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Zukunft der EU
Visionen gegen die Krise

Brexit, Flüchtlingspolitik, Populismus – die EU steht zurzeit vor vielen Herausforderungen. Dabei geht es immer wieder darum, wie die Zukunft der Gemeinschaft aussehen kann. Eine Frage, auf die auch einige EU-Visionäre eine Antwort suchen. Und die sind trotz der aktuellen Krisen noch immer optimistisch.

Von Thomas Otto |
    Flaggen vor dem Europäischen Parlaments in Brüssel, mit Blick von der Rue Wiertz.
    Europäisches Parlament in Brüssel (picture alliance / Daniel Kalker)
    Die Vertretung des Landes Nordrhein-Westfalen in Brüssel. 13 junge Deutsche, alle um die zwanzig Jahre alt, haben sich zu einer Exkursion in die Brüsseler EU-Blase getroffen. Sie alle leisten in Belgien einen Freiwilligendienst für die "Aktion Sühnezeichen Friedensdienste". Eine von ihnen ist die zwanzigjährige Katharina aus Berlin. Ihr Einsatzort ist das Forschungs- und Dokumentationszentrum zu Krieg und Gegenwartsgesellschaft in Brüssel. Nebenher engagiert sie sich für Flüchtlinge: "Ich arbeite ja - wie gesagt - einmal die Woche in der Kleiderkammer für Geflüchtete. Und da treffe ich jeden Montag Leute, die aus Syrien, Afghanistan, Palästina kommen. Und ich merk' auch immer, dass die Kommunikation ein bisschen schwierig ist. Aber trotzdem gibt’s irgendwie immer was, dass man irgendwie ein Lächeln tauschen kann oder ein paar Worte."
    Wie sich die Europäische Union in der Flüchtlingsfrage verhält, interessiert sie deshalb besonders. Ähnlich geht es ihrer Namensvetterin, Katharina aus Frankfurt am Main. Auch sie leistet einen Freiwilligendienst in Belgien und ist nach Brüssel gekommen, um mehr über die EU und ihre Institutionen zu erfahren. Die europäische Flüchtlingspolitik sieht sie kritisch: "Wo ich mich auch frage zum Beispiel, warum das nicht besser geht? Und ich zum Beispiel hier auch hingekommen bin, weil ich, glaube ich, für ein Europa einstehen möchte, dass offen ist und das nicht irgendwelche ziemlich miserablen menschenrechtsverletzenden Deals abschließt, die im Endeffekt die ganze Situation nur noch weiter verschlimmern. Und ich mit Aktion Sühnezeichen hier eigentlich bin, weil ich ein Zeichen setzen möchte, für ein Europa, so wie ich mir das vorstelle, dass man offen ist, dass man Menschen, die tatsächlich in Not sind, hilft."
    Besuch im EU-Parlament
    Junge Europäer, die einen Freiwilligendienst im Ausland absolvieren, politisch interessiert und von der Europa-Idee begeistert sind – Europäer, wie sie sich EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker eigentlich nur wünschen kann. Sie sind mit vielen Fragen nach Brüssel gekommen, die ihnen unter anderem bei einem Besuch im EU-Parlament beantwortet werden sollen. Vor einigen Jahren wäre ein solcher Besuch wohl deutlich glatter und unaufgeregter verlaufen. Doch die Zeiten haben sich geändert. Die Europäische Union ist in die Defensive geraten. Der Ausstieg eines Mitgliedsstaates, Großbritanniens, wird vorbereitet. Populisten flicken der EU am Zeug.
    Frank Schwalba-Hoth kennt die europäischen Institutionen seit langem. Über mehr als 30 Jahre hat er die EU-Politik intensiv beobachtet, ist selbst schon fast so etwas, wie eine EU-Institution: Gründungsmitglied der Grünen, von 1984-87 Abgeordneter des Europaparlaments, seitdem Berater und Lobbyist, unter anderem für Greenpeace und die EU-Kommission. Gerade schreibt der 64-Jährige an einem Buch über das, was er an der EU liebt. Seine Diagnose: "Die Europäische Union ist wie ein Mensch. Manchmal hat sie eine Grippe, manchmal hat sie Fieber. Und insofern haben wir im Augenblick eine kleine Grippe."
    "EU aus allen Krisen gestärkt hervorgegangen"
    Doch egal welche Krise: In den Augen von Frank Schwalba-Hoth hat die EU immer eine Lösung gefunden. Sei es die Umweltzerstörung, auf die man in den 1980er-Jahren mit der gemeinsamen Umweltpolitik reagiert habe, in der Balkankrise der 90er, in der man zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gefunden habe oder in der Bankenkrise der 2000er Jahre, die man schließlich auch eingedämmt habe, so seine Einschätzung. Während Kritiker derartige Beispiele wohl eher anführen würden, um die Unzulänglichkeiten der EU und die Schwerfälligkeit der europäischen Institutionen zu belegen, gibt sich Schwalba-Hoth optimistisch: "Aber wie bei jeder Grippe ist es so: Dadurch bilden sich Antikörper. Dadurch wird der Organismus gestärkt. Und die Europäische Union ist aus allen Krisen, die es bisher gegeben hat, gestärkt hervorgegangen."
    Schwalba-Hoths Glaube an die Zukunft der EU-Institutionen ist unerschütterlich. Zu seinen Hobbys gehört es, in Brüssel alles und jeden zu kennen und jedermann miteinander zu vernetzen. Dabei sieht er sich immer wieder mit ähnlichen Fragen konfrontiert: "Ein Mythos ist: 'Das ist zu kompliziert, um das zu verstehen'. EU-Struktur ist letztendlich nicht kompliziert! Ein anderer Mythos ist: 'Das Europäische Parlament mit den gewählten Vertretern hat nix zu sagen'. Unsinn, vollkommener Unsinn!"
    Parlament als Institution gestärkt
    Schwalba-Hoth ist immer noch regelmäßig auf den Fluren des Parlaments unterwegs. Es ist so etwas wie sein Wohnzimmer. In den vergangenen Jahren, sagt Schwalba-Hoth, sei es als Institution gestärkt worden: "Das Europäische Parlament ist der größte Gewinner in dieser Kräfteverschiebung. Vor 30, 40 Jahren hatte es relativ wenig zu sagen und jetzt ist es einer der zentralen Akteure auf europäischer Ebene, gegen den man nicht regieren kann."
    Im Vergleich zu den nationalen Parlamenten gibt es im Europaparlament einen entscheidenden Unterschied: Es gibt keine Regierungsmehrheit, die die Politik des Parlaments bestimmt. Damit hätten auch die einzelnen Abgeordneten in Brüssel viel mehr Möglichkeiten als in ihren Hauptstädten, so Schwalba-Hoth: "Hier ist es so, dass jeder Europaabgeordnete in seiner Karriere, in seiner Legislaturperiode ein, zwei, drei Mal Berichterstatter ist und dann versucht, Mehrheiten zu finden über nationale und parteipolitische Grenzen hinweg. Und jemand, der seinen Job hier ernst nimmt, kann wirklich Politik gestalten – das ist der Traum jedes Abgeordneten, jedes Politikers. Fingerabdrücke, politische Fingerabdrücke zu hinterlassen. Das ist hier möglich."
    Von Krisenstimmung nichts zu merken
    Wenn man Frank Schwalba-Hoth als so etwas wie einen privaten EU-Lobbyisten bezeichnet, dann ist Bernd Hüttemann ein hauptberuflicher Lobbyist für die EU. Der 46-Jährige ist Generalsekretär des deutschen Ablegers der Europäischen Bewegung. Diese Dachorganisation vereint Gewerkschaften, Unternehmen, gemeinnützige Organisationen und Vereine, die sich für eine stärkere europäische Integration einsetzen wollen. Die Europäische Bewegung wird dabei vom Auswärtigen Amt gefördert und arbeitet eng mit Bundesregierung, Europäischer Kommission und EU-Parlament zusammen.
    Hüttemann blickt nicht von Brüssel, sondern von Berlin aus auf das Geschehen in Europa. Von Krisenstimmung ist bei ihm nichts zu bemerken: "Ich habe noch nie so viele Menschen erlebt, die sich mit Europapolitik beschäftigen. Das ist einfach so, dass die Politik, die Innenpolitik, die jahrelang einfach nur nationale Themen gefahren ist, auf einmal europäische Themen fährt. Insofern ist das eigentlich sehr positiv gerade." Wenn Bernd Hüttemann von der EU spricht, benutzt er gern das Bild einer Familie. Auf der einen Seite die Eltern, die Nationalstaaten und auf der anderen Seite ihr gemeinsames Kind, die EU. "Sie ist nicht so stark, wie man geglaubt hatte, dass sie es sei. Aber man hat das Kind ja groß gezogen. Und die Eltern vergessen vielleicht manchmal, inwiefern das Kind Bedürfnisse hat, inwiefern man es alleine laufen lassen muss auch in bestimmten Bereichen und inwiefern man das Kind auch wieder zurückholen muss in bestimmten Bereichen. Aber letztendlich ist es eine Familie zwischen Nationalstaaten und der Europäischen Union. Und da funktioniert es gerade nicht."
    Kritik an den Nationalstaaten
    Hüttemanns Kritik richtet sich an die Nationalstaaten: Sie müssten die Europäische Union ernst nehmen. Das Kind sei erwachsen. Dabei verweist er auf das Grundgesetz: In Artikel 23 ist die Entwicklung der EU als Staatsziel festgehalten: "Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit", heißt es dort. Auch, wenn das bei weitem nicht immer einfach ist.
    "Dennoch ist es aber für ein neues Konstrukt, also Kind, was gerade erwachsen wird, besonders schädlich, wenn mal was schiefgeht und etwas nicht funktioniert. Denn dann wird gesagt: Es ist ein Halbstarker. Und das kommt nicht gut an und macht dann aber auch die Institutionen selber nicht selbstsicherer und besser. Ich glaube, wir müssen mehr Verantwortung wieder haben für die Gemeinschaftsorgane und die Gemeinschaftsstrukturen der Europäischen Union. Und da haben die Nationalstaaten auch ihr Süppchen zu beigetragen, aber auch die Interessengruppen durchaus."
    Wo Frank Schwalba-Hoth Krisen gewissermaßen als stärkendes Moment in der europäischen Entwicklung sieht, hebt Bernd Hüttemann vor allem auf ein grundlegendes Problem ab: ein Ungleichgewicht in der Wahrnehmung der verschiedenen politischen Ebenen. Um in seinem Bild von der Europäischen Familie und ihrem Kind, der EU, zu bleiben: Man habe den Eltern nicht erzählt, wie weit sich ihr Kind bereits entwickelt hat: "Wir kennen Richtlinien und Verordnungen. Daran merken Sie so ein bisschen das Tarnnetz, was von Nationalstaaten gerne ausgeworfen wird, indem man sagt: 'Es gibt etwas, was schon sehr weit integriert ist. Die Europäische Union ist schon sehr weit gegangen. Aber das sagen wir lieber nicht, weil wir haben Angst davor, ihnen das zu erzählen'."
    Gesetze aus Brüssel
    Vielen Bürgern sei deshalb nicht klar, dass in Brüssel Gesetze gemacht werden, die zwar nicht so heißen dürfen - stattdessen ist von Richtlinien und Verordnungen die Rede, doch in den Nationalstaaten würden diese letztlich nur noch umgesetzt, argumentiert Hüttemann. Dabei sind die Nationalstaaten durchaus Teil des Gesetzgebungsverfahrens, denn sie stimmen im Rat über jede Richtlinie und Verordnung mit ab. "Europapolitik ist nicht etwas in Brüssel. Und wenn man sagt: 'Die EU hat gemacht', dann heißt es niemals nur: 'Die Kommission war es'. Sondern es war immer auch der Nationalstaat, sprich auch die Bundesregierung, in den allermeisten Fällen. Und wenn man das nicht sagen möchte, dass man das durchgesetzt hat, dann lässt man es bleiben und damit gibt’s ein schiefes Bild. Und das schafft Misstrauen und das höhlt Demokratie dann auch wirklich aus, da bin ich dann auch Europakritiker."
    In Hüttemanns Worten steckt auch Medienkritik. Seiner Meinung nach müssten die Medien sehr viel stärker über das Zusammenspiel von EU und Nationalstaaten berichten und Politikerstatements hinterfragen, die darauf abzielen den schwarzen Peter nach Brüssel zu schieben. Deshalb fordert Hüttemann: "Der Bevölkerung muss klar gemacht werden, dass die europäische Ebene die gleiche Politikebene ist, wie die kommunale, nationale und Länderebene auch."
    Gefälle zwischen Stadt und Land
    Auch Ulrike Guérot könnte man als so etwas wie eine EU-Lobbyistin bezeichnen. Die Politikwissenschaftlerin hat die Denkfabrik "European Democracy Lab" in Berlin gegründet und lehrt zu Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität im österreichischen Krems. Anders als Bernd Hüttemann und Frank Schwalba-Hoth kritisiert sie die Strukturen der EU jedoch grundsätzlich: "Wir haben ein institutionelles System, das die europäischen Bürger nicht verstehen, wo sie nicht den Eindruck haben, dass sie gehört werden, dass sie Einfluss haben, dass sie mit Wahlen etwas ändern. Also das ganze europäische System ist so aufgestellt, dass die Bürger nicht den Eindruck haben, innerhalb der europäischen Demokratie gibt’s eine Opposition, kann man Missmut artikulieren, können die Dinge umgesteuert werden, oder hätten die Bürger etwas zu sagen, zum Beispiel bei den EP-Wahlen."
    Kein Grieche könne Angela Merkel abwählen, obwohl diese im Europäischen Rat großen Einfluss auf Entscheidungen hat, die sich wiederum in Griechenland auswirken, argumentiert Guérot. Allerdings geht es ihr primär nicht darum, die EU-Institutionen Kommission, Rat und Parlament abzuschaffen. Sie will stattdessen den Nationalstaat einhegen. Das eigentliche sozioökonomische Gefälle innerhalb Europas bestehe nicht zwischen einzelnen Staaten, also beispielsweise Deutschland und Griechenland, sondern zwischen Zentren und deren Peripherie: "Wenn sie in Anklam in Deutschland auf dem Land sind und nicht mobil sind, dann geht es ihnen ökonomisch genauso wenig gut, wie im Saarland oder in Süditalien. Aber Norditalien ist auch Exportweltmeister. Das heißt, wir haben so ein Prisma im Kopf, dass sich das zwischen Ländern unterscheidet. De Facto unterscheidet es sich ganz stark danach: Zentrum – Peripherie, Stadt und Land. Soll heißen: In Lyon ist es genauso gut wie in Frankfurt. Aber im Ardeche ist es genauso schlecht wie in Anklam."
    Regionale Zugehörigkeit schafft Identität
    Identität generiert sich in Guérots Augen viel eher aus regionaler Zugehörigkeit, als aus nationaler. Dafür gebe es genug Beispiele. Ulrike Guérot nennt Katalonien und Tirol, wo es Bestrebungen gibt, sich von Spanien beziehungsweise Italien loszulösen. Oder das Beispiel Schottland, wo die Bevölkerung mehrheitlich gegen einen Brexit gestimmt hat, um sich nicht plötzlich außerhalb der Europäischen Union wiederzufinden.
    Statt nationaler Referenden, wie das in den Niederlanden zum EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, brauche es europäische. Statt eines nationalen Wirs ein europäisches Wir. "Ich als Deutsche habe doch mehr gemein mit einem Polen, der derzeit gegen die PiS-Regierung und gegen die Abtreibungsgesetze demonstriert, als dass ich als Deutsche etwas gemein habe mit jemandem, der in Dresden bei Pegida mitläuft. Und das ist doch eigentlich sozusagen die Zukunft Europas: Indem wir transnational uns mehr über das Politische und die politische Orientierung definieren, als über die nationale."
    Sehnsucht nach neuen Visionen
    Aus dieser Idee hat Guérot eine Utopie entwickelt, auch als Gegenentwurf zu den finsteren EU-Untergangsszenarien: Eine Europäische Republik mit einem repräsentativ gewählten Parlament, aus dem eine eigene europäische Regierung hervorgeht - die auch wieder abgewählt werden kann. Komplementiert wird das Ganze von einem europäischen Senat, in den alle Regionen Europas je zwei Senatoren entsenden.
    Solch eine Zukunftsvision sei notwendig, denn es gäbe eine Sehnsucht nach etwas Neuem. Bisher seien es nur die Populisten, die etwas Neues anböten, meint Guérot: "Populisten die sagen: 'Ja, Schluss: Nationalstaat! Europa muss weg'. Das ist dumm, aber neu. Und der Versuch meiner Utopie war ja nur zu sagen: Moment mal, das Feld dürfen wir denen nicht überlassen. Die EU muss kritisiert werden, sie war schlecht für viele Leute - vor allen Dingen für die Globalisierungsverlierer. Wir dürfen dieses Feld nicht den Populisten überlassen."
    Ein Markt, eine Währung, eine Demokratie
    Diese Utopie, von der Ulrike Guérot spricht, das Bild einer Europäischen Republik, bringt sie auf den Dreisatz: Ein Markt, eine Währung, eine Demokratie. Statt einer Staatenunion brauche es eine Bürgerunion. Dafür bräuchten die Bürger aber zunächst einmal die gleichen Rechte: "Wir könnten uns mit gezielten Schritten, in denen wir einklagen, erstens: europäische Staatsbürgerschaft, europäische Arbeitslosenversicherung, Gleichheit vor dem Recht, allgemeiner politischer Gleichheitsgrundsatz, Wahlrechtsgleicheit, dass wir als Bürger das Europäische Parlament, dass wir das nach gleichen Bedingungen wählen. Wenn wir diese Schritte einklagen, dann glaube ich, kommen wir sukzessive dahin, dass die Bürger Souverän des politischen Systems sind und dass wir eine transnationale parlamentarisch-repräsentative Demokratie, die für die europäischen Bürger erfahrbar ist, dass wir das einlösen, Schritt für Schritt."
    Dass werde bisher aber noch nicht vehement genug debattiert, beklagt Ulrike Guérot. Ein Grund dafür sei auch - und hier wiederholt sie die Medienkritik von Bernd Hüttemann - ein verstellter Blick der nationalen Presse, also eine Fokussierung auf die nationale Perspektive, anstelle einer europäischen. Vielleicht passiert ja etwas bis zur nächsten Europawahl, hofft die Politikwissenschaftlerin. "Nehmen wir die europäischen Parlamentswahlen 2019 und sagen wir, wir müssen tatsächlich Europa mal üben, auch im Sinne von: Ein Meinungsbild einholen. Und wir würden einfach mal abfragen, ob die Leute in der Lage und bereit sind, die europäischen Bürger, zum Beispiel zu sagen: 'Wir wollen den allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatz'. Soll heißen: Gleichheit vor dem Recht für alle europäischen Bürger. Und eine europäische Staatsbürgerschaft. Und gehen wir mal davon aus, wir würden für so eine Frage eine Mehrheit bekommen. Dann hätte man ja praktisch ein Mandat, diesen Schritt zu gehen."
    Ein Sitzungssaal im Europaparlament, die Besucher-Gruppe der Aktion Sühnezeichen wird von Jakob von Weizsäcker begrüßt. Der Sozialdemokrat sitzt seit drei Jahren im EU-Parlament. Weizsäcker referiert über die Wurzeln der EU, über die heutige Situation und die zukünftigen Herausforderungen. Anschließend bleibt etwas Zeit für einige Fragen.
    Wie sieht die Arbeit eines Abgeordneten aus? Zu welchen Dokumenten erhält er Zugang? Wie umgehen mit Rechtspopulisten - auch im Parlament? Nach einer knappen Stunde muss sich von Weizsäcker verabschieden - die nächste Sitzung wartet. Höflicher Applaus, dann geht es noch einmal auf die Besuchertribüne des Plenarsaales. Gerade tagt das sogenannte Mini-Plenum. So nennen sich die Sitzungen des Parlaments, die nicht wie üblich in Straßburg, sondern mehrmals im Jahr auch in Brüssel stattfinden. Gespannt verfolgen die Jugendlichen die Debatte. Danach bleibt noch Zeit für ein Fazit. Katharina, die aus Berlin stammt, ist im Prinzip zufrieden. Der Besuch im Parlament habe ihren Blick erweitert, sagt sie. Trotzdem geht sie mit einem unguten Gefühl nach Hause: "Also die Krisen und die Probleme waren schon ziemlich konkret dargestellt. Aber es war, ich hatte das Gefühl, es wurde hingestellt und dann: 'Das müssen wir jetzt irgendwie lösen'. Aber das war schon sehr pessimistisch, was da so für Möglichkeiten waren."
    Lange Entscheidungsprozesse
    Katharina aus Frankfurt haben die Gespräche und der Besuch im EU-Parlament gefallen. Auch wenn sie das Gefühl hat, dass sich Europapolitiker gegenüber Jugendlichen eher belehrend verhalten, als nach deren Meinung zu fragen. Das bessere Bild, das sie nun von den Entscheidungsprozessen in der EU hat, ernüchtert sie zugleich. "Am Anfang dachte ich mir: 'Wow, man kann hier echt auch was erreichen'. Gerad als wir gehört haben, dass da Vorschläge gebracht werden, die echt meinen Vorstellungen entsprachen. Wo ich dachte: 'Wow, das ist echt eine gute Idee und das wäre so schön, wenn das so durchgesetzt werden könnte'. Aber andererseits wieder so Momente, wo ich denke, es gibt so viel Prozedere, was hier außenherum geschehen muss und so viele Leute diskutieren hier und es ist schon viel Gerede um den heißen Brei. Bis da mal was Wichtiges entschlossen wird, dauert es wahrscheinlich Jahre. Und dann war ich eher wieder so ein bisschen enttäuscht."
    Worin sich die beiden Katharinas einig sind: In die Entscheidungsprozesse der EU müssten junge Leute mehr einbezogen werden. Denn sie müssten schließlich am längsten mit den heute beschlossenen Gesetzen leben.