Erna Pinner erwidert am 20. Juli: "Lieber K., ich...danke Dir für die Beschreibung Deiner Kriegsjahre. Ich will versuchen, Dir die wesentlichsten der meinen so kurz wie möglich darzustellen. Ich habe mit der Tatsache, daß ich lebe, zu beginnen, da dies wohl das erstaunlichste Ereignis ist. Obwohl Hitler den Himmel mit diversen V-Waffen zur Hölle umgestaltete, gelang es seinen mechanisierten Todesengeln nicht, mich zu verbrennen."
Da schütteln sich welche erkennbar den Staub des Zusammenbruchs aus den Kleidern, und es herrscht ein ganz anderer Ton als in den letzten Briefen, die aus der Zeit der Trennung zehn Jahre zuvor erhalten sind. Damals begann Edschmid seine Briefe mit der Anrede: "Liebste, Liebling, Boy und tausend andere geliebte Namen". Und versichert ihr: "Denn da, wo Du bist, bin auch ich, und wo ich bin, bist auch Du. Als ich zwischen Zürich und Bern heute den Wagen anhielt, war da weder Angst noch Sorge, noch Kummer, sondern es waren die beinah zwanzig Jahre, die mir im Blut saßen und mich bedrängten. Die zwanzig Jahre, in denen wir so ineinander aufgegangen sind und in denen wir so in Gedanken, Neigung, Leben und Äußerung zusammengewachsen sind, daß schon die Idee einer kleinen Trennung mich erschüttert."
Und auch Erna Pinner, die er in der Schweiz in den Zug nach Norden gesetzt hatte, war noch ganz von den letzten gemeinsam verbrachten Tagen erfüllt: "Lieber, seit Du fort bist, sind die Avocados verschwunden. Es war eine schöne und entrückte Zeit... Ich war sehr betrübt, als ich sah, wie Du, mit den Tränen kämpfend, auf dem Bahnhof standest. Mach’s Dir nicht so schwer. Ich kämpfe doch auch, was ich kann, um nicht die Wunde immer wieder aufzureißen."
Jetzt, gut zehn Jahre später, liegt die Vernichtung ihrer Welt hinter ihnen. Da tauscht kein Paar mehr Liebesworte, da orientieren sich zwei, was übriggeblieben ist, und wie sie überhaupt noch zueinander stehen können; und das wird sich in den noch folgenden zwanzig Jahren der Korrespondenz nicht wirklich ändern. Kasimir Edschmid hat inzwischen seinem Leben eine ganz andere Richtung gegeben. Er hat sich leidlich mit unverdächtigen Veröffentlichungen durchs Dritte Reich geschlagen, geheiratet, Kinder gezeugt und sich im Familienleben eingerichtet, was Erna Pinner, wie sie später gesteht, nicht ungerührt erfahren hat. Pinner ihrerseits hat sich in London ganz neu auf eigene Füße stellen müssen. Sie hat ein Biologiestudium absolviert und illustriert populärwissenschaftliche biologische und paläontogische Bücher.
Was aber das Verhältnis der beiden überschattet, die einst so eng verbunden waren, ist etwas Exemplarisches. Es ist die Folge der Entscheidung, dazubleiben oder fortzugehen, die innere Emigration zu wählen oder das tatsächliche Exil - eine Entscheidung, welche die intellektuelle Diskussion der Nachkriegszeit und der Gründerjahre der Bundesrepublik prägte.
Diese Prägung, dieses Programm ist in den hier veröffentlichten Briefen allerdings nur unterschwellig vorhanden. Edschmid schreibt von allem möglichen, von den Erkältungen seiner Kinder, von Hunger und Mangel, von den sofort wieder erwachten Eifersüchteleien unter Schriftstellern und Verlegern, von den Funktionärspflichten, die er sich bald zu eigen macht, in den neuen Akademien, im PEN-Club, und natürlich von neuen schriftstellerischen Vorhaben. Pinner geht darauf ein, erkundigt sich nach dem literarischen Leben in Deutschland, berichtet von ihrer Arbeit, ihren Lektüren, relativiert auch seine Beschwerden durch den Vergleich mit der "Austerity" in England, die Rationierung von allem, die auf der Insel wesentlich länger als in Deutschland anhielt, bis weit in die fünfziger Jahre hinein.
Bald machen die bangen Fragen nach den alten Freunden und Weggefährten neuem Klatsch Platz. Gottfried Benn meldet sich wieder bei Erna Pinner und schickt ihr seine neuen Gedichte. Das Kritkerpaar Peter de Mendelssohn und Hilde Spiel unterhält die deutsche Gesellschaft in London mit den Szenen ihrer Ehe, ebenso der Goethe-Biograph Richard Friedenthal und seine Frau. Annette Kolb irritiert die Briefpartner mit ihrer Vergeßlichkeit. Der Wiener Verleger Paul Zsolnay hat Sorgen mit dem Nachwuchs aus der Ehe mit Alma Mahlers Tochter Anna, pendelt zwischen Themse und Elbe und kriegt doch seinen Verlag nicht richtig hoch, was Edschmid, der Projekte mit ihm plant und auf Bezahlung wartet, immer wieder auf die Palme bringt.
Erna Pinner scheint von Anfang an die Souveränere, auch die Offenere, Interessiertere. Sie fragt nach den jungen Autoren in der Bundesrepublik, nach Martin Walser und Günter Grass, auf den Edschmid die Rede zum Büchnerpreis hält.
Edschmid ist die meiste Zeit nicht recht zufrieden, sei es, weil seine Bücher nicht die Anerkennung bekommen, die er zu verdienen glaubt, sei es wegen der Querelen im PEN, die es damals wie heute gab. Pinner berichtet mit bewunderungswürdiger Gefaßtheit von ihren teils gravierenden gesundheitlichen Beschwerden, den Folgen der Kinderlähmung, an der sie in den späten zwanziger Jahren erkrankt war. Sie schenkt ihm zu jedem Geburtstag einen Seidenschal, er schickt Schinken.
Kaum je allerdings thematisiert Erna Pinner vorsichtig, was ihr Briefpartner bei aller Mitteilsamkeit so offensichtlich meidet - das, was politisch hinter ihnen liegt, und welche Folgen es für sie persönlich hatte: "Vor einiger Zeit hörte ich, daß Professor Simons, mein Arzt... in einem Konzentrationslager umgebracht wurde. Ebenso mein Vetter, der Nierenchirurg Pinner. Wie soll man solche Dinge je vergessen können oder das Grauen verlieren über die zu Lampenschirmen verarbeiteten Menschenhäute, die sich die diversen Frau Gauleiter in ihre Zimmer stellten?"
Edschmids Antwort fällt fast schroff und recht bezeichnend aus: "Liebste Erna, offen gestanden, habe ich Dir länger nicht geschrieben, weil ich über einige Sätze in Deinem Brief ... nicht hinwegkam. Wir wollen aber nicht mehr darüber reden, und ich will keine Mißverständnisse. Aber so sehr ich weiß, daß das deutsche Volk hundertprozentig auf den Nazismus hineinfiel - es hat doch mit den Menschenhäuten in seiner Gesamtheit so wenig zu tun wie seinerzeit mit den Untaten des Massenmörders Hamann, der seine Lustknaben zu Wurst verarbeitete und ein ganzes Stadtviertel damit ernährte. Ich schreibe dies der Gerechtigkeit halber. Nichts, aber auch gar nichts kann man summarisch behandeln, weil alles seine individuellen Voraussetzungen hat."
Was Edschmid da schreibt, das wäre - gerade in seiner beleidigten Grundsätzlichkeit - tatsächlich von zeitgeschichtlich dokumentarischem Wert, wie der ganze Briefwechsel, der bis zu Edschmids Tod im Jahr 1966 andauerte. Da klingt ein spezifischer Unwille an, sich mit der Dimension des Trennenden auseinanderzusetzen. Diese Briefe könnten zeigen, wie gerade das, was sich als das geistige Deutschland verstand, sich in den zwanzig Jahren nach dem Krieg in einer Art geschwätziger Verdrängungsbereitschaft eingerichtet hat. "Wir wollen nicht mehr darüber reden", so heißt ja das Buch.
Mit diesem Buch aber hat es eine eigentümliche Bewandtnis. Über dem Titel steht ein Name, und es ist nicht der einer der beiden Briefschreiber, sondern der Ulrike Edschmids. Sie fungiert hier als Autorin, nicht etwa als Herausgeberin der Briefe. Und sie gibt auch nicht vor, den Briefwechsel herauszugeben, sondern "eine Geschichte in Briefen" vorzulegen, so der Untertitel. Sie hatte Kasimir Edschmid, der ihr Schwiegervater werden sollte, in seinem letzten Lebensjahr kennengelernt. Sie habe versucht, so schreibt Ulrike Edschmid im Vorwort, aus fast sechshundert Briefen "den Dialog herauszuarbeiten". Sie habe in mehreren Fassungen akzentuiert und skelettiert, bis ein "Konzentrat" freigelegt worden sei. So recht verständlich ist dennoch nicht, warum das als eigenständige Autorenleistung gilt, warum das Buch also als eine Art literarischer Dokumentation präsentiert wird - und nicht schlicht als Briefauswahl.
Auch das Nachwort von Barbara Hahn, die Briefe Rahel Varnhagens herausgegeben hat und sich also mit diesen Fragen auskennt, gibt keine befriedigende Antwort. Die Bearbeiterin Edschmid habe, so schreibt sie, nicht verbessert und korrigiert, sondern vorsichtig mit der Schere gelesen und mit Klebstoff geschrieben. Die Vermutung, so etwas rieche womöglich nach Zensur oder nach Beschönigung, weist sie in wackerer Frauensolidarität ab: "Man braucht die Originalbriefe nicht zu kennen", so Barbara Hahn wörtlich, "um solche Vermutungen hier auszuschließen." Schon das Wort "Eingriff" sei viel zu scharf, um zu kennzeichnen, wie Ulrike Edschmid mit Texten arbeite.
Mit Verlaub: mit einer etwas genaueren Beschreibung des Verfahrens der Bearbeitung, mit einer etwas besseren Nachprüfbarkeit wären solche Unterstellungen noch etwas sicherer zurückzuweisen. Schließlich sind wir nicht mehr in der Lage der Herausgeber früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte, in denen es üblich war, im Interesse des Nachruhms die Briefsteller möglichst gut ausschauen zu lassen. Dabei würde man die stillschweigende Tilgung allzu intimer Einzelheiten oder noch lebender Personen auch in diesem Fall hinnehmen, wenn nur irgendwo erklärt wäre, nach welchen Prinzipien das geschehen ist. Aber "skelettieren" und "akzentuieren"? Der zuständige Lektor beim Luchterhand Literaturverlag nennt es "auf spezielle und sehr zurückhaltende Weise komponieren". Dabei fehle nichts außer langweiligen Passagen über Kohlköpfe und Taschentücher, aber die Substanz sei "ein bißchen deutlicher geworden".
Da drängt sich die Frage auf, ob das nicht genau Bearbeiter- und Herausgeberaufgabe wäre. Schließlich haben Kasimir Edschmid und Erna Pinner diese Briefe geschrieben, und nicht Ulrike Edschmid, auch wenn sie im Vorwort folgendes erklärt: "Als ich den Briefwechsel zwischen Erna Pinner und Kasimir Edschmid wieder und wieder las, wollte ich eine Form dafür finden, die den Ton, die Grundmelodie hörbar machen sollte, die ich beim Lesen vernahm. So las ich die Briefe nicht mehr nur als Dokumente, sondern als Stoff, als Material. Ausgehend vom Original - von dem ich mich gerade so weit entfernte, daß die Frage nach Authentizität nicht zur Frage nach Wahrheit wird - griff ich ein." Soweit Ulrike Edschmid. Und als Leser kann man rätseln, was mit dem so beschriebenen Verhältnis von Authentizität und Wahrheit gemeint sein soll.
Jedenfalls sind aus einem Korpus von, wie es heißt, rund sechshundert Briefen etwa vierhundert übriggeblieben. Gewiß, man muß nicht gleich die Anstrengung einer historisch-kritischen Ausgabe auf sich nehmen, wenn man das Zwiegespräch zweier Leute veröffentlichen will, die auch in ihren privaten Briefen interessant waren. Aber es gibt durchaus Verlage mit großen, allgemein interessanten Briefausgaben, bei denen Korrespondenzen nur vollständig erscheinen oder eben gar nicht. Und in anderen Fällen ist es heutzutage Standard, Auslassungen kenntlich zu machen.
Schließlich: Wenn einer mal sieben Seiten vollschreibt und mal nur sieben Zeilen, mal zehn Briefe im Jahr und mal nur noch zwei, muß den Leser doch interessieren, ob da etwas fehlt oder nicht - gerade, wenn eine schriftliche Beziehung offenbar so bedeutende Leerstellen hat wie diese. Und auch, wenn etwa Erna Pinner sich beklagt, ihr Brieffreund gehe in seinen Antworten zu wenig auf sie ein, ist das nicht wirklich nachvollziehbar.
Vielleicht hat das bemerkenswerte Verfahren auch nur damit zu tun, daß man beim Luchterhand Literaturverlag ein bloßes zeitgeschichtliches Dokument wie diesen Briefwechsel für zu wenig publikumswirksam hält, verglichen mit der Prominenz der Autorin Ulrike Edschmid, die mit ihren Arbeiten über Frauen schreibender Männer ziemlich erfolgreich war. Und so ist das, was wir davon zu lesen bekommen, wie Pinner und Edschmid, um es salopp auszudrücken, um den Brei herumschreiben, leider nur das, was eben Ulrike Edschmid für überliefernswert hält.
Das ist schade. Zuletzt beeinträchtigt dieses Vorgehen ja doch die Glaubwürdigkeit jener "Grundmelodie", jenes Musters, das Ulrike Edschmid herausarbeiten wollte. Man fragt sich, warum die Autorin, wenn sie diese nicht nur in ihren Augen interessante Geschichte erzählen wollte, das nicht einfach getan hat. Warum hat sie nicht Briefe Briefe sein lassen, aus ihnen Fakten und Details gewonnen und damit ihre eigene Sicht der Dinge illustriert? - Die freilich hätte sie dann selbst formulieren müssen. Sie hätte das Buch schreiben müssen, hätte es nicht komponieren können. Sie hätte sich nicht nur mit der Autorenschaft schmücken können, sie hätte als Autorin einstehen müssen. Oder ist es zu altmodisch, daran zu erinnern, daß der Ausdruck "Autor" mit Urheberschaft zu tun hat?
Mag sein, die Echtheit und Vollständigkeit des Briefs, dieser in der Tat obsolet gewordenen Form der Kommunikation, ist für sich genommen vor allem von philologischem Interesse. Wichtig ist schließlich, meint man bei Luchterhand, das Grundsätzliche in dieser Beziehung. Und doch: nach der Lektüre dieses Buchs "von" Ulrike Edschmid dominiert das Unbehagen angesichts eines Verfahrens, das mit Wörtern und Sätzen, die immerhin vorhanden sind, auf eine wie auch immer "behutsame" Weise letztlich nach Belieben beziehungsweise nach ihrem Konzept umspringt.
Erna Pinner und Kasimir Edschmid haben sich nie wieder gesehen. Ihre Briefe blieben das einzige Band zwischen ihnen, von Telefonaten in den letzten zwei Jahren abgesehen. Edschmid starb eher überraschend 1966, Pinner publizierte bis ins hohe Alter und lebte in London bis 1987. Die beiden haben sie alle gekannt, die Deutschlands Intelligenz ausgemacht hatten, sie kannten diejenigen, die in die Irre gegangen, und diejenigen, die widerstanden hatten - und die vielen dazwischen. Und sie lernten die kennen, die nach ihnen kommen sollten. Was man allerdings über sie beide und über ihre Zeit lernen könnte, wird einer Briefausgabe vorbehalten bleiben, die den Namen verdient.