Vier Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen mussten. Vier akademisch gebildete Menschen, die ihr Leben retten wollen und ihre Identität. In Deutschland haben sie vor gut fünf Jahren eine Möglichkeit gefunden, ihre Arbeit, ihre Forschung weiter zu führen: ein Stipendium, das Geflüchteten eine Eintrittskarte in die Deutsche Wissenschaftswelt geben wollte.
Wissenschaft ist ein internationales Geschäft, alle sprechen Englisch, Austausch über Grenzen hinweg ist normal – es sollte einfach sein in einem neuen Land anzukommen. Zu arbeiten, Karriere zu machen - theoretisch.
Praktisch ist alles viel komplizierter. Die Geflüchteten kommen aus Wissenschaftssystemen, die mit der deutschen Hochschullandschaft wenig Schnittmenge haben. Andere Methoden, andere Paradigmen, andere Grundeinstellungen. Was in der Heimat eine wissenschaftliche Kompetenz war, kann in Deutschland irrelevant sein. Dazu kommen Sprachbarrieren im Alltag, ein neues Umfeld und die persönliche Belastung durch die Fluchterfahrung.
Wer schafft es, in Deutschland Fuß zu fassen? Wer findet seine Identität in der Wissenschaft wieder? Wer bleibt in Gedanken auf der Flucht?
"Sie stürmten bewaffnet mein Haus und brachten mich für ein paar Tage ins Gefängnis. Da wurde mir klar, dass wir nicht mehr sicher waren. Es war Zeit zu gehen."
Es muss nicht immer ein Krieg sein, der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen dazu zwingt, das Land, in dem sie leben und arbeiten, zu verlassen. Gerade Forscher stehen oft auch dann im Kreuzfeuer, wenn keine Schüsse fallen. Kritisch denken, unbequeme Fragen stellen ist Teil der Wissenschaft.
"Es war die lächerlichste politische Aktion: eine Petition unterzeichnen. Aber wir haben damit eine versteckte Wahrheit ans Tageslicht gebracht. Ich denke, dass die Regierung deshalb mit so starken Repressalien reagiert hat – die Wahrheit ist unangenehm."
Alleine in der Türkei sind seit dem Putschversuch 2016 über sechstausend Akademiker entlassen worden. Einschränkungen der Freiheit von Wissenschaft und Lehre in Ungarn haben eine ganze Universität ins Exil gezwungen.
"Ich wollte nicht gehen. Ich wollte kein Fremder sein, kein Flüchtling in einem anderen Land, denn es ist sehr schwer von vorne anzufangen.
In dieser Geschichte geht es nicht um die Bedrohung an einem speziellen Ort aus einem speziellen Grund. Hier geht es darum, was passiert, wenn man entkommen ist. Wenn man neu anfängt. Olga, Ismael, Housam, Anan. Zwei Frauen, zwei Männer, drei Syrer, eine Türkin. Vier Menschen, die ihre Heimat nicht freiwillig verlassen haben. Vier Wissenschaftler, die ihr Leben retten wollen und ihre Identität.
In Deutschland angekommen
Es ist März 2016. Angela Merkels "Wir schaffen das" ist noch allen in den Köpfen. Housam und Anan haben Syrien vor anderthalb Jahren verlassen. Inzwischen leben sie in Wermelskirchen in der Nähe von Köln. Housam betreut neu angekommene Flüchtlinge, hilft bei der Orientierung in der neuen Umgebung. Ein Minijob – eigentlich ist er Wissenschaftler, promovierter Philosoph.
Seinen Doktor hat er in Frankreich gemacht. Danach mit Anan in England gelebt, wo sie ihre Doktorarbeit geschrieben hat. Sie gehen zurück nach Syrien. Drei Jahre später ist das Leben im Bürgerkrieg nicht mehr zu ertragen. Sie versuchen, über ihre wissenschaftlichen Kontakte nach England oder Frankreich zu gehen, bekommen aber für keines der Länder ein Visum. Deutschland ist die einzige Chance. Hier kennen sie niemanden. Wissenschaft adieu.
Dass das Unmögliche plötzlich möglich scheint, verdanken sie einem Stipendium für gefährdete Forscherinnen und Forscher, durch das die beiden das Angebot bekommen, an der Universität Köln zu arbeiten.
"Als Flüchtling muss ich froh sein – ich habe mehr gefunden als ich erwartet, ja vielleicht sogar als ich erhofft hatte. Aber als Mensch fange ich jetzt erst wieder an, ein normales Leben zu führen. Durch das Stipendium des Scholar Rescue Fund, durch die Universität glaube ich daran, dass meine Familie und ich wirklich neu anfangen können."
Schutz der Wissenschaftsfreiheit
Hinter jedem bedrohten Forscher steckt ein kritischer Geist. Durch den Schutz der Einzelnen schützt man die Wissenschaftsfreiheit an und für sich. Auf diesem Grundgedanken fußt die Arbeit von Organisationen wie dem Scholar Rescue Fund. Wieviele durch die Maschen fallen und keine adäquate Beschäftigung mehr finden, darüber gibt es keine verlässlichen Zahlen. Aber seit 2002 hat der Scholar Rescue Fund Stipendien an über 900 Forschende vergeben. Der Bedarf ist deutlich größer. Jedes Jahr gibt es neue Rekordzahlen. Seit 2015 hat Deutschland ein zusätzliches, ein eigenes, nationales Schutzprogramm: die Philipp Schwartz-Initiative der Alexander von Humboldt Stiftung. Von ihr wird Anan unterstützt.
Housam, Anan, Olga und Ismael haben durch ihr Stipendium eine Eintrittskarte in die deutsche Forschungswelt. Eine neue Chance, Hoffnung. Im besten Fall hilft es ihnen, Zeit zu überbrücken, bis eine Rückkehr möglich wird. Sie alle wollen gerne nach Hause. Wenn das nicht geht, ist das langfristige Ziel der Hilfsprogramme, neue Perspektiven zu geben. In Deutschland. In einem anderen, sicheren Land. In der Wissenschaft oder in der Wirtschaft. Nur – funktioniert das so einfach?
Die letze Chance
Anfang 2018. Ismael ist seit knapp anderthalb Jahren in Deutschland. Er ist von Syrien in die Türkei geflüchtet und von dort mit einem Stipendium des Scholar Rescue Fund nach Deutschland gekommen. Neben sich das ausgedruckte Manuskript, arbeitet er sich auf dem Bildschirm durch rote Markierungen. Es sind nur noch ein paar Kleinigkeiten, die für die endgültige Fassung korrigiert werden müssen. Es läuft gut. Die Publikation, an der er gerade sitzt, ist die vierte, an der er seitdem mitgearbeitet hat.
"Es ist unglaublich, dass ich hier bin, denn es ist so schwer, ein Visum zu bekommen. Ich hatte zuerst eine Zusage aus Utah in den USA, um dort mit meinem Stipendium einen Postdoc zu machen. Also okay, wir [meine Familie und ich] haben Visa beantragt und nach sechs Monaten wurde der Antrag abgelehnt. Man denkt, das war‘s. Und dann danach … wow! Wir konnten die gute Nachricht gar nicht fassen."
Fast wäre es auch in Deutschland nichts mehr geworden.
"Mein Pass war kein Jahr mehr gültig und es war wirklich die letzte Chance, die Türkei zu verlassen."
Den Pass einfach verlängern kann er nicht. Er und seine Familie sind illegal in die Türkei gekommen. In Syrien wird Ismael als fahnenflüchtig gesucht. Darauf steht Todesstrafe.
Die ersten Monate war Ismael alleine hier. Hat eine Wohnung gesucht, sich um Plätze für seine Kinder in Schule und Kinderarten gekümmert. Das International Office der Universität hat ihm viel geholfen. Deutsch gelernt hat er nur wenig. Die Arbeitssprache ist Englisch. Wichtiger ist es, fachlich den Anschluss zu bekommen. Sein Steckenpferd ist die Erkundung von Grundwasser und die Untersuchung möglicher Quellen von Verunreinigungen.
Gleiche Grundlagen, anderes Niveau
"Ich arbeite in dem Bereich weiter, auf den ich auch vorher spezialisiert war: Spannungsfelder, elektromagnetische und magnetische Methoden. Die Grundlagen sind die gleichen, aber hier gibt es viel mehr Bewegung, höheres Niveau und mehr Theorie, also mehr Mathe, mehr Physik."
Im ersten Semester hat er die Vorlesungen seines neuen Chefs besucht, um methodische Lücken zu schließen.
"In Syrien habe ich etablierte Methoden angewendet. Und hier geht es darum, Methoden zu entwickeln und neue Ideen in die Wissenschaft einzubringen. Das ist schon ein Unterschied."
Er arbeitet viel, betreut Studenten und Doktoranden. Um schnell viel publizieren zu können, kollaboriert er nebenbei mit alten Kollegen aus Ägypten. Dort hat Ismael promoviert.
Eine Professur in Ägypten – wäre das eine Option?
"Ja, das wäre eine Überlegung, aber so leicht geht das nicht. Ich habe keinen gültigen Pass mehr. Mit meinem deutschen Aufenthaltstitel kann ich innerhalb der EU reisen und umziehen. Aber wenn ich in ein arabisches Land will, brauche ich ein Visum und dafür einen Pass."
Seine Finanzierung läuft damals noch ein halbes Jahr. Was danach kommt? Wird sich zeigen. Seine Frau ist Lehrerin und muss Deutsch lernen, bevor sie arbeiten kann. Fürs erste hängt alles von seinem Einkommen ab.
Zurück auf Kurs
Mitte Mai 2018. Housam und Anan sind seit fast vier Jahren in Deutschland. Vor zwei Jahren hat Housam sein Stipendium an der Uni angetreten.
Es ist ein warmer, fast heißer Tag. Anan trägt ein Sommerkleid, sie ist außer Atem vom schnellen Gehen. Housam macht Witze: 15 Minuten zu spät, das ist das deutsche akademische Viertel – er findet, Anan ist schon sehr gut integriert.
Das Café ist unweit des Hauptgebäudes der Kölner Uni, aber auf der Terrasse mit Blick auf grüne Wiesen ist es fast idyllisch. Housam's Büro ist gleich um die Ecke. Wie fühlt er sich nach fast zwei Jahren zurück in der Wissenschaft? Ist er weiter Flüchtling?
"Es macht mir nichts aus, Flüchtling zu sein – ich meine, das ist nun mal so und ich kann das nicht ändern. Aber es hat sich nicht gut angefühlt, auf diesen Status reduziert zu werden. Ich bin ein Mensch. Ich bin ein Vater. Und all sowas. Inzwischen ist die Situation ganz anders. Ich arbeite das, wofür ich ausgebildet bin, ich meine Forschung und an der Uni zu lehren. Ich bin wieder auf Kurs."
Auch Anan arbeitet nicht weit von hier. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für International Peace and Security Law.
"Ich habe nicht vergessen, dass ich ein Flüchtling bin, aber das ist nicht mehr mein Lebensmittelpunkt. Ich arbeite jetzt. Ich bin Wissenschaftlerin. Wenn ich mich jetzt vorstelle, sage ich: ‚Ich bin Wissenschaftlerin an der Uni Köln‘. Ich bin sehr stolz auf meine Arbeit und ja - glücklich. Ich arbeite zum Syrienkonflikt und über die Möglichkeiten zur völkerrechtlichen Aufarbeitung."
In ihrer Doktorarbeit hat Anan sich damit beschäftigt, wie man internationales Strafrecht im Mittleren Osten umsetzen könnte. Nach dem Arabischen Frühling haben ihre Konzepte und Ideen eine neue Relevanz bekommen.
"Ich durfte nicht über Menschenrechte reden"
"Ich werde die Arbeit so überarbeiten, dass sie Bezug nimmt auf das, was in der arabischen Welt in den letzten Jahren geschehen ist. Es gab einige Präsidenten wie zum Beispiel Hosni Mubarak, die durch inländische, nationale Gerichte bestraft wurden. Aus meiner Sicht waren diese Prozesse nicht zielführend. Sie haben für die Menschen keine Gerechtigkeit gebracht, denn viele Verbrechen sind unbestraft geblieben. Wenn man internationale Verbrechen durch ein inländisches Gericht behandeln lässt, dann kann man davon ausgehen, dass die Richter nicht wirklich neutral sind. Die alte Regierung könnte sich einmischen oder die neue, das wäre dann Rache, keine Gerechtigkeit.
Aber wenn die Schuldigen vor ein internationales Strafgericht gebracht werden, bringt das auch keine Gerechtigkeit. Denn die Leute, die den Verbrechen zum Opfer gefallen sind, müssen sehen und spüren, dass Recht gesprochen wurde. Zum Beispiel: Wenn jemand in Syrien einen Massenmord, ein Massaker begangen hat, dann werden es die Syrer nicht als Bestrafung empfinden, wenn der Schuldige lebenslange Haft verbüßen muss. Natürlich darf man die Leute auch nicht nach syrischem Recht hängen oder zum Tode verurteilen, wir müssen uns an das Völkerrecht halten. Aber wir müssen einen Mittelweg finden, wo das Urteil bedeutsam ist auf völkerrechtlichem Niveau und für die Menschen vor Ort."
Erstmal wird das einfach ein Buch, aber dabei muss es nicht bleiben. Ihr Chef ist Mitglied der deutschen Regierungsdelegation in der Staatenversammlung des Internationalen Gerichtshofs. Wenn es zu einer juristischen Aufarbeitung des Syrienkonfliktes käme, wäre Anan am richtigen Ort, um gehört zu werden.
Hat sie das Gefühl, ihr Leben hat sich verändert, seit sie in Deutschland wohnt?
"Ich hätte nie angenommen, dass mein Leben so eine Wendung nimmt. Dass ich in Deutschland überhaupt arbeiten kann. Ich dachte, ich habe eine Festanstellung an der Fakultät für Jura in Syrien und das mache ich, bis ich sterbe. Aber das Problem in Syrien war – ich durfte nicht über internationales Strafrecht lehren. Ich durfte nicht über Völkerrecht reden. Mir wurden andere Lehrinhalte vorgeschrieben. Ich durfte auch nicht über Menschenrechte reden. Obwohl ich eine Festanstellung, ein geordnetes Leben hatte, eine gute Anstellung – ich habe mich gefühlt, als wäre ich tot. Als ich hierher gezogen bin, war es genau andersherum. Ich lehre gar nicht mehr – aus vielen Gründen, auch wegen der Sprache. Aber ein anderer Grund ist, dass ich Zeit brauche, mich auf meine Publikationen zu konzentrieren. Ich muss die Lücke in meinem Lebenslauf ausgleichen. In Syrien konnte ich ja nichts veröffentlichen. Ich konzentriere mich aufs Schreiben und ja – ich fühle mich frei!"
"Sie fanden meine Spezialisierung einfach uninteressant"
Und Housam, wie erlebt er seinen Neustart in Deutschland? Die Stirn legt sich in Falten. Im Vergleich mit Anan ein bisschen komplizierter, meint er. In Syrien hat er vor allem geforscht. Als Kritiker der Regierung durfte er nicht an der Uni lehren.
"Ich habe hier die Chance auf eine ganz normale Uni-Karriere bekommen, mit Lehre und was dazu gehört. Womit ich mich in meiner Forschung beschäftige, das musste ich ändern. Aber ich versuche meinen Hintergrund als Philosoph zu nutzen."
Was genau das bedeutet, erzählt er erst später, in seinem Büro.
"Ich bin auf Hermeneutik spezialisiert. Dabei geht es viel um die Interpretation von Texten. Als ich herkam, hat das International Office im Fachbereich für Philosophie nachgefragt, ob die mich für zwei Jahre als Gastwissenschaftler nehmen, ein Stipendium habe ich ja mitgebracht. Aber dort sagte man: Hermeneutik – bei allem Respekt, das ist keine Philosophie, das ist Geschichte der Philosophie. Ich bin dort also nicht aufgenommen worden. Sie fanden einfach meine Spezialisierung uninteressant."
Er ist dem Orientalischen Seminar zugeordnet. An seine frühere Forschung kann er nicht wirklich anknüpfen. Er hat viel Zeit damit verbracht, Wissenslücken zu schließen. Publiziert hat er kaum und das, was er geschrieben hat, ist auf Arabisch.
In Gedanken in der Türkei
Olga legt ihr Handy beiseite. Kurz darauf summt es schon wieder. Sie ist schon fast zwei Jahre in Deutschland, aber in ihrem Kopf ist sie oft anderswo.
"Ich bin in meinen Gedanken und mit meinen Gefühlen immer noch sehr in der Türkei. Es ist manchmal schwer, das zu tun, warum ich eigentlich hier bin, denn eigentlich wollte ich ja nicht ins Ausland gehen, für immer. Ich möchte wirklich gerne zurück – Ich hoffe also einfach, das hier ist nur eine vorübergehende Lösung um zu überleben."
Heute haben Freunde von ihr eine Gerichtsverhandlung. Ihnen wird Terrorismus vorgeworfen – weil sie eine Petition unterzeichnet haben. Den ganzen Morgen hat sie den Prozess verfolgt.
"Es ist also nicht so, als ob ich mich hinsetze, alles vergesse und erstmal die Daten fertig auswerte. Andererseits gebe ich mir Mühe, bei der Forschung am Ball zu bleiben. Wenn ich nicht arbeite, fühle ich mich leer."
Neben ihrem angestammten Forschungsfeld, der Geschlechteridentität, hat die Psychologin angefangen, sich für akademische Freiheit einzusetzen. Sie gibt dazu Seminare, unterstützt Solidaritätsaktionen und beteiligt sich auch an wissenschaftlichen Studien.
Zurück auf Start
"Ich habe eigentlich das Gefühl ich schaffe nicht genug, aber als es kürzlich darum ging, mein Stipendium zu verlängern und ich dafür meinen Lebenslauf an die Fachbereichsleitung schicken musste, haben sie mir gratuliert – sie meinten sie wären beeindruckt, wie produktiv ich bin. Ich bin unzufrieden mit mir, ich denke ich bin nicht konzentriert genug, liefere nicht genug, keine Qualität – aber sie haben mir viel Wertschätzung entgegengebracht – vielleicht war ich mir selber gegenüber nicht hundertprozentig fair."
Gerade erst hat Olga Bescheid bekommen: Ihr Philipp-Schwartz-Stipendium ist um ein weiteres Jahr auf insgesamt drei Jahre verlängert worden ist. Das bedeutet ein Jahr mehr in Sicherheit.
"Als ich die Türkei verließ, habe ich meine quasi-Festanstellung verloren. Und Wissenschaft ist ein bisschen wie Militärdienst. Es gibt eine sehr starke Hierarchie, in der man sich hocharbeiten muss. Ich bin jetzt zurück auf Start gezogen. Nachwuchswissenschaftlerin mit Zeitvertag. Ich muss die ganze Leiter wieder hoch klettern und das ist schwer, denn ich weiß nicht wie und wo."
Prekariat als Normalzustand
Anans Stipendium ist gerade ausgelaufen. Sie hat sechs Monate Verlängerung bekommen und danach ein Angebot für eine Teilzeitstelle bei ihrem Chef.
"Er sagt, wir verlängern es erstmal um ein Jahr, aber ich mache mir keine Sorgen."
Housams Stipendium vom Scholar Rescue Fund endet in drei Monaten.
"Ich meine, hier im deutschen Wissenschaftssystem muss man eigentlich mit Anfang vierzig entscheiden, wie es weiter geht. Wenn man keine Chance hat, in der Wissenschaft zu bleiben, sucht man sich andere Karrierewege. Ich bin mit Mitte vierzig hierhergekommen."
Ismael hat noch ein halbes Jahr. Er hofft, eine Anschlussfinanzierung über die Volkswagenstiftung zu bekommen, die auch Mittel speziell an geflüchtete Wissenschaftler vergibt.
"Du greifst immer nach dem nächsten Strohhalm – ich wusste das vorher nicht, aber ja - mir wurde gesagt, so ist es hier und ich muss einfach weiterkämpfen. Das Problem ist für alle Nachwuchswissenschaftler das gleiche. Sie wissen nicht wie es weitergeht."
Über 90 Prozent der Beschäftigten in Wissenschaft und Forschung in Deutschland haben Zeitverträge. Durchschnittliche Laufzeit circa zwei Jahre. Professuren sind quasi die einzigen Festanstellungen. Die Schutzprogramme richten sich an Forschende in mittleren und fortgeschrittenen Karrierestadien, die in ihrer Heimat oft als Hochschullehrer feste Arbeitsverträge hatten. Sie kommen zu dem Zeitpunkt in das System, an dem der Konkurrenzkampf am schärfsten ist.
Nach dem Stipendium
Ein Jahr später im Mai 2019. Housam und Anan sind seit fast fünf Jahren in Deutschland. Ihre Stipendien sind ausgelaufen. Aber Housam, der Philosoph, hat eine neue Stelle.
Ab Dezember arbeitet er in einer Forschungsgruppe in Leipzig. Vier Tage die Woche wird er dort sein, den Rest der Zeit bei der Familie in Köln. Das ist erstmal der Plan.
Die Stelle wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG finanziert. Wieder aus Mitteln, die speziell für Geflüchtete zur Verfügung gestellt werden. Der Vertrag gilt zunächst für anderthalb Jahre und kann auf insgesamt drei Jahre verlängert werden. In seinem Projekt geht es um interkulturelle Missverständnisse. Er bleibt damit ein Stück weit bei dem, was in Deutschland zu seinem Thema geworden ist: Orientalistik. Gleichzeitig knüpft er an seine eigentliche wissenschaftliche Expertise an.
"Das erste Projekt, das mich wirklich interessiert."
Eigentlich sind das gute Nachrichten. Aber Housam und Anan geht es nicht gut.
Verfolgt von der Heimat
"Die Situation in Syrien stabilisiert sich, aber es geht den Menschen sehr schlecht und Stabilität bedeutet nur, das wird für immer so bleiben. Es gibt keine Hoffnung mehr auf Veränderung. Für uns ist es wie eine Heimsuchung. 2013 dachten wir – okay wir schaffen einen Neuanfang. Aber wir werden immer noch jeden Tag von Syrien verfolgt. Jeden Tag sagen wir zueinander: "Lies nicht die Nachrichten, guck nicht nach, was in Syrien passiert ist!" Ich sage es Anan und sie sagt es zu mir. Und jeden Tag fragt einer von uns: Hast du das gehört? Weißt du, was passiert ist? Hast du das Kind gesehen? Ich denke, meine Definition von Integration war es, sich wieder "normal" zu fühlen. Aber ja - wir werden nicht mehr normal"
Für Anan ist die Situation auch in Hinblick auf ihre Arbeit belastend:
"Ich arbeite zum Syrienkonflikt. Über Regeln und Gesetze. Und ich habe das Gefühl, dabei geht es um Zukunft. Aber die tatsächliche Situation verlangt dringend, dass etwas passiert. Kinder sterben vor Hunger. Die Menschen leiden, es gibt keine Hoffnung für sie. Und ich bin Syrerin. Ich bin hier. Ich fühle mich schuldig. Ich fühle mich schuldig, dass ich hier bin und ihnen nicht helfen kann."
Fuß zu fassen dauert fünf bis zehn Jahre
"Und ich frage mich, was kann ich tun? Und mein Chef sagt: Anan, das beste was du machen kannst, ist zu arbeiten. Wenn du deine Arbeit machst, kann das den Syrern in der Zukunft helfen. Aber ich, ich leide jetzt. Die Syrer leiden jetzt! Sie wollen keine Gerechtigkeit. Sie wollen essen.Und ich sitze hier und analysiere mit juristischem Blick, was die Möglichkeiten in der Zukunft sind. Aber im echten Leben sterben Menschen und das Gesetz tut gar nichts. Eigentlich müsste ich arbeiten. Mir wird so viel gegeben und ich schaffe nichts."
Die Erfahrungen der schon länger existierenden Schutzprogramme zeigen: Es dauert fünf bis zehn Jahre, ehe Wissenschaffende im Exil richtig Fuß fassen. Die allermeisten möchten in der Wissenschaft bleiben. Deutsche Hochschullehrer, die im Rahmen der Philipp Schwartz-Initiative als Mentoren fungierten, sahen dafür in fast der Hälfte der Fälle nur geringe Chancen. Von den inzwischen 112 Alumni der Philipp Schwartz-Initiative haben rund die Hälfte nach Ablauf des Stipendiums eine Anschlussfinanzierung gefunden.
Eine Zukunft in der Wissenschaft?
Frühjahr 2021. Ismael und Olga sind viereinhalb Jahre in Deutschland. Housam und Anan etwas mehr als sechs. Alle vier arbeiten noch an der Universität. Anan ist die Einzige, die eine Finanzierung hat, die nicht an ihren Status als gefährdete Forscherin gekoppelt ist. Ihr Chef fördert sie sehr. Sie ist Mitglied in einem Komitee der International Law Association, einer NGO, die die Vereinten Nationen berät. Mit der Überarbeitung ihrer Doktorarbeit ist sie immer noch nicht fertig. Sie ist müde.
"Meine Gedanken sind nicht in Deutschland. Ich wünschte, sie wären hier. Aber in Gedanken bin ich in Syrien."
Housam hat seinen Vorsatz wahr gemacht und auf Englisch veröffentlicht. Letztes Jahr hat er zum ersten Mal in Deutschland einen wissenschaftlichen Workshop organisiert. Er ist noch knapp anderthalb Jahre finanziert. Für danach versucht er, reguläre Fördermittel der DFG einzuwerben.
"Ich muss realistisch sein. Um weiter akademisch zu arbeiten gibt nur zwei Möglichkeiten: wissenschaftlicher Mitarbeiter, das bedeutet, Arabisch unterrichten, oder ich schaffe es, Geld von der DFG einzuwerben. Ob ich eine echte Chance habe, weiß ich bei beidem nicht, aber ich werde alles geben. Wir werden sehen, was rauskommt. Rein rational sage ich, es ist sehr, sehr unwahrscheinlich, dass es mit der DFG klappt.
Rückkehr ins Ungewisse
Olga, die Psychologin, hat vierunddreißig Präsentationen und Workshops gehalten, sechs Seminare gegeben und sieben Publikationen verfasst. Trotzdem fühlt sie sich nicht in der deutschen Forschungslandschaft integriert. Nebenbei engagiert sie sich für die Off-University, ein Projekt, das politisch Verfolgten arbeitslosen Akademikern die Möglichkeit gibt, Geld durch Online-Vorlesungen zu verdienen. Sie selber ist derzeit durch die "Akademie im Exil" finanziert, ein weiteres Programm zum Schutz akademischer Freiheit. Im Sommer läuft das Stipendium aus.
"Wie es aussieht, werde ich im August zurück in die Türkei gehen."
Eine Entscheidung aus familiären Gründen, aber auch aufgrund der unsicheren Zukunftsperspektive in Deutschland. Keine der regulären Stellen, auf die sie sich in direkter Konkurrenz mit Deutschen beworben hat, hat sie bekommen. Ob sie in der Türkei an der Universität trotz ihres Engagements für die Wissenschaftsfreiheit Arbeit bekommt, weiß sie noch nicht.
"Ich kann mich an niemanden erinnern, der in die Türkei zurückgegangen ist und an einer Uni angestellt wurde. Ich habe sehr gemischte Gefühle. Wenn ich darüber spreche, dann klingt es wie eine Reise ins Ungewisse. Aber die Situation ist auch ungewiss."
Eine Zukunft in Deutschland
Ismael hat sieben Artikel veröffentlicht. Zurzeit wird er von der DFG finanziert – wieder über Mittel, die speziell für geflüchtete Forschende ausgeschrieben werden. Zwei Jahre hat er noch. Danach? Weitersehen.
"Wenn es darum geht, was ich gerne tun würde, dann sage ich: das, was ich tue. Universität, Forschung. Aber ob das klappt, hängt denke ich nicht von dem ab, was ich gerne hätte. Ich habe nicht den Luxus, mir das auszusuchen. Ich nehme es Schritt für Schritt und wir werden sehen."
In einem seiner Forschungsprojekte hat er eine neue Methode entwickelt mit der man nicht-explodierte Bomben auffinden kann. Ursprünglich ging es dabei um Blindgänger aus dem zweiten Weltkrieg. Jetzt entwickelt er den Ansatz so weiter, dass er im Wiederaufbau in Syrien benutz werden könnte.
Seine Zukunft sieht er in Deutschland – allein schon wegen der Kinder. Sie wollen nicht mehr umziehen, sprechen besser Deutsch als Arabisch, fühlen sich wohl.
"Nun ja, ich denke es ist zur besten Möglichkeit geworden. Ich habe Glück hier zu sein."