Das bedeutet gestalterische Herausforderungen für die Museen. Manches hierbei ist fragwürdig, sogar ein Flüchtlingsboot kann heute als museabel gelten. Insgesamt zeigt die Entwicklung jedoch, wie Bündnisse zwischen Bildung und Unterhaltung aussehen können.
Monika Boll beleuchtet in ihrem Essay Erwartungen und Haltungen bei Besuchern, Ausstellungsmachern, der Geschichtswissenschaft und Politik.
Museen, die deutsche Geschichte ausstellen, sind Teil des Selbstbildes der Bundesrepublik. Die großen Debatten, inwiefern Politik hierauf Einfluss nehmen darf, wurden bereits in den 1980er Jahren geführt. Gleich in seiner ersten Regierungserklärung von 1982 hatte Kanzler Helmut Kohl seine geschichtspolitischen Ambitionen mit dem Vorschlag verbunden, eine Sammlung zur Geschichte nach 1945 aufzubauen, auf die schließlich das Bonner Haus der Geschichte gründete. Wenig später regte der Westberliner Bürgermeister Richard von Weizsäcker die Planung eines Deutschen Historischen Museums in Berlin an.
Geschichtsmuseum als nationale Aufgabe
Dieser Vorschlag wurde 1985 von Kanzler Kohl zur nationalen Aufgabe erklärt. Die Gründungsphasen beider Häuser wurden von kritischen Einwürfen von Historikern, Philosophen und Schriftstellern begleitet, die vor einem politisch verordneten Geschichtsbild und der möglichen Wiederkehr des Nationalismus warnten. Ein solcher Generalverdacht findet sich heute nicht mehr. Eher sind es die große Popularität und die steigende Inszenierungsfreude der Museen, die Skepsis wecken. Schnell ist dann die Rede von der Eventkultur, gepaart mit dem Verdacht, hier ginge es um eine Austreibung des Geistes aus dem Museum.
Opulente Inszenierungen, neue Wahrnehmungsräume
Eine opulente Inszenierung an sich muss jedoch noch kein Sündenfall sein. Gestalterischer Aufwand gehört zum Wesen des Museums. Hierin unterscheidet es sich zum Beispiel von der historischen Gedenkstätte. Sie ist identisch mit dem authentischen Schauplatz und an diesem Ort verbürgten Objekten. Dagegen muss ein Wahrnehmungsraum im Museum erst hergestellt werden.
Museen sind in den Fokus eines neuen Freizeitverhaltens getreten, bei dem ein breites Publikum neugierig und aufgeschlossen Orientierung und Rückversicherung in der Vergangenheit sucht, aber ebenso auch Unterhaltung.
Hohe inhaltliche und gestalterische Herausforderungen
Die beiden großen Häuser in Berlin und Bonn, das Jüdische Museum Berlin und das neue Historische Museum in Frankfurt, verzeichnen jeweils zwischen 500.000 und 800.000 Besucherinnen und Besucher jährlich. Wie spiegelt sich das in den Präsentationen wider? Ausstellungen sind komplexe sinnliche Gebilde, die nicht allein Diskursivität vermitteln. Sie bilden ein Zusammenspiel aus Raum und Architektur, Grafik, Farbgestaltung, Objekten, Texten, Ton und bewegten Bildern. Um den inhaltlichen und gestalterischen Herausforderungen für ein großes Publikum gerecht zu werden, befinden sich viele Dauerausstellungen gerade in einer Neustrukturierung.
Showeffekte im Historischen Museum Frankfurt
Das zentral am Römer gelegene Historische Museum Frankfurt hat nach langer Umbauphase wieder geöffnet. Eine der Attraktionen befindet sich im unteren Geschoss. In der Mitte einer Rotunde steht ein riesiger Glaskörper von etwa drei Metern Durchmesser, der an eine Schneekugel erinnert. Hier erwartet die Besucherinnen und Besucher eine ausgeklügelte Dramaturgie mit Showeffekten. Der Blick führt zunächst hinab in einen Schacht, auf dessen Boden acht Stadtmodelle auf ihren Einsatz warten. Jedes Modell spielt mit einem Image von Frankfurt, etwa der Stadt der Banken, der Kriminalität, der Stadt der Kritik und der des Protestes. Zu letzterem Image gehören die Nationalversammlung in der Paulskirche von 1848, die Frankfurter Schule von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die Proteste gegen die Startbahn West oder das Frankfurter Occupy Camp von 2014.
Interaktion und Inszenierung vermitteln seriöse Inhalte
Nachdem die Besucher eines der Modelle per Touchscreen ausgewählt haben, wird es mithilfe eines kleinen Industrieroboters auf Augenhöhe heraufgefahren und rotierend und illuminiert vorgeführt. Zugleich werden auf die umliegenden Wände des Raumes weitere Informationen wie großformatige Bilder und markante Zitate zum jeweiligen Thema projiziert. Rund um die Glaskugel herrscht fast immer lebhaftes Gedrängel. Der Skeptiker mag fragen, ob es sich dabei um ein Spektakel handelt?
Ja, das tut es. Er wird weiter fragen, ob sich ein seriöses Museum so etwas leisten darf? Auf jeden Fall darf es. Schaulust und Schauwert sind die besten Vermittler für seriöse Inhalte. Sie gehören überdies zur Tradition des Museums des 19. Jahrhunderts. Die Hightech-Inszenierung in der Rotunde lässt sich als legitimer Nachfahre der gewaltigen 360‑Grad-Panoramengemälde betrachten. Eines der zauberhaftesten, das Panorama Mesdag aus dem Jahr 1881, kann man heute noch in den Niederlanden, in Den Haag besichtigen. Die Besucher bewegen sich dort inmitten eines perspektivisch raffinierten Rundgemäldes von 120 mal 14 Metern, das Aussicht auf Dünen und Strand des Fischerdorfes Scheveningen bietet.
Prinzip der Kunstkammer
Das Historische Museum Frankfurt greift ein weiteres traditionelles Gestaltungsprinzip auf, das an das Prinzip der Kunstkammer erinnert. Die Kunst- oder Wunderkammern der Renaissance und des Barock waren Universalsammlungen, wimmelnde Mikrokosmen, bei denen Rarität, Pracht und Opulenz im Vordergrund standen. In Frankfurt lässt sich sehen, auf welche Art diese Gestaltung funktioniert.
Es zeigt aber auch, wie Dokument und Inszenierung in ein prekäres Verhältnis geraten können. Die Präsentation entfaltet entlang der Zeitachse der Stadtgeschichte einen verschwenderischen Reichtum der Dinge. Neben Großobjekten wie der Frankfurter Küche von 1924, dem historischen Prototyp der modernen Einbauküche, finden sich kleinere Objekte in eleganten Vitrinen-Ensembles auf bordeauxroten Sockeln versammelt.
Deplazierte Zeugnisse des Holocaust
Darunter ein bemalter Schmuckteller, der das Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte im Frankfurter IG-Farben-Bau nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt, sowie ein kleines glitzerndes Hakenkreuz, das während der Nazizeit als Christbaumschmuck diente. Beide Objekte erscheinen kurios verfremdet, weil hier Bedeutung und Objektträger nicht übereinstimmen: das Hakenkreuz als Weihnachtsschmuck, das Hauptquartier der US Army in Gestalt eines dekorativen Wandtellers. Gleich daneben befinden sich aber auch zwei gar nicht kuriose, dafür authentische Zeugnisse des Holocaust: Eine rostige Dose Zyklon B, das Gift, das in den Gaskammern von Auschwitz eingesetzt wurde, und die sogenannte Boger-Schaukel, das Modell eines Folterinstrumentes, das im Frankfurter Auschwitzprozess eine wichtige Rolle spielte. Hier gerät das Prinzip Kunstkammer, das im Opulenten schwelgen will, zu einer unangemessenen Überformung des Grauens. Die Inszenierung wird den Dokumenten an dieser Stelle nicht gerecht, die Zeugnisse des Holocaust erscheinen deplatziert in der Edelvitrine.
Erstes jüdisches Museum als geschichtspolitische Zäsur
Zu den Geschichtsmuseen gehören auch die jüdischen Museen. Ihre Existenz stellte lange keine Selbstverständlichkeit in Deutschland dar. Als 1988 in Frankfurt das erste jüdische Museum nach dem Holocaust gegründet wurde, stellte das eine geschichtspolitische Zäsur für die alte Bundesrepublik dar, in der jüdisches Leben bislang kaum ein öffentliches Thema war. Auch das Berliner Museum, das jährlich 700.000 Besucher aus aller Welt anzieht, musste während der Planungsphase noch für seine thematische Eigenständigkeit kämpfen. Beide Häuser sind zurzeit mit der Überarbeitung ihrer Dauerausstellungen beschäftigt. Neben zahlreichen anderen Neuerungen ist die Setzung eines neuen zeitlichen Schwerpunktes geplant, der von der Nachkriegsgesellschaft bis in die Gegenwart führt.
Zögerliche Neuanfänge im Land der Täter
Jüdische Museen verstehen sich heute nicht mehr allein als Holocaustmuseen. Denn obwohl die Epoche des deutschen Judentums durch den Nationalsozialismus unwiederbringlich zerstört worden war, gab es nach 1945 zögerliche Neuanfänge jüdischen Lebens in Deutschland. Heute wissen nur noch wenige, dass nach dem Krieg viele osteuropäische Jüdinnen und Juden nach Deutschland kamen, ehemalige KZ-Häftlinge und Menschen, die vor neuen Pogromen aus ihren Heimatländern fliehen mussten. Die meisten von ihnen wollten nach Palästina oder Amerika auswandern, nur eine Minderheit blieb und prägte den Neuaufbau der kleinen jüdischen Gemeinden. Wie aber konnte man überhaupt im Land der Täter leben? Bleiben oder gehen?
Die vielen Facetten jüdischen Lebens
Die neue Präsentation wird zeigen, auf welche Art jede Generation diese Frage aufs Neue bewegte. Und nicht wenige von den Jüngeren verließen Deutschland. So blieben die jüdischen Gemeinden lange Zeit klein und drohten zu überaltern. Das änderte sich erst mit dem Fall der Mauer, als viele Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion einwanderten. Die Gemeinden wurden größer, pluralistischer und auch konfliktreicher. Die neuen Mitglieder verstanden sich meist säkular. Als ehemalige Sowjetbürger sahen sie sich als Sieger des Zweiten Weltkrieges. Ihr Verhältnis zu Deutschland war deshalb weniger belastet. Heute hat jüdisches Leben wieder viele Facetten. Das eine Judentum gibt es nicht. Es ist pluralistisch wie niemals zuvor in der Bundesrepublik. Es hat Wurzeln in Deutschland und in Russland, immer öfter auch in Israel. Es ist religiös und säkular, folkloristisch und kosmopolitisch, populär und wissenschaftlich.
Museen als Art jüdischer Kulturzentren
Jüdische Museen wollen heute mehr sein als Orte des Erinnerns und Gedenkens. Sie entwickeln sich zu einer Art jüdischer Kulturzentren, wo man Vorträge und Konzerte hört oder neueste Filme aus Israel sieht, koscher isst oder einen Crashkurs in Hebräisch belegt. Die Botschaft, die sich damit verbindet, lautet: Judentum ist irgendwie hip. Dass dies leider nicht die ganze Realität ist, wird den Besuchern bereits in den Eingangsbereichen mit hohen Sicherheitsvorkehrungen bewusst, die nach dem Attentat auf das Jüdische Museum in Brüssel 2014 noch einmal verstärkt wurden.
In der neuen Präsentation des Jüdischen Museums wird auch ein Modell des 1986 eröffneten Frankfurter Gemeindezentrums zu sehen sein, bei dessen Einweihung der Architekt Salomon Korn die Hoffnung aussprach: "Wer ein Haus baut, will bleiben".
Wie man als Jude und Jüdin damals und heute in Deutschland lebt, diskutieren dazu in kleinen Filminterviews ältere und jüngere Gemeindemitglieder. Der Einsatz des Objektes weicht von dem üblichen Umgang in historischen Ausstellungen ab, weil dem Objekt hier nicht nur eine einzige Deutung zugewiesen wird, sondern es Anlass für verschiedene Perspektiven und Meinungen bietet.
Zeugnisse und Belege, aufgeladen mit Bedeutung
Was aber ist eigentlich ein Museumsobjekt? Die überwiegende Anzahl der Objekte in einer historischen Ausstellung besteht aus Dokumenten und Fotografien, der sogenannten Flachware. Hinzu kommen dreidimensionale Exponate. Ein Objekt im Museum hat eine andere Qualität als im alltäglichen Gebrauch. Das museal präsentierte Objekt erhält über seinen Gebrauchszusammenhang hinaus Bedeutung: als Zeugnis, als Illustration oder als Beleg. Seine zusätzliche Eigenschaft besteht sozusagen darin, mit Bedeutung aufgeladen zu sein. Das Kofferradio des griechischen Gastarbeiters aus den 1960er Jahren, das in den Sammlungsbestand eines historischen Museums aufgenommen wird, ist mehr als nur ein Kofferradio. Es steht für die Verlorenheit in einem fremden Land und für die Verbindung zur Heimat beim Hören des Heimatsenders.
Objekte sollen Neugierde erwecken, überraschen
Handelt es sich hier um ein "sprechendes Objekt"? Gibt es überhaupt so etwas wie das oft zitierte "sprechende Objekt"? Eher nicht. Das Radio in der Schauvitrine lockt die Besucher herbei, weil es durch sein Ausgestelltsein Bedeutung signalisiert. Seine Geschichte gibt es aber erst mit dem Hinweis auf seinen ehemaligen Besitzer preis. Eben diese Spannung weckt die Neugierde beim Ausstellungsflaneur. Das Objekt muss erst zum Sprechen gebracht werden. Das kann eine Beschriftung leisten oder ein Ensemble von mehreren Objekten, die sich im wechselseitigen Verweis erschließen.
Objekte, die von alleine sprechen, sind hingegen meist langweilig. Denn oft handelt es sich dabei um in Objekte geronnene Vorstellungsklischees. Zum Beispiel: der sperrige, abgegriffene Reisekoffer als Symbol des politischen Exils. Oder das amerikanische Carepaket für die Hungerjahre der Nachkriegszeit. Oder der Nierentisch für die piefige Behaglichkeit der 1950er Jahre. Hier werden bereits eingefahrene Sichtweisen beim Betrachter abgerufen, die nicht mehr überraschen können.
Rundgang entlang von Diktatur und Widerstand
Es gibt verschiedene Arten im Umgang mit Objekten. Historische Ausstellungen sind meist chronologisch entlang der Ereigniskette konzipiert, bei denen die Objekte vor allem als Illustration und Ausstattung der übergeordneten Erzählung dienen. Eine solche chronologische Erzählung findet sich im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig zur Geschichte der DDR. Der Standort Leipzig hat Symbolkraft, denn hier fanden 1989 die großen Montagsdemonstrationen statt, die die Mauer ins Wanken brachten. Da lag es nah, den Rundgang durch die Dauerausstellung entlang der Themenschwerpunkte Diktatur und Widerstand zu führen.
Mehr als 3.000 von insgesamt 200.000 im Depot gelagerten Objekten werden dazu gezeigt, kein Winkel bleibt ungenutzt. Das macht die Schau etwas unruhig und überladen. Ein Grund für die Flut der Objekte mag die im Fall der DDR sozusagen ideale Ausgangslage für eine Museumssammlung sein. Denn es geschieht nicht oft, dass ein Staat plötzlich und friedlich aufhört zu existieren und dabei seinen gesamten materiellen Bestand als Erbschaft hinterlässt.
Requisiten im Erzählstrang
Der Rundgang folgt der politischen Chronologie: Von der Sowjetzone über die Staatsgründung 1949, den 17. Juni 1953, den Mauerbau 1961, die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976, die Bürgerrechtsbewegung der ‘80er Jahre bis hin zum Mauerfall. Gegenübergestellt finden sich Objekte der Opposition und deren Unterdrückung, etwa ein von Jugendlichen gebauter Störsender, Filmdokumente von der Sprengung zahlreicher Kirchenbauten, ein Schneidetisch, an dem zensierte Filmausschnitte laufen, Biermanns Gitarre, Aufnahmen von Sprechchören der Montagsdemonstrationen, sogar ein Original-Barkas B 1000, ein zu einem Gefängniswagen umgebauter Transporter, in dem vermeintliche Staatsfeinde ans Ministerium für Staatssicherheit überstellt wurden.
Die Objekte funktionieren meist als Requisiten im Erzählstrang. Aufschlussreicher als diese ist deshalb eine große Kiste mit konfiszierten Musikkassetten aus Westpaketen, deren Einfuhr in die DDR als kapitalistisches Kulturgut verboten war. Überraschenderweise wurden diese nicht einfach entsorgt, sondern von der Stasi im Zuge der Mangelwirtschaft zur Aufnahme ihrer Verhöre weiterverwendet. Hier hat die Repression das Objekt selber in etwas anderes verwandelt und macht es für die Ausstellungsbesucher auf bereichernde Weise mehrdeutig.
Reisewagen als Herrschaftsinsignie
Dass Vieldeutigkeit und eine starke ästhetische Präsenz nicht zwangsläufig in Beliebigkeit umschlagen müssen, lässt sich auch im Bonner Haus der Geschichte erfahren.
Gleich an der U-Bahnstation, über die man das Museum erreicht, ist auf einem Nebengleis der luxuriöse Salonwagen der Bundesbahn abgestellt, der den Kanzlern Konrad Adenauer, Ludwig Ehrhard, Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt zur Beförderung diente. Gebaut wurde er allerdings schon in der NS-Zeit im Auftrag von Reichsminister Hermann Göring. Da tut sich ein weites Assoziationsfeld zur frühen Bundesrepublik auf. Der Reisewagen wird zu einer Herrschaftsinsignie, die sowohl etwas über politische Kontinuitäten und demokratische Umwidmungen erzählt, als auch ein Stück Design- und Technikgeschichte darstellt.
Gründliche Archivrecherchen machen Geschichte nachvollziehbar
Ausstellungen, die vor allem auf sogenannter Flachware, auf schriftlichen Dokumenten und Fotografien basieren, sind aus gestalterischer Sicht nicht so reizvoll wie Objekte mit einer eigenen ästhetischen Präsenz. Dennoch ist eine rein dokumentarische Ebene für eine seriöse Ausstellung unverzichtbar. Gründliche Archivrecherchen und Quellenanalysen gehören zum kuratorischen Handwerk. Wie in der historischen Forschung übernehmen Dokumente, Fotografien, Film- und Tonaufnahmen in der Ausstellung die Aufgabe des Quellenbeleges. Sie garantieren, dass die Darstellung von Geschichte im Museum nachvollziehbar und überprüfbar bleibt.
Andererseits gibt es die eine, ewig gültige Objektivität nicht. Jede Aneignung von Geschichte, jede Erzählung - das ist mittlerweile eine Binsenweisheit - ist auch eine Konstruktion. Als solche sollte sie für das Publikum transparent sein. Dies geschieht zum einen auf die durch Dokumente belegte Nachvollziehbarkeit der Erzählung und zum anderen durch die Kenntlichmachung von Autorschaft, etwa im Impressum, das sich meist zu Beginn oder am Ende des Rundgangs befindet. Es gibt Auskunft zur Projektleitung, zu den Kuratorinnen und Kuratoren, den wissenschaftlichen Beratern sowie zur Gestaltung der Präsentation.
Jüngere Zeitgeschichte in Bonn
Das Bonner Haus der Geschichte hat seine Dauerausstellung eben um die jüngste Zeitgeschichte erweitert und begrüßt seine Besucher mit dem Slogan "Willkommen in der Gegenwart". Themen wie Nine Eleven, der rechte Terror des NSU, Globalisierung, Digitalisierung und die Flüchtlingskrise sind jetzt museabel. Während man in den Jüdischen Museen von Geschichte und Geschichten erfährt, die in der breiten Öffentlichkeit nicht unbedingt präsent sind, setzt das Bonner Haus ganz auf das Merkmal der Wiedererkennung. Die Dauerausstellung firmiert unter dem Titel: "Unsere Geschichte. Deutschland seit 1945". "Unsere Geschichte": Das hat etwas Vereinnahmendes, als würden die geschichtspolitischen Ambitionen der Ära Kohl nachklingen.Sprecher
Große Inszenierung zur Wiedervereinigung
Und als hätte Helmut Kohl persönlich Regie geführt, wirkt auch die große Inszenierung zur Wiedervereinigung: Nachdem die Besucher zwei graffitibesprayte Segmente der Berliner Mauer und einen Trabi - sozusagen als obsolete Reste der Geschichte - hinter sich gelassen haben, schreiten sie durch ein raumfüllendes goldenes Brandenburger Tor - wie durch einen Triumphbogen, an dessen Ende die Originalflagge der Einheitsfeier vom 3. Oktober 1990 präsentiert wird.
Der neue Rundgang bietet jedoch nicht nur solche vergoldeten Ansichten, sondern auch distanziertere Zugänge, etwa zur Treuhandgesellschaft, zur Agenda 2010 und zum Rechtsextremismus und öffnet zugleich eine europäische und globale Perspektive auf deutsche Politik.
Spuren von 9/11 und die Folgen für Deutschland
Ein von der Feuerhitze verbogener Stahlträger des World Trade Centers steht für die globale Wucht des Anschlages von New York, in dessen Folge Deutschland verstärkt bei internationalen Auslandseinsätzen eingebunden ist. Der alles überragenden freistehenden Skulptur des Stahlträgers kommt dabei eine besondere Funktion zu. Sie dient nicht bloß als Illustration für einen Inhalt, sondern ist mit diesem Inhalt in ihrer Materialität, ihrer Versehrtheit identisch. Und anders als die Gestaltung der Wiedervereinigung, die eine eindeutige Lesart anbietet, fordert der Stahlträger eine aktive Wahrnehmung beim Publikum heraus.
Flüchtlingskrise "alles andere als ein abgeschlossenes Kapitel"
Der neue Teil der Bonner Ausstellung endet mit dem Thema Flüchtlingskrise. Das ist alles andere als ein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte. Für diese Offenheit, für dieses für die Zukunft aufgegebene Problem der Gegenwart haben die Gestalter in Bonn eine geniale Umsetzung gefunden. Der hölzerne Bug eines Flüchtlingsbootes ragt von außen durch eine Glaswand sperrig in den Ausstellungsraum hinein, am Boden befindet sich ein Haufen schmutziger, verschlammter Schwimmwesten. An den Wänden entlang werden der Jubel und die Willkommenskultur von 2015 ebenso dokumentiert wie die sexuellen Übergriffe der Kölner Silvesternacht. Der Rundgang endet offen, im Hier und Jetzt. Diese Situierung in der Gegenwart ist bewusst so gewollt und wirft die generelle Frage nach dem Verhältnis von Aktualität und Geschichte auf.
Anschluss an gesellschaftliche Veränderungen schnell herstellen
Mit der Erweiterung seiner Dauerausstellung um Objekte der jüngsten Zeitgeschichte bis zur Gegenwart spiegelt das Bonner Haus einen allgemeinen Trend. Museen wollen den Anschluss an gesellschaftliche Veränderungen schneller herstellen können, sie wollen, auch wenn das paradox klingt, mehr und mehr Museen am Puls der Zeit sein. Der Ausdruck "Gegenwartsgeschichte" versucht, dies einzufangen. Das Museum verspricht nicht mehr nur Geschichte zu erinnern, zu bewahren und aus der Distanz verstehbar zu machen. Es verspricht, dabei zu sein, wenn Geschichte geschrieben wird.
Kann das funktionieren? Das Aufgeben von historischer Distanz stellt die Sammlungstätigkeit eines Museums vor neue Herausforderungen. Wenn bereits die Gegenwart museumsfähig sein soll, erhebt sich die Frage, nach welchen Kriterien hier ausgewählt wird und wer das entscheiden soll. Die Aufnahme eines Flüchtlingsbootes dürfte immerhin kaum strittig sein. Dass Flucht, Migration und Integration sowie deren Folgen zumindest für die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts bestimmend sein werden, ist evident. In der Geschichtswissenschaft zeichnen sich Flucht und Migration bereits als neue Parameter für die Wahrnehmung des 20. und 21. Jahrhunderts ab.
Katapultieren in die vollendete Zukunft
Weniger eindeutig sieht es jedoch bei vielen anderen Fällen aus. Man nehme beispielsweise die #MeToo-Debatte. Hier ergibt sich für die Sammlungsaktivität die Frage, ob dieses Ereignis schließlich der Beginn einer neuen feministischen Bewegung - ebenso folgenreich wie der Feminismus der 1970er Jahre - gewesen sein wird? Kuratoren müssten sich für diese Entscheidung, grammatikalisch gesprochen, ins Futur Zwei, in die vollendete Zukunft katapultieren. Das aber wäre Prophetie und kann von keiner historischen Wissenschaft geleistet werden.
"Die Eule der Minerva beginnt ihren Flug bei einbrechender Dämmerung", schrieb Hegel und meinte damit, dass Urteilsvermögen aus der historischen Distanz erwächst, nachdem eine, Zitat, "Gestalt des Lebens alt" geworden sei. Aktualität und Geschichte sind nicht dasselbe. Der Versuch, im Museum Gegenwartsgeschichte zu schreiben, Gegenwart zu musealisieren, läuft am Ende womöglich auf die blinde Überwältigung durch die tagesaktuell größten Schlagzeilen hinaus. Eine Inszenierung von Gegenwart bliebe dann in der Abbildung des Nachrichtentickers stecken.
Digitalisierung im Museum als Aufgabe
Mit dem Trend zunehmender Aktualität tritt auch das Thema Digitalisierung in den Vordergrund. Zweifellos schreibt das Internet Geschichte. Große Internetplattformen wie Google, Twitter, Wikipedia, Netflix oder Amazon prägen Politik, Arbeit, Konsum und Bildung. Sie bedeuten einen Strukturwandel der Öffentlichkeit, der keinen gesellschaftlichen Bereich unberührt lässt. Wie lassen sich aber ausschließlich digital vorhandene Inhalte in einer Ausstellung thematisieren? Ein noch ungelöstes Problem, das Archivare, Kuratoren und Gestalter in Zukunft stark beschäftigen wird.
Neue Technologien als Chance
Unabhängig davon setzen Museen selber zunehmend auf digitale Technologien zum Nutzen ihres Publikums. Sammlungsbestände in den Depots, die bislang unsichtbar blieben, werden digitalisiert und über die Website der Museen abrufbar. Hier findet man Objekte der Alltagskultur ebenso wie Gemälde, Skulpturen, Plakate, Textilien, Fotografien und Dokumente mit Informationen zu Herkunft, Material und Bedeutung. Dies ist eine wunderbare Bereicherung, auch für die Forschung. Aber nicht nur verborgene Schätze des Depots, auch einzelne Exponate laufender Ausstellungen oder gleich komplette Rundgänge als virtuelle räumliche Erfahrung inklusive einer App zum dazugehörigen Audioguide bieten viele Museen bereits an. Hinter der intensiven und auch kostenaufwendigen Digitalisierung steht die Hoffnung, Zugänge zu erleichtern und damit ein neues Publikum zu erschließen. Inwieweit sich diese Hoffnung erfüllt oder ob die verführerische digitale Einladung womöglich den realen Besuch sogar ersetzen wird, wird sich erst in Zukunft zeigen.
Service-Roboter im Haus der Geschichte
Historische Museen sind heute technikaffin und verspielt. Vieles wird bald Standard sein: Interaktive Installationen wie die Schneekugel und Mediadatenbank zur Porträtgalerie im Historischen Museum in Frankfurt, digitale Gästebücher, animierte Stadtmodelle oder der Einsatz von Tablets als portable Museumsbegleiter, die neben vertiefenden Informationen auch noch eine Spiele-App für die kleinen Besucher bereit halten.
Im Bonner Haus der Geschichte ist neuerdings ein mobiler Service Roboter namens Eva im Einsatz. Eva ist 1 Meter 58 groß, wiegt 120 Kilogramm, bewegt sich mit maximal 3,5 Kilometer pro Stunde und verfügt zur Orientierung im Raum über vier Kameras. Als Gesicht dient ein 15 Zoll-Monitor mit zwei lustigen blauen Knopfaugen. Die Kinder lieben Eva. Sie kann sich mit den Besuchern unterhalten, sie zu gewünschten Exponaten begleiten und etwas dazu erzählen. Eva ist übrigens kein Einzelkind. Sie hat viele Brüder, die heißen alle Paul und arbeiten als Kundenberater bei großen Elektrodiscountern wie Saturn oder Mediamarkt.
Könnte "analog" wieder "in" sein?
Ein Nachteil der neuesten Technik: Sie altert sehr schnell. Das Aufsichtspersonal in älteren Ausstellungen berichtet zuweilen von ratlosen Schülergruppen vor Monitoren ohne digitale Wischfunktion. Auch die langjährige Planungsphase von ständigen Ausstellungen kann dazu führen, dass die angewendete Technik am Tag der Eröffnungsfeier schon nicht mehr up to date ist. Und noch eine weitere mögliche Entwicklung wäre zu bedenken. Es ist absehbar, dass digitale Technik einmal vollkommen alltäglich sein wird und keine Faszination an sich mehr darstellt. Tablet und Smartphone wären dann so banal wie vormals eine Telefonzelle. Was hieße das für den multimedialen Museumsbesuch? Ginge damit etwas von seinem Reiz verloren? Das wäre dann vielleicht der Moment, wo analoge Technik wieder "in" wäre? Wir erleben ja heute schon das Comeback von Vinylplatten und Polaroids. Ebenso könnten auch in Museen andere populäre optische Medien wie Panoramen oder Popups, Theaterkulissen, Dioramen und Wundertrommeln einen verführerischen Retro-Charme entwickeln. Für inszenierungsfreudige Ausstellungsmacher tun sich hier neue Möglichkeiten auf.
Schaulust und Popularität, Bildung und Reflexion
Eine ästhetisch und technisch ambitionierte Gestaltung der Inhalte gehört heute jedenfalls zur Attraktivität von historischen Ausstellungen. Das heißt nicht, dass jede Umsetzung auch gelingt. Aber prinzipiell gilt, dass Schaulust und Popularität, Bildung und Reflexion im Museum ebenso zusammengehören wie bei anderen verwandten Künsten, etwa dem Theater.
Der Traditionalist wird trotzdem monieren, dass historische Museen die Erwartung an einen vom Alltag abgeschiedenen Ort der Ruhe und der Kontemplation oft nicht erfüllen. Aber vielleicht gelten für Museen, in denen es um historische Selbstverständigung und Urteilskraft geht, auch noch andere Kriterien? Mehr als andere Museumsgattungen zielen sie auf bürgerliche Öffentlichkeit und geselligen Austausch. Es muss deshalb kein Nachteil sein, wenn historische Museen eher einer Agora als einem Musentempel, eher einem Marktplatz der Meinungen als einer Stätte einsamer Meditation ähneln.
Monika Boll ist Philosophin, Autorin und Kuratorin. Für das Jüdische Museum Frankfurt kuratierte sie 2014 die Ausstellung: "Fritz Bauer. Der Staatsanwalt. NS-Verbrechen vor Gericht".