Lerke von Saalfeld: Yoko Tawada, ihr jüngster Roman "Etüden im Schnee" ist eine skurrile, bizarre, lustige und traurige Geschichte über drei Generationen von Bären. Sie beginnt im Moskau der Sowjetzeit, nächste Station ist West-Berlin, danach wandert die Bärin nach Kanada aus, dort wird ihre Tochter Toska geboren, die kommt zurück in einen DDR-Zirkus in Ostberlin, dann wechselt sie nach West-Berlin, wo dann schließlich Toskas Sohn Knut, das spätere Hätschelkind der Nation, geboren wird.
Nun gibt es verschiedene Lesarten: Man kann diesen Roman lesen als einen Künstlerroman, denn die erste Bärin ist Schriftstellerin und soll ihre Autobiografie schreiben; es könnte eine Persiflage auf den Literaturbetrieb sein, denn die Bärin wird getriezt, gegängelt und überwacht, Literaturkonferenzen kommen ihr wie Zirkus vor; es könnte aber auch eine Tier-Parabel sein, denn auch die Menschen verhalten sich wie Raubtiere; oder sogar eine Persiflage auf die sogenannte Migrantenliteratur, Autoren, die im Exil leben oder außerhalb ihres Mutterlandes und mit einer neuen Sprache umgehen müssen. Worauf kam es Ihnen an bei der Gesamtidee dieser sehr eigenwilligen Bärengeschichte?
Yoko Tawada: In meinem Kopf sind viele Sachen zusammengekommen, und alles war mir wichtig, auch die Kälte. Ich dachte früher immer, dass es schöner ist, wenn die Sonne scheint und wenn es warm ist, aber ich habe in Norddeutschland und auch durch Reisen in Skandinavien die Kälte zu schätzen gelernt, wie schön der Schnee ist und die Kälte, Eis und so weiter, durch die Augen der Eisbären die Welt betrachtet.
Ich habe gelesen, dass kein anderer deutscher Politiker so oft in der "New York Times" besprochen wurde wie Knut. Er war die internationalste Person Deutschlands. Der war kein Zirkustier und trotzdem habe ich gemerkt, dass er auf das Publikum reagierte und bestimmte Dinge machte. Und das merke ich auch bei mir. Ich schreibe Bücher, aber auch zunehmend Performance auf der Bühne, weil eine kleine Lesung ist ja auch schon eine Performance, man kommuniziert mit dem Publikum, man reagiert auf der Bühne, und dann ist die Grenze zwischen Zirkus und freier Kunstbühne oder zwischen freiem Willen und gezwungenem Akt fließend oder relativ. Diese Frage hat mich sehr beschäftigt.
Von Saalfeld: Ihr Ausgangspunkt war nun also dieser Knut, der kein Zirkustier ist, der die Zeitungsseiten von oben bis unten gefüllt hat in den vier Jahren, in denen er gelebt hat. Er ist das Endglied dieser genealogischen Kette. Am Anfang steht diese Bärin in Moskau, aber sie ist ein Zwitterding zwischen Bär und Mensch, kann schreiben und schreibt ihre Autobiografie mit dem wunderbaren Titel "Applaussturm für meine Tränen", und da stellt sie ganz schnell fest, wie man als Autorin an die kurze Leine eines Lektors genommen wird, und sie gerät immer mehr in Auseinandersetzung, weil das, was sie will, will der Verlag oder der Verleger nicht. Die anderen Figuren, Toska und Knut, die gab es wirklich. Toska ist die Mutter von Knut. Sie haben auch eine Dompteuse aus der DDR, die real existierte. Wie ist in Ihrem Roman das Verhältnis Fiktion und Non-Fiction?
Tawada: Die Großmutter von Knut ist eindeutig eine fiktive Figur, aber ich habe als Kind, als ich fünf war, in Tokio den Moskauer Zirkus gesehen, und die Bären, die Dreirad gefahren sind, das hat mich schon damals beschäftigt. Ich habe mich gefragt, warum tun sie das, macht das Spaß oder sind sie gezwungen oder aus einem anderen Grund? Und jetzt wegen Knut habe ich mich wieder an diese Frage aus der Kindheit erinnert. Insofern ist es nicht ganz Fiktion, sondern auch aus meiner Biografie wiederum.
Von Saalfeld: Aus Ihrer Biografie ist ja auch die Besonderheit, dass sie keine nationale Identität haben. Sie kommen meinetwegen aus Grönland und ziehen dann durch die ganze Welt, normalerweise durch die Zoos, sie sind also nicht festlegbar auf ein Land. Ich denke, das ist auch eine Idee, die Ihnen sehr entgegenkommt.
Tawada: Das fand ich auch spannend, also schon in der Zeit des Kalten Krieges waren sie frei. Die haben die Grenzen nicht beachtet. Aber umso interessanter ist es, dass Knut zum Symbol der Nation wurde, nicht direkt, aber irgendwie, gerade eine solche Figur ist nicht frei von der Vorstellung der Nation. Japanisch ist meine erste Sprache, und bei der deutschen Sprache ist es noch eindeutiger, die kannte ich ja früher nicht, die war fremd, und die habe ich jetzt als Freundin gewonnen und damit arbeite ich. Die ganze Welt spielt als ein Organismus zusammen.
Von Saalfeld: Sie erwähnten gerade die Sprache, da gibt es ja auch ein Problem bei dieser ersten Bärin. Als sie nach Westberlin kommt, es ist immer noch vor dem Mauerfall, soll sie ihre Biografie weiterschreiben, und diese Bärin fängt an, Deutsch zu lernen. Sie will also ihre Autobiografie auf Deutsch schreiben. Der Lektor ist strikt dagegen und sagt, sie solle in ihrer Muttersprache schreiben und geht davon aus, weil sie aus Moskau kommt, Russisch sei ihre Muttersprache. Das stimmt natürlich nicht, und da entwickeln Sie so ein wunderbares Konfliktfeld, was ist die Sprache, was ist die Muttersprache. Die Bärin sagt auch, sie will Deutsch schreiben, weil eine Übersetzung immer mit Entstellungen des Textes verbunden ist und dem möchte sie vorbeugen. Ist das auch Ihre Erfahrung? Sie schreiben ja in beiden Sprachen, Deutsch und Japanisch.
Tawada: Ich finde zwar nicht, dass in der Übersetzung etwas verfälscht wird oder deformiert, sondern das ist die Interpretation der Übersetzer, und das finde ich auch gut, aber in diesem Fall wollte ich selber jedes deutsche Wort auswählen, weil das eine ganz riskante Balance-Arbeit war. Das heißt natürlich nicht, dass der Leser das liest, was ich beabsichtigt habe.
Von Saalfeld: Das transponieren Sie nun auf diese Bärin, die ihre Autobiografie, ihr Leben im Zirkus erzählen soll, und diese Bärin verselbstständigt sich immer mehr. Sie fängt ja auch an zu lesen, weil sie eine Buchhandlung entdeckt hat, Kafkas Ansprache an eine Akademie, also der berühmte Affe, oder Atta Troll von Heinrich Heine. Den Bären gefallen aber diese Adaptationen nicht. Sie haben sich sehr liebevoll in deren Denkweise hineinbewegt, sie zum Sprechen gebracht.
Tawada: Genau, und das macht man immer, wenn man eine Erzählung schreibt oder einen Roman. Die Figuren sind ja nicht die Autoren selbst. Das Problem ist aber in Europa, in Deutschland besonders wahrscheinlich, wenn die Tiere Hauptfiguren sind, dann sind das immer Kinderbücher. In der Erwachsenenliteratur dürfen die Tiere nicht Hauptfiguren sein. In Japan gibt es viele Romane, wo die Tiere Hauptfiguren sind. Warum geht es denn nicht hier? Ist es wirklich so, dass die Menschen über die Grenzen der Sprachen und Kulturen sich in andere Menschen hineinsetzen können, aber nie im Tier. Ist das wirklich nur hineininterpretieren, wenn wir aus dem Mund der Tiere sprechen oder ist es alles relativ? Ich sage Ich und das bin ich nicht, sondern ich muss in dieses Ich hineindenken.
Von Saalfeld: Eine andere Rolle spielt auch die Auseinandersetzung oder das Leben in der Diktatur, sei es in der Sowjetunion, sei es in der DDR in Ostberlin. Es wird etwas vorgegeben von Funktionären. Die Bären müssen sich darein schicken oder auch nicht. Es gibt auch einen lustigen Aufstand von neun Bären, die aus Moskau dem DDR-Zoo geschenkt wurden und die dann in den Streik treten und die auch sehr überheblich sind, weil sie aus einem großen sozialistischen Land kommen, während die DDR nur ein kleines Bruderland ist. Diese politischen Implikationen des Kalten Krieges, die Sie auch in diesen Roman eingebaut haben - war das von Anfang an die Absicht?
Tawada: Ja, die Sowjetunion war schon immer für mich von Interesse. In Japan habe ich russische Literatur studiert. Jetzt ist der Kalte Krieg vorbei, aber ich habe das Gefühl, dass man jetzt dieses Wissen sehr gut benutzen kann, um mit der Welt heute umzugehen. Was die Literatur uns anbietet, das sind Parodie, Satire, Lachen, Lust und so weiter.
Von Saalfeld: Für Ihre Verhältnisse ist das ja ein ungewöhnlich dickes Buch, es hat über dreihundert Seiten. Sonst lieben Sie eher die schlanke, die knappe Form. Wie kam es, dass Sie nun plötzlich so ausladend wurden, Yoko Tawada?
Tawada: Dieses Buch sieht ja eher aus wie ein Eisbär, so dick und mit dem Fell bezogen, das ist dem Tier entsprechend. Die drei Generationen, das hat schon eine Rolle gespielt. Ich habe noch nie drei Generationen Migrantenliteratur geschrieben, ich bin ja auch nicht in der dritten Generation in Deutschland, sondern ich bin ja nach Deutschland gekommen, als ich schon erwachsen war, Ich wollte mehr wissen, was das wohl heißt, diese drei Generationen, was bedeutet das?
Von Saalfeld: Sie schreiben ja auch, Exil ist ein Seiltanz, Sie arbeiten gerne mit den Bildern aus der Zirkussprache, der Akrobatik, und setzen sie dann in einen schillernden Zusammenhang mit der Menschenwelt. Exil ist für Emigranten eine Ur-Erfahrung, eigentlich für alle drei Bären.
Tawada: Fast alle Tiere sind in Berlin geboren, so wie die Berliner jetzt, und trotzdem ist irgendetwas noch da, diese Lust am Zoo ist verbunden mit der Vorstellung, dass sie aus der Ferne gekommen sind, was ja nicht stimmt. Dass man sich vorstellen kann, dass es überhaupt eine Ferne gibt, die halte ich schon immer noch für wichtig, und die zu inszenieren, ist ja nicht lügen, sondern das ist eine Kunst.
Yoko Tawada: "Etüden im Schnee"
Konkursbuch Verlag, 312 S., 12,90 Euro
Konkursbuch Verlag, 312 S., 12,90 Euro