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Wort des Jahres
Was Sprache aus "Flüchtlingen" macht

Wenn es ein Thema gab, das das Jahr 2015 bestimmt hat, dann die Bewegung von hunderttausenden Flüchtlingen nach Europa. Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat "Flüchtlinge" deswegen zum Wort des Jahres gekürt. Ein Begriff, der durchaus umstritten ist. Denn Sprache macht Politik.

Von Stefan Fries |
    Das Wort "Flüchtlinge" steht mit weißer Kreide auf einer dunkelgrünen Tafel.
    "Flüchtlinge" ist für die Gesellschaft für deutsche Sprache das Wort des Jahres 2015. (Deutschlandradio / Stefan Fries)
    Laut der Jury steht das Wort nicht nur für das beherrschende Thema des Jahres, sondern es sei auch sprachlich interessant. Der Begriff wurde aus dem Wort "flüchten" und dem Ableitungssuffix "-ling" gebildet, was soviel bedeutet wie eine "Person, die durch eine Eigenschaft oder ein Merkmal charakterisiert ist". "Für sprachsensible Ohren", so die Jury, klinge es "tendenziell abschätzig" oder nach hilfsbedürftigen Menschen.
    Tatsächlich wurde in diesem Jahr oft über Begrifflichkeiten im Zusammenhang mit den Flüchtlingsbewegungen und den Protesten dagegen diskutiert.
    Sprache habe immer auch einen politischen Aspekt, betont die Sprachforscherin Constanze Spieß von der Universität Graz: "Die Verwendung der Sprache geschieht immer aus einer weltanschaulichen Perspektive", sagte sie im November dem Evangelischen Pressedienst (epd). Und die Germanistin und Journalistin Sieglinde Geisel konstatierte im Deutschlandradio Kultur:
    "Sprache ist ein Instrument der Politik, auch wenn wir uns dessen oft nicht bewusst sind. Mit Worten deuten und ordnen wir die Welt: Wie wir die Menschen benennen, die nun nach Europa kommen – aus welchen Gründen auch immer – hat Einfluss darauf, wie wir sie behandeln."
    Sprache als Instrument der Politik
    Der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch von der Freien Universität Berlin hat in seinem "Sprachlog" schon im Jahr 2012 ausführlich dargelegt, dass einige Menschen mit dem Begriff "Flüchtling" etwas Negatives konnotieren, und stützt damit die Argumentation der Gesellschaft für deutsche Sprache. Denn die Mehrzahl der Wörter, die nach dem gleichen Muster gebildet wurden, seien negativ konnotiert. Und: "Die dominanten Muster sind die aus Adjektiven abgeleiteten Wörter (die durchgängig negativ konnotiert sind)" – wie Rohling, Sonderling, Wüstling – "und die passivischen Wörter (die durchgängig Abhängigkeitsverhältnisse suggerieren)" – wie Prüfling, Säugling, Sträfling.
    Wie groß der Einfluss von Sprache auf die politische Wahrnehmung ist, zeigte sich im Sommer, als ein alternativer Begriff aufkam. Der Journalist und Blogger Sascha Lobo schlug dem bayerischen Innenminister Joachim Herrmann in der Sendung "Maybrit Illner" im ZDF vor: "Nennen wir die Flüchtlinge doch Vertriebene". Herrmann sprach daraufhin von einer "Beleidigung", wenn man sich nur ansehe, wer da vom Balkan alles herkommen wolle, berichtete der Spiegel anschließend.
    Dabei beschreibt "Vertriebene" oder "Heimatvertriebene" rein sprachlich ebenfalls die Tatsache, dass Menschen ihre Heimat verlassen mussten; in Deutschland steht der Begriff jedoch vor allem für Deutsche, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Westen flüchten mussten, weil Teile Deutschlands an Russland, Polen und die Tschechoslowakei fielen.
    Sind Flüchtlinge auch Vertriebene?
    Geisel sagte im Deutschlandradio Kultur: "Hier geschieht weit mehr als eine bloße Umwidmung: Wir haben es mit einem hochpolitischen Deutungsakt zu tun. Wer 'Heimatvertriebene' sagt, spricht Menschen, die aus Syrien, Eritrea oder Afghanistan zu uns kommen, den gleichen Status zu wie jenen zwölf Millionen Deutschen, die nach 1945 aus den ehemaligen Ostgebieten in den Westen geflohen sind. Damals, im kriegszerstörten Land, scheint man mit den Neuankömmlingen irgendwie zurechtgekommen zu sein."
    Viele Menschen verwenden Begriffe aus der Flüchtlingspolitik synonym. Dabei gibt es durchaus Unterschiede zwischen Flüchtlingen, Kontingentflüchtlingen, Asylbewerbern und geduldeteten Asylbewerbern, Asylberechtigten, Migranten und Menschen unter subsidiärem Schutz.
    Der Begriff "Migrant" ist dabei noch relativ neutral, verweist er doch lediglich auf die Wanderungsbewegung eines Menschen; im Wort "Flüchtling" schwingt dagegen bereits auch die Ursache dafür mit, denn eine Flucht geschieht nicht aus eigenem Antrieb. Sieglinde Geisel verwies im Deutschlandradio Kultur auch auf positiv besetzte Begriffe für "Flüchtlinge", etwa Neuankömmlinge oder Einwanderer: "Wer diese Worte benutzt, signalisiert Willkommensbereitschaft."
    Die Begriffe Asylberechtigte, Migranten, Flüchtlinge, Vertriebene, Asylbewerber stehen auf einer Tafel.
    Für den Begriff "Flüchtlinge" gibt es auch alternative Begriffe. (Deutschlandradio / Stefan Fries)
    Was Sprachbilder mit uns machen
    Noch wertender können Sprachbilder sein, unterstrich Sprachforscherin Spieß von der Uni Graz: "Es ist immer wieder von 'Flüchtlingswellen', einer 'Flüchtlingsflut' oder von 'einzudämmenden Flüchtlingsströmen' die Rede. Diese Metaphern stammen aus dem Bereich der Naturkatastrophen. Dadurch wird mit dem Begriff der Flüchtlinge Gefahr verbunden."
    Und Geisel ergänzt: "Menschen sehen wir dabei keine, denn die Worte haben sie in unserem Bewusstsein in reißende Wassermassen verwandelt. Wir bekommen Panik und sind bereit, alles zu tun, um diese bedrohliche (und wohl auch schmutzige) Flut draußen zu halten. Wer die Wassermetaphern benutzt, will damit genau das erreichen."
    Was kritisieren Asylkritiker?
    Eine ähnliche Diskussion über Begriffe entsponn sich dieses Jahr auch über Teilnehmer der Pegida-Demonstrationen in Dresden und anderen Städten sowie vor Flüchtlingsunterkünften einerseits und Angreifern auf diese Heime andererseits. Sie wurden zunächst oft als "Asylkritiker" bezeichnet. Damit folgten Journalisten einer Art Eigenbeschreibung rechter Gruppierungen, sagte Sprachwissenschaftler Stefanowitsch im August im Deutschlandfunk.
    Auch die größte deutsche Nachrichtenagentur dpa, von der viele Medien einen Großteil ihrer Nachrichten beziehen, sah sich Vorwürfen der Verharmlosung ausgesetzt. Chefredakteur Sven Gösmann reagierte schließlich auf die Kritk: "Das sind missverständliche Begriffe, die den tatsächlichen Sachverhalt verschleiern und beschönigen". Nachrichtenchef Froben Homburger kündigte an, bei den Bezeichnungen präziser zu werden.
    Wie bedeutsam dieser Einstellungswandel ist, zeigte sich vor allem in einigen wütenden Reaktionen auf die Änderung. Von "Linksfaschisten", "Staatszerstörern", "Meinungsverbrechern" und "Manipulationsterroristen" war die Rede. Damit zeigten die Kritiker jedoch zugleich, wie wichtig sie selbst die Sprache nehmen.