eigentlich keinen Akteur in 'Das geht sich aus.' Und umgekehrt, wenn ich sage: Das geht sich nicht aus, dann ist das Schicksal schuld. Nicht ich komme unpünktlich, da sag ich einfach: Du, 'tschuldigung, es geht sich nicht aus. Das heißt, man verklausuliert Dinge, man sagt sie durch die Blume, man sagt sie hinten rum. Vordergründig sagt man 'Küss die Hand' und hinterrücks meint man 'Leck mich am Arsch.'"
Außen hui, innen - egal
Diesen Etikettenschwindel kann man hier im 1. Bezirk sogar anfassen. Er wird regelrecht bestaunt von Tausenden Touristen, die sich tagtäglich den Opernring hinunter schieben und denen Männer in Hofkostümen Tickets für die Fiakerfahrt andrehen wollen.
"Alle Gebäude am Wiener Ring, auf dem wir uns gerade befinden, sind in gewisser Weise ein Sinnbild für Österreich. Weil es diese österreichische Mentalität, dieses Verstellen, dieses Theatralische sehr gut darstellt. Sich für die Außenwelt schön herrichten, was unter der Oberfläche passiert, ist ein bisschen egal. Es ist halt eigentlich sowas wie ein Instagram-Walk oder eine gute Gelegenheit, um schöne Dinge zu fotografieren. Aber genauso ist halt Wien, es ist ein großes Museum."
Markus Lust spaziert durch dieses Museum die Kärntner Straße hinunter Richtung Stephansdom. Geschäfte links wie rechts, zwischendrin die ein oder andere feine Boutique, manche mit Türstehern.
"Wenn du hier in einer Jogginghose, selbst wenn sie 200 Euro kostet, rumläufst, bist du einfach der Sandler. Also der Penner, der nichts auf die Reihe kriegt."
"Jeder zweite Österreicher wäre froh über einen Kaiser"
Noch übertroffen wird die Kärntner Straße in Sachen Oberfläche von Wiens wohl imposantester Prunkstraße, dem Graben. Monumentalbauten mit nahezu weißer Fassade, zwei marmorne Springbrunnen und in der Mitte die barocke, vergoldete Pestsäule. Markus Lust wird das Gefühl nicht los, dass die Österreicher hier etwas anderes zur Schau stellen als bloß Architektur.
"Ich glaub, jeder zweite Österreicher wär froh, wenn wir wieder einen Kaiser hätten. Es war halt alles stattlicher, wir waren halt auch wichtiger. Das muss man auch sagen: Österreich krankt immer noch so an einem Minderwertigkeitskomplex. Weil wir mal eine Monarchie waren, wir waren der Mittelpunkt der Welt. Jetzt sind wir ein Restland. Wir haben auf einmal 8 Millionen statt 80 Millionen, wir waren mal so groß wie ihr, sind jetzt nichts mehr. Und Wien ist das Relikt aus dieser Metropolenzeit aus dieser Habsburgerzeit, als wir wirklich noch wichtig waren."
Allerdings haben die Habsburger, obwohl mit Ende des Ersten Weltkriegs zu den Akten der Geschichte gelegt, noch heute ihren festen Platz mitten im Herzen der Stadt. Beide Prunkstraßen, Graben und Kärntnerstraße, führen zum Stephansplatz, dem geografischen Zentrum Wiens. Genau hier steht das Nationalheiligtum der Österreicher, der Stephansdom, die größte Kirche der Stadt, wo einige der schillerndsten Habsburger begraben liegen.
Immer misstrauisch gegenüber der Oberfläche
Markus Lust steht vor dem Dom, umringt von Scharen von Touristen, die mit Selfie-Stick im Anschlag Fotos von sich schießen. Die Wiener erkennt man daran, dass sie ziemlich geradlinig und unberührt über den Stephansplatz ziehen, Handy am Ohr, Einkäufe in der Tasche. Kommt es mal zum Zusammenstoß, wird sich vielmals entschuldigt.
"Ich glaub schon, dass sich Österreicher mehr beherrschen müssen durch die Etikette, aber ich glaube nicht, dass das was Gutes ist. Das Österreichischste überhaupt ist, glaube ich, ein Telefonat zu führen und nach dem Telefonat zu sagen: Was ein Arschloch. Ja? Diese Animosität im Hintergrund, eigentlich bin ich immer skeptisch, immer misstrauisch, und vor allem misstrauisch gegenüber der Oberfläche. Wenn der mir was ins Gesicht sagt, glaube ich ihm sowieso nicht, dass er's so meint."
Markus Lust spaziert noch einmal um den Stephansdom herum, bevor es die Kärntnerstraße rauf zurück zum Wiener Ring geht. Auf der Schattenseite des Doms, kommt er an zwei kleinen Blechcontainern vorbei, die etwas versteckt in eine Nische eingelassen sind.
"Wir stehen direkt vor den Behältern, in denen Pferdemist entsorgt wird."
Die Fiaker auf den Prunkstraßen, den Pferdemist im Hinterhof.
"Auch sehr Wienerisch."