Maja Ellmenreich: Dass Worte Perspektiven ändern können – dieser Satz wäre sicher ganz im Sinne von Kate Millett gewesen. Mit ihren Worten und Thesen, mit ihren Veröffentlichungen hat sie die vorherrschenden Meinungen über die Beziehungen zwischen den Geschlechtern hinterfragt. Die Verknüpfung von Sexualität und Macht war das beherrschende Thema in den Arbeiten von Kate Millett. Gestern ist die Protagonistin der US-amerikanischen Frauenbewegung wenige Tage vor ihrem 83. Geburtstag in Paris gestorben. Ich habe mit der "EMMA"-Herausgeberin, mit der Publizistin und Feministin, Alice Schwarzer über Kate Millett gesprochen. Kate Milletts Buch "Sexual Politics" – in der deutschen Übersetzung heißt es "Sexus und Herrschaft" - diese Publikation hat Millett Ende der 60er, Anfang der 70er berühmt gemacht. Was genau war so folgenschwer, so gewichtig an diesem Text?
Alice Schwarzer: Ja, man muss sagen, also das Thema Sexualität und Macht und Gewalt ist ja grundsätzlich ein ganz zentrales Thema der neuen Frauenbewegung. Und da war eben Millet eine Pionierin. Und sie hat auf eine sehr fundamentale, radikale Art die Rolle von Pornografie, sexuellem Missbrauch, von Gewaltigung und Prostitution analysiert und aufgezeigt, dass es hier nicht um Sexualität geht, sondern um Macht. Und dieses Buch war wirklich einschneidend, also sie hat ja auch den heute in der feministischen Theorie sehr gängigen Begriff "Sexualpolitik" geprägt, geschaffen. Es war ein wahnsinnig mutiges Buch. Wahrscheinlich nach Simone de Beauvoirs "Das andere Geschlecht" und dem "Weiblichkeitswahn" von Betty Friedan das dritte Buch der Nachkriegszeit, das so einschneidend war.
Millet hat vor nichts gescheut
Ellmenreich: Ein mutiges Buch, sagen Sie, Frau Schwarzer, ein Buch, das von den eigenen Mitstreiterinnen nicht nur bejubelt wurde. Warum?
Schwarzer: Ja, das ist ja so eine Geschichte, wissen Sie. Eine andere amerikanische Feministin, die Robin Morgan hat mal gesagt, der erste Schritt der Frauen ist nicht die Versöhnung mit den Männern, sondern ist die Versöhnung mit den Frauen. Und über dieses Problem, des verinnerlichten Patriarchats sozusagen, der Mittäterschaft der Frauen bei der Unterdrückung anderer Frauen, hat Kate Millett auch ein sehr sehr mutiges Buch geschrieben, nämlich "Im Basement", in dem sie einen real passierten Fall, die Folterung und Ermordung einer 16-Jährigen durch ihre Pflegemutter aufgreift und es wagt, wirklich sich in beide hineinzuversetzen. Und fragt: Warum ist dieses Mädchen nicht gegangen? Es hat in der Tat mehrere Möglichkeiten gegeben für sie, zu gehen, sie ist aber nicht gegangen, weil sie einfach innerlich gefangen war. So wie die vielen vielen Frauen, die sich von ihren Männern schlagen lassen und nicht gehen, oder sogar aus dem Frauenhaus zurück in die Hölle gehen. Also Millett hat sich vor nichts gescheut, sie hat auch in die eigenen Abgründe geschaut und das hat nicht jedem gefallen, wissen Sie. Außerdem war sie ein früher Star der Frauenbewegung. Ein sogenannter Star, das heißt, sie war bekannt und die anderen waren nicht bekannt und das hat auch Rivalitäten und Neid geweckt. Die Angriffe gegen sie waren so heftig, dass sie zeitweise in der Psychatrie war. Also das ist auch bitter, aber Kate Millett hat etwas daraus gemacht, sie hat sich dem immer wieder gestellt und hat das analysiert und hat es beschrieben. Ganz abgesehen von der Analyse ist sie auch eine ausgezeichnete Schriftstellerin.
"Sexual Politics" aktueller denn je
Ellmenreich: Nun ist es ja bald ein halbes Jahrhundert her, fast 50 Jahre her, dass "Sexual Politics" erschienen ist, dieses feministische Manifest von Kate Millett, das ja ursprünglich eigentlich ihre Doktorarbeit war. Ist das nun aus heutiger Sicht eher ein historisches Dokument der Frauenbewegung oder lesen Sie das weiterhin, Alice Schwarzer, als eine aktuelle Schrift?
Schwarzer: Ja, es wäre schön, wenn es historisch wäre, da würde ich mich sehr sehr freuen. Aber leider sind die Probleme, die sie darin analysiert, also die Frage der Propagierung einer gewaltvollen Sexualität, die Pornografie und so weiter, die sind leider eher gestiegen, oder zumindest bewusster geworden. Das waren ja früher noch völlige Tabus. Ich erinnere mich, wie "EMMA" 1977 zum ersten Mal über den Missbrauch von Mädchen geschrieben hat, meist durch die eigenen Väter und Brüder und Nachbarn. Da herrschte völliges Schweigen, also das gab's nicht. Und wenn es das gab, musste das Opfer sich schämen. Also diese Probleme sind vor 50 Jahren angestoßen worden, sie öffentlich zu machen, es zu benennen, die Opfer zu benennen, die Täter zu benennen. Und seither ist es mal rauf und mal runter gegangen. Also wir sind weit davon entfernt, Milletts "Sexus und Herrschaft" als historische Schrift zu lesen, sondern ich würde sagen: Es ist aktueller denn je und sehr augenöffnend.
Ellmenreich: Das sagt Alice Schwarzer zum Tod der feministischen Theoretikerin und Schriftstellerin Kate Millett, die gestern mit 82 Jahren in Paris gestorben ist.