"Dem Wiener Friedenswerk gelang eine schöpferische Restauration, eine neue Ordnung Europas aus dem Geist der alten, vorrevolutionären Welt",
schreibt Eberhard Straub in seinem Buch "Der Wiener Kongress". Das Genie Napoleon - und dass er ein Genie war, hatten selbst seine Feinde einräumen müssen - das Genie Napoleon also hatte jahrelang die alten Strukturen Europas durcheinander gewirbelt und dabei Hunderttausende in den Tod gejagt. Als seine Macht nach der sogenannten Völkerschlacht bei Leipzig 1813 endlich unterging, versammelte sich in Wien das siegreiche Europa, um über die Zukunft des Kontinents zu beraten.
In den volkstümlichen Erzählungen wird meist von einem Kongress berichtet, der gefeiert und getanzt hat. Nach Straubs Rechnung waren in Wien 247 Mitglieder regierender Häuser versammelt, mit tausenden hoher Funktionäre, die wiederum Zehntausende von kleinen Bediensteten um sich hatten.
"Nahezu jeden Abend wurden Bälle, Diners und Konzerte veranstaltet oder in irgendeinem adeligen Salon gesellige Runden zu Konversation und Spiel arrangiert. Der Wiener Kongress war auch das spektakuläre Treffen der besten Köche Europas."
Ausgangspunkt für Straubs Überlegungen ist das Ende des 30-jährigen Krieges 1648. Seinerzeit - und darin sieht Straub vorbildliche Regierungskunst - habe man darauf verzichtet, die Schuldfrage zu stellen und einfach nur, mit dem Blick auf die Zukunft, die beste Kräftekonstellation ausgehandelt. Das gleichsam Vorbildliche war hier, dass nur Berufs-Herrscher und Diplomaten mit kaltem Kalkül verhandelten. Europäische Unordnung entstand nach Straubs Interpretation erst, als mit der Französischen Revolution das Volk selbst Teilhabe an der Macht beanspruchte.
"Es waren Revolutionäre und nicht die Monarchen, die den Krieg von Anfang an ideologisierten und moralisierten, und zwar auf eine für Europa längst ungewohnte Art."
Straub sieht in der Französischen Revolution und dem dazugehörigen Pochen auf Moral und Menschenrecht den Sündenfall des modernen Europa.
"Zum schrecklichsten Kriegsverbrechen - ein völlig neues Delikt - werden unter solchen Voraussetzungen die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, welche erst die Revolutionäre als Straftaten entdecken. Diese kann nur der Ungerechte begehen, weil der Gerechte, der Franzose, selbst wenn er mordet, sengt und brennt, als Rächer der verletzten Menschenrechte und Menschenwürde handelt."
Dass die Entdeckung der Menschenrechte und Menschenwürde der Grund gewesen sein soll für die Barbarisierung der europäischen Politik, ist eine durchaus originelle These. Aber wenn man bedenkt, dass bereits die Mord-, Plünderungs- und Vergewaltigungsorgien nach der Erstürmung Magdeburgs 1631 im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation unter Todesstrafe verboten waren, kann man davon ausgehen, dass Menschenrechte schon in der von Straub gelobten Epoche von 1648 eine gewisse Rolle spielten.
Der Autor sieht es anders und ist froh, dass man in Wien zu den alten, adeligen Umgangsformen zurückkehren konnte. Mit Kaiser Napoleon hätten die alliierten Mächte durchaus zurechtkommen können:
"Doch Napoleon, der Sohn des Glücks, wurde zum Kummer Metternichs, aber auch des russischen Kaisers, nicht vernünftig."
Er war ja auch ein Geschöpf der Revolution. Napoleon wurde geschlagen. Und er wurde auch - und gerade die preußischen Generäle betonen dies mit Nachdruck - von den Truppen der Landwehr geschlagen, von Leuten, die nicht für irgendeinen König kämpften, sondern für ihren eigenen Grund und Boden. Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. mochte diese Graswurzel-Bewegung nicht, und Straub kann es ihm kollegial nachfühlen. Straub zufolge wurde in Wien Frankreich die beständige Verheerung des europäischen Kontinents verziehen, weil man ein großes Frankreich im kontinentaleuropäischen Konzept brauchte, um ein Gleichgewicht gegen England herzustellen, das unangefochten die Weltmeere beherrschte und zu groß zu werden drohte. Dies alles fein ausgehandelt von Herrschern, die Gott begnadet hat, und ohne Einmischung des lästigen Volkes. Es scheint, als habe sich Eberhard Straub eine romantisierende, rückwärts gewandte Sicht der Geschichte zurechtgelegt, die das Auftreten neuer Akteure auf der politischen Bühne nicht wirklich einordnen kann, was den Erkenntnisgewinn 200 Jahre nach dem Ereignis kaum steigert. Eine andere Sicht, nämlich aus der Tradition der französischen Geschichtsschreibung, vermittelt Thierry Lentz in seinem Buch über den Wiener Kongress.
"Die Historiker meines Heimatlandes wollten aus den Ergebnissen allzu oft herauslesen, dass dessen alleiniges Ziel darin bestand, Frankreich zu erniedrigen, aus der großen Politik zu bannen und von den anderen Mächten fortan aufs Strengste überwachen zu lassen."
Thierry Lentz ist französischer Historiker. Den Einschätzungen seiner Kollegen kann er nicht folgen, dagegen beschreibt er, wie komfortabel der Frieden für Frankreich war. Nicht einmal die 170 Millionen Franc, die Napoleon nach dem Sieg 1806 von Preußen eingetrieben hatte, musste das Land zurückzahlen.
"Seit 20 Jahren mussten die Völker zusehen, wie ihre Länder von den französischen Armeen besetzt und verwüstet wurden; ... und wären sie entschlossen gewesen, sich zu rächen, ihren leidenschaftlichen Hass zu stillen, mit welchen Mitteln hätte Frankreich sich dagegen zur Wehr setzen können?"
So zitiert er den französischen Verhandlungsführer Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord. Frankreich war militärisch am Boden und konnte in den Verhandlungen in Wien nur punkten durch den Respekt, den alle Kriegsgegner gegenüber der französischen Kultur bewahrt hatten und die Vision, eine ausgewogene Sicherheitsarchitektur für die Zukunft zu gestalten.
Lentz beschreibt sehr ausführlich die handelnden Personen: den russischen Zar, der sich als Sieger der Sieger fühlte. Verhandlungsteilnehmer schrieben über ihn:
"Der Zar von Russland ist zuallererst nach Wien gekommen, um sich bewundern zu lassen."
Oder Klemens von Metternich, den man den "Schiedsrichter Europas" nannte, aus dem Tagebuch seines Mitarbeiters:
"Um 7 gehe ich zum Diner bei Metternich. Er hört mich, wie gewöhnlich, kaum an. Die ganze kurländische Hurensippschaft war da, mithin für andere Menschen keinen Sinn."
So zitiert der französische Historiker Friedrich von Gentz, den wohl wichtigsten Mitarbeiter Metternichs, der immerhin die Konferenz zu leiten hatte. Talleyrand ist für Lentz ein wichtiges Studienobjekt und dies zu Recht, weil er es schaffte, den Siegern über Napoleon seine Wünsche aufzuzwingen.
"Schlussendlich verkündete er den paralysierten Vier, er werde die Verschiebung der Kongresseröffnung nur unter der Bedingung akzeptieren, dass seinen Forderungen nachgegeben werde ... Er hatte seine Gesprächspartner endgültig schwindlig geredet!"
Geschickt zitiert Thierry Lentz den deutsch-amerikanischen Historiker und Politiker Henry Kissinger, um beurteilen zu lassen, wie gut Talleyrand seine Verhandlungen führte. Er schreibt dies leicht, fast plaudernd. Und er macht deutlich, welch eine überragende Leistung der Wiener Kongress vollbrachte, nicht nur in der Ausbalancierung der europäischen Mächte, sondern auch in Nebenthemen wie der Abschaffung der Sklaverei. So ist eine dichte, farbige, angenehm lesbare Darstellung entstanden, die historisch und politisch hochinformativ ist.
Eberhard Straub: "Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Neuordnung Europas",
Verlag Klett-Cotta, 255 Seiten, 21,95 Euro, ISBN: 978-3-608-94847-9
Verlag Klett-Cotta, 255 Seiten, 21,95 Euro, ISBN: 978-3-608-94847-9
Thierry Lentz: "1815. Der Wiener Kongress und die Neugründung Europas"
(Übersetzung: Frank Sievers), Siedler Verlag, 431 Seiten, 24,99 Euro, ISBN: 978-3-827-50047-2
(Übersetzung: Frank Sievers), Siedler Verlag, 431 Seiten, 24,99 Euro, ISBN: 978-3-827-50047-2