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Zum Tod des Architekten Claude Parent
"Mit der Schräge leben"

Kein Winkel zu schräg, keine Perspektive zu dynamisch: Der französische Architekt Claude Parent baute Villen für das Pariser Großbürgertum, Atomkraftwerke, Tankstellen und Supermärkte. Er galt als Vertreter der Moderne in der Architektur. Ein Nachruf auf einen, dessen Optimismus man schon jetzt vermisst.

Von Nikolaus Bernau | 01.03.2016
    Porträt des französischen Architekten Claude Parent.
    Der französiche Architekt Claude Parent starb im Alter von 93 Jahren. (AFP / Joel Saget)
    Er konnte zeichnen, wie es nur die Absolventen französischer und sowjetischer Architekturhochschulen noch im späten 20. Jahrhundert lernten: Kein Winkel zu schräg, keine Perspektive zu dynamisch, kein Material, das sich nicht mit Bleistift, Kohle oder auch Filzstift irgendwie darstellen lässt. Architektur als Handwerk der Raumerfindung auf dem Blatt Papier, Claude Parent beherrschte es perfekt.
    Vielleicht war das ein Grund dafür, dass sich dieser Architekt auch immer wieder neu erfinden konnte: Im Zeichnen sind neue Sichten auf die Architektur möglich, wenn man keinem Dogma folgen will. So, wie es die französische Philosophie seit der Aufklärung immer wieder von den selbstbewussten Bürgern fordert. Und selbstbewusst war Parent sicherlich. Er hatte Sendungsbewusstsein, ja, Missionsgeist, konnte aus seinen Auftritten regelrechte Shows machen. Das die Architektur Mutter aller Künste ist und Schöpferin neuer, besserer Lebensformen sein kann, dass stand für ihn außer Frage.
    Villen, Atomkraftwerke, Kühltürme
    Der 1923 in Neuilly-sur-Seine geborene Schüler von Le Corbusier, der niemals seine Ausbildung an der Architekturhochschule in Paris formal abschloss, machte es seinen Fans und Schülern – zu denen etwa Jean Nouvel gehörte – nicht leicht, wenn sie Eindeutigkeit verlangten. Er forderte von ihnen eigenes Denken. Die Karriere begann in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit exquisit-modernistischen Villen für das Pariser Großbürgertum, die mit ihrer heiteren Offenheit auch in Kalifornien stehen könnten. Später wurde Parent reich und umstritten durch die Planung von Atomkraftwerken und eleganten Kühltürmen. Technikbegeisterung war für seine Generation, die noch Pferde in der Landwirtschaft kannte, selbstverständlich – selbst wenn die Technik grausamen Zwecken gedient hatte. Parent entdeckte in den 1970er-Jahren mit Paul Virilio die kraftvolle Brutalität der Bunker des von der Wehrmacht errichteten Atlantikwalls. Die Rundungen und dicken Wände, Schatten und Lichtstreifen aus Geschützöffnungen, das Verstecken im Sand zwischen Gräsern wurde von Parent und Virilio als reines Formenreservoir neu gesehen, als Seitenweg der europäischen Modernen. Die Kirche, die Parent in Nevers plante, die mit ihren gewalttätig dicken Wänden so ganz und gar ein Bunker Gottes ist, wurde zum Pilgerziel unzähliger Architekturstudenten.
    Ein Haus als Landschaft
    Parent hätte nun einer der Großen des europäischen Brutalismus bleiben können, wie Le Corbusier oder Van den Broek und Bakema. Aber schon Anfang der 1970er schuf er mit seinem eigenen Wohnhaus eines der Schlüsselwerke jeder schillernden Architekturideen, die als "Dekonstruktivismus" grob zusammengefasst werden. Ein Haus, das keinerlei gerade Böden oder Wände hat. Das Haus soll eine Landschaft sein, in der man spielen kann, in der sich immer neue Eindrücke ergeben, in dem nicht einmal die Augenhöhe fest bestimmt ist. Das passte zum LSD-Hippietum, vor allem aber wurden hier die engen Grenzen dessen, was Architektur sein kann, aufgebrochen. Sie soll immer wieder einen neuen, ungewohnten Blick auf das Leben bieten. Wer aktuelle Entscheidungen in Mannheim oder Berlin ansieht, kann konstatieren: Wir vermissen Parents Optimismus schon jetzt.