Sie sind eine Herausforderung, aber auch "poetische Zonen des Lebens": Wenn Natalie Knapp von Umbrüchen und Übergängen schreibt, z.B. vom Mittelalter in die Neuzeit, von einer zur anderen Jahreszeit, von der Kindheit zur Pubertät, – dann betont sie das kreative Potential, das diesen Phasen innewohnt. Sich persönlich und gesellschaftlich weiterzuentwickeln, sei gerade angesichts der globalen Herausforderungen dringend notwendig:
"Im Moment haben wir auf allen Ebenen ganz ganz große, epochale Umbrüche zu verzeichnen. Das amerikanische Pew-Research-Center, das ist eines der größten unabhängigen Forschungsinstitute der USA, die haben vor kurzem eine Studie veröffentlicht. Da hatten sie 40 000 Menschen in über 40 Ländern befragt, was sie im Augenblick für die größte Bedrohung und die größte Verunsicherung halten: Und da hat sich eine Liste ergeben, die die Unsicherheit in unserer Zeit gut spiegelt: An allererster Stelle stand der Klimawandel, dann kam die globale ökonomische Instabilität, und an dritter Stelle stand der IS."
Im Umgang mit diesen Themen liegt das weltverändernde Potenzial, das nötig ist, so Natalie Knapp, um diese drei Systemkrisen erfolgreich zu bewältigen: "Es sind tatsächlich Systemkrisen, weil sie jeweils unsere Art zu leben ganz stark beeinträchtigen: Der Klimawandel bedroht eben unsere konsumorientierte Kultur, die globale ökonomische Instabilität bedroht auch unsere konsumorientierte Kultur, und der IS bedroht die gesamten Werte der westlichen Welt, die sich seit der Aufklärung entwickelt haben. Und es gibt zahlreiche Folgekrisen, wie z.B. die Flüchtlingskrise, mit der wir es jetzt gerade zu tun haben. Das ist eine Folge aus diesen drei Krisen, die sich da miteinander verwoben haben. Und es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als im Umgang und bei der Suche nach Lösungen für diese Krisen die Welt zu verändern."
Die Unsicherheiten beinhalten auch Chancen
Natalie Knapp möchte zu einem Perspektivwechsel anregen: Gerade die Unsicherheiten, die Ängste angesichts ökologischer und ökonomischer Krisen beinhalten auch Chancen. Genauso wie kritische Lebensphasen, z.B. der Übergang vom Arbeitsleben zum Rentendasein, aber auch Zeiten von Trennung oder Trauer, die uns aus unserer Komfortzone herauskatapultieren. "Wir haben uns angewöhnt, Unsicherheit grundsätzlich für etwas Entsetzliches zu halten. Wir leben in einer Kultur der Sicherheit, wir versuchen uns in allen Bereichen abzusichern, aber zu verstehen, dass immer, wenn sich etwas verändert, wir in eine Situation kommen, wo wir uns mit uns selbst und dem Leben nicht auskennen, immer dann wenn das Leben schöpferisch wird, entsteht eine Verunsicherung. Und jeder, der kreativ tätig ist, weiß das, dass man diese Verunsicherung zu einem Grad aushalten muss, damit etwas Neues entstehen kann. Wären wir nicht verunsichert, würden wir uns immer nur im Ablauf von Routinen weiterbewegen. Und insofern ist dieser geistige Perspektivwechsel schon mal enorm wichtig."
Dieser geistige Perspektivwechsel braucht seine Zeit. Wir müssen lernen, uns damit abzufinden, nicht alles kontrollieren zu können und aufhören, das Unabänderliche ändern zu wollen, wie schon der griechische Philosoph Epiktet meinte. Der freigelassene Sklave, der für seine Seelenruhe bekannt war, trat dafür ein, den Unterschied zu erkennen, zwischen dem, was in unserer Macht steht und was nicht. Die Akzeptanz und der Perspektivwechsel können auch Menschen mit traumatischen Erfahrungen helfen, ihnen sogar posttraumatisches Wachstum ermöglichen: Bei einer Langzeitstudie mit Überlebenden eines Fährunglücks in den1980er Jahren berichtete die Hälfte der Geretteten nach drei Jahren von positiven Folgen: Sie achteten mehr auf ihre Beziehungen, waren toleranter geworden und entschlossener, aus ihrem Leben etwas zu machen. Doch was erschwert vielen Menschen heute den Wechsel der Perspektive in krisenhaften Situationen?
Das Wir-Bewusstsein wieder zu Eigen machen
"Ich glaube, das größte Problem heute ist, dass wir in dieser Epoche, in der wir leben, das Individuum so stark zum Mittelpunkt gemacht haben. Das ist die große Errungenschaft der Aufklärung, das hat aber zur Folge, dass wir uns so stark auf unser eigenes Leben, unser eigenes individuelles Schicksal konzentrieren, dass wir überhaupt nicht mehr über die Zeitspanne eines Leben hinaus fühlen können. Wir können darüber hinaus denken, aber wir können es nicht wirklich fühlen. Denn unsere Gefühlswelt endet dort, wo unser eigenes Leben endet."
Das ist eine der zentralen Thesen von Natalie Knapp, dass die Diskrepanz zwischen Denken und Fühlen unsere Zukunftsfähigkeit behindert. "Für uns ist nichts relevant, was über unser eigenes Leben hinausreicht. Und es gibt durchaus andere Kulturen, in denen die Gemeinschaft einen höheren Stellenwert hat, die sehr viel mehr mitdenken für das, was zukünftige Generationen zu erleiden haben, weil diese Generationen gefühlsmäßig Teil der eigenen Identität sind. Und wir können nicht zurück zu diesem kollektiven Zeitalter, aber ich denke, wir müssen uns zusätzlich zu unserem starken individuellem Bewusstsein wieder dieses Wir-Bewusstsein zu Eigen machen, was es uns ermöglicht, in die Zukunft zu fühlen. Denn sonst ist die Grenze unseres Lebens immer die Grenze unserer Welt, und wir werden immer weiter Dinge tun, die zukünftigen Generationen massiv schaden."
Resonanz verwandelt beide Seiten
Nach uns die Sintflut, scheint die Devise zu sein. Um stärker den Generationsgedanken zu fördern, um lebendiger zu leben in persönlichen Beziehungen und nachhaltiger auf gesellschaftlicher Ebene, greift Knapp den Begriff der Resonanz auf, den der Jenaer Soziologe Prof. Hartmut Rosa derzeit erforscht: "Eine Resonanzbeziehung einzugehen bedeutet, bereit zu sein einer anderen Sache, oder einem anderen Menschen oder einer anderen Stimme zu begegnen, die uns antwortet. Eine Resonanzbeziehung setzt deshalb die Bereitschaft zur Öffnung voraus. Und Resonanz verwandelt immer beide Seiten auch. Also da wo ich mich mit jemanden auf einen Dialog einlasse, z.B. bei dem ich dem anderen wirklich zuhöre, wo ich ihn nicht instrumentalisiere, oder beherrschen oder überzeugen will, sondern wo ich mich in eine wirklichen Begegnung einlasse, ist das Ergebnis davon, dass wir beide uns in einer gewissen Form transformiert haben."
Eine Resonanzbeziehung schließt auch Widerspruch und Widerrede ein, so Hartmut Rosa. Wir fühlen uns lebendig, riskieren auch mal Fehler zu machen, funktionieren nicht nur in erstarrter Routine. Hartmut Rosa fordert deshalb: "Wir brauchen neue Formen erstens der politischen Auseinandersetzung, so dass man wieder feststellt, da geht es um eine Art von Antwortbeziehung zu anderen Menschen und zu öffentlichen Institutionen. Und zweitens muss diese Art des Antwortverhaltens dann auch gestaltende Konsequenzen für die Welt haben, so dass man möglicherweise etabliertere, verfeinertere Momente partizipativer Demokratie braucht."
Resonanzräume: "Der Moment in dem wir uns lebendig fühlen"
Auf individueller Ebene beobachtet Natalie Knapp schon sich öffnende Resonanzräume: "Das ist das, was im Augenblick geschieht, wenn Menschen hingehen und Essen kochen für Flüchtlinge oder was auch immer tun, weil sie unmittelbar emotional angesprochen werden und etwas in ihnen antwortet. Und das ist der Moment in dem wir uns lebendig fühlen und in dem wir wieder Lust haben zu handeln. Und diese Art von Resonanz wieder zu kultivieren und in den Mittelpunkt zu stellen, und zu zeigen, wie wichtig die für uns ist, auch für eine hohe Lebensqualität ist, dass es eben nicht nur um Konsum und Besitz geht, sondern darum zu spüren, dass mich etwas anspricht und dass etwas in mir darauf antwortet, und dass das das zentrale Element eines sinnhaften Lebens ausmacht."
Diese Resonanz im Kontakt mit anderen Menschen, mit der Natur, mit Musik, mit anderen ästhetischen oder kulturellen Erscheinungen ist für Natalie Knapp Sinnerfüllung. Darüber hinaus möchte die Philosophin anregen, gerade in unserer derzeitigen gesellschaftlichen Umbruchphase die Perspektive nicht nur zu wechseln, sondern auch zu weiten: "Und das nenne ich das geistige Immunsystem: Unsere Fähigkeit zu erkennen, dass wir nicht nur Individuen sind, die in diesem Moment ein persönliches Schicksal haben, son-dern auch die Fähigkeit besitzen, Teil von einem größeren Kulturgut zu sein, was wir weitertragen, was wir lebendig halten, was wir auch für die nächsten Generationen aufrecht-erhalten."