Jan Drees: Was für ein Künstler war John Berger für Sie?
Hans Jürgen Balmes: Wie die meisten Menschen habe ich John Berger natürlich kennengelernt durch seine Bücher, schon von der Schule weg. Und ein ganz frühes Buch, das habe ich letzt gefunden mit einer gewissen Rührung dann auch, 1981 gekauft, und gleich angefangen, neben die Gedichte in seinen Büchern kleine Übersetzungen zu notieren. Und es war dann eine Riesenfreude, als ich ihn 1991 kennenlernen durfte. Wir hatten über eine Übersetzung gesprochen, die ihm irgendwie schwierig schien. Und daraus ergab sich dann das Projekt, dass wir immer mehr Übersetzungen zusammen gemacht haben.
Und es war so, dass er seine Übersetzer sehr achtete und mochte. Und einmal hat er zum Beispiel ein ganzes Buch auf Kassette für mich gesprochen, damit ich mir vorstellen kann, wie er sich vorstellt, wie es klingen sollte. Also, jemand, der die Nähe sucht, der versucht, den Klang der Sprache auch in der fremden nachzuspüren, aber jemand, der unheimlich neugierig war auf das, was wir selber gemacht haben.
Einer der schönsten Momente war immer, wenn man bei ihm zu Hause war und er gerade angefangen hat, an was Neuem zu schreiben, und dann nahm er dann beim Abendessen, nachdem die Teller abgeräumt waren, ein Manuskript aus dem Schrank, strich die Seiten glatt und sagte:
Ich muss euch mal was vorlesen, ich sitze an was Neuem ich weiß noch nicht, was das wird. Und so haben wir dann damals so die ersten Entwürfe gesehen zu seinen letzten großen Büchern, wo man sehen konnte, wie er tastet und wie er seine Leser auch immer wieder herausfordert und um Kommentare bittet und um bestätigt zu werden, um neue Wege zu finden, wie er mit seinem Material, mit seinen Figuren umgeht.
Diese Figuren, die blieben dann zwischen uns. Meine Frau war krank und der schrieb er dann einen Brief, wo er sagte, wie alle Romanfiguren sich jetzt bei ihr versammeln und ihr nur das Beste wünschen.
"Man unterstellte ihm orthodox-dogmatische kommunistische Positionen"
Jan Drees: Sie sagen, John Berger ist verschiedene Wege gegangen, sein Leben ist auch geprägt durch verschiedene Wege. 1926 wurde er geboren, 1942 begann er bereits ein Kunststudium an der Central School of Arts in London. Wie ist John Berger vom Kunststudenten zum Schriftsteller geworden in den ersten 20 Jahren?
Balmes: Ja, das Kunststudium war für ihn - man muss sich das vorstellen, das war ja noch im bombardierten London, einem London, in dem die National Gallery leer geräumt war. Die Bilder waren alle in Wales in Bergwerken. Aber der damalige Direktor hatte Konzerte dann organisiert in der National Gallery, damit der Ort ein Sammlungsort für Kunstinteressierte bleibt. Und eins der frühsten, tollsten Erlebnisse für John war, dass Myra Hess dort Bach gespielt hat in der leeren Nationalgalerie. Das muss man sich mal vorstellen. Und so war London zu der Zeit, jeder suchte nach seinen Dingen, jeder suchte nach Seinem. Aber das, was man in der Hand hielt, musste nicht immer das sein, mit dem man sich sein Leben lang beschäftigt.
Sein Kunststudium, sein Zeichnen, sein Malen, das hat ihn sein Leben lang nicht verlassen. Aber er hat irgendwann gemerkt, als er die Chance bekam, Kunstkritiken zu schreiben, dass er da irgendwie weiterkommt.
Jan Drees: Er fängt an, Kunstkritiken zu schreiben, und bereits 1957 erscheint sein erstes Buch, jedoch nicht in seiner Heimat Großbritannien und auch nicht in seiner Muttersprache, sondern in der DDR. Was war das für ein Buch und wie kam es, dass dann ein Jahr später tatsächlich der erste Roman vorlag?
Balmes: Es ist ein seltsamer Zufall. Es ist eine Monografie über den damals sehr bekannten italienischen Maler Guttuso, der halt in der DDR eine Monografie bekam. Und durch Zufall bekam er Kontakt zu dem Lektor und Verleger, dem Herrn Frommhold in Leipzig und die haben das dann zusammen ausgekaspert. Das ist ein Buch, was es auch nie in einer anderen Sprache gab. Aber so was hat ihn nicht angefechtet.
Der nächste Roman dann, "A Painter of Our Time", war ein Roman über einen Maler, den man in England aber wahnsinnig falsch verstanden hat, der nachher vom Verlag zurückgezogen ist, weil man ihm halt sehr orthodox-dogmatische kommunistische Positionen unterstellte, die er so eigentlich gar nicht vertrat.
Bergers großes Thema: Das Leben der Bauern und die Landflucht
Jan Drees: Das war damals der renommierte Londoner Verlag Secker & Warburg, der dann wirklich nach bereits einem Monat dieses Buch aus den Regalen genommen hat. Dann erscheinen zwei weitere Romane, die bislang nicht ins Deutsche übersetzt sind. Weshalb?
Balmes: Ich glaube, das hängt so ein bisschen auch mit der Konzeptionsgeschichte zusammen. Übersetzte Literatur hat es ja dann so Ende der 60er-Jahre, 68 war im Gange, ein bisschen schwer gehabt. Und es dauerte dann so bis Mitte 70er-Jahre, dass man übersetzte Literatur wieder so richtig umarmte. Und es war dann die Zeit, wo John an dieser großen Trilogie saß über das Leben der Bauern und die Landflucht der Menschen, diese beiden großen Themen, die ihn dann die nächsten 40 Jahre vollkommen in Beschlag nehmen werden.
Und einerseits war es so, dass das für ihn jetzt die dringlichsten Bücher waren, an denen alle gearbeitet haben, die überall publiziert worden sind, und dann ist dieses Frühwerk, könnte man sagen, so ein bisschen ins Vergessen gekommen. Genauso wie ja der große Skandalroman "G" ja auch nie übersetzt worden ist, sondern erst ganz spät im Reclam-Verlag in den frühen 90ern.
Jan Drees: 1972 bekam er dafür den Booker Prize for Fiction, und dort kam es dann zu einem Skandal, weil er die Hälfte des Geldes an eine ganz bestimmte Organisation gespendet hat.
Balmes: Ja, die Black Panthers. Dazu muss man wissen, dass natürlich viele der großen kulturellen Institutionen von den Zuckerherrschaften und Zuckerfirmen gestiftet worden sind, wie auch der Booker Prize damals gesponsert wurde von einem Zuckerhersteller und diese großen Firmen, die gewaltige Reichtümer im 19. Jahrhundert angehäuft haben durch die Sklaverei, also durch die Ausbeutung der Schwarzen auf den Zuckerrohrplantagen.
Und als Reflex darauf hat John dann die Hälfte des Preisgeldes den Black Panthern gespendet, die andere Hälfte hat er vorgesehen, um mit seinem Freund Jean Mohr dann dieses großartige Buch zu realisieren, "Der siebte Mensch", dieses große und erste Buch, was es gab über die Wanderarbeit, über Landflucht, über das, was wir heute Migration nennen. Und das ist auch ein Buch, das erschien Mitte der 70er-Jahre und ist heute noch mit jeder Zeile aktuell.
"Und dabei ist er immer Marxist geworden"
Jan Drees: John Berger war Kunstkritiker, John Berger war außerdem auch politisch engagiert. Er war Literat, er war aber auch Philosoph und Theaterautor. Die beiden Letzteren betrachtend, seine Philosophie und seine Theaterarbeit, wie haben wir ihn da einzuordnen?
Balmes: Ja, seine Philosophie ist ein Denken, was sich unheimlich zärtlich um die Dinge und um die Welt kümmert. Er denkt nach über Raum, über Zeit, über das Leben der Menschen, über die Art, wie wir unser Leben durch Entscheidungen prägen, wie unser Leben durch Entscheidungen von außen politisch geprägt wird. Und dabei ist er immer Marxist geworden.
Also, ich stelle mir ihn immer so vor: Wenn Walter Benjamin ein langes Leben gehabt hätte, dann wären die beiden eigentlich die besten Freunde gewesen, weil sie einerseits so ein marxistisches Interesse an der Zukunft haben, ein Verlangen danach haben, dass etwas morgen geben muss, um unser Heute zu verstehen. Und dieses, was es morgen geben müsste, sich immer vorzustellen und nicht als Utopie an die Wand zu malen, sondern als Sehnsucht den Gedanken hineinzugeben, das war seine Stärke.
Lesetipp: "Und unsere Gesichter, mein Herz, vergänglich wie Fotos"
Jan Drees: John Berger ist 90-jährig gestorben. Hier haben wir über ihn gesprochen. Was sollte man heute, an diesem Tag von ihm lesen und weshalb?
Balmes: Ach, am schönsten fände ich, wenn die Leute lesen würden "Und unsere Gesichter, mein Herz, vergänglich wie Fotos". Das ist sein Buch, wo er seine Summe zieht aus seinem Denken, es sind Erzählungen drin, er berichtet über Kunst, es finden sich Gedichte darin, so wie in seinem Werk überhaupt das Nachdenken, die Kunst, das Zeichnen, die Gedichte, die Essays, die Geschichten und das Erzählen eine große Einheit waren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Weitere Werke von John Berger:
"Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens"
Wagenbach-Salto, Berlin 1989, 132 Seiten, 18 Euro
"Mit Hoffnung zwischen den Zähnen, Berichte von Überleben und Widerstand"
Wagenbach, Berlin 2008, 144 Seiten, 15,90 Euro
"Der Augenblick der Fotografie"
Essays, Edition Akzente, Hanser, Berlin 2016, 272 Seiten, 22 Euro
"Von ihrer Hände Arbeit, Eine Trilogie"
Hanser, Berlin 2016, 593 Seiten, 28 Euro
"Bentos Skizzenbuch"
Hanser, Berlin 2013, 176 Seiten, 19,90 Euro
"Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens"
Wagenbach-Salto, Berlin 1989, 132 Seiten, 18 Euro
"Mit Hoffnung zwischen den Zähnen, Berichte von Überleben und Widerstand"
Wagenbach, Berlin 2008, 144 Seiten, 15,90 Euro
"Der Augenblick der Fotografie"
Essays, Edition Akzente, Hanser, Berlin 2016, 272 Seiten, 22 Euro
"Von ihrer Hände Arbeit, Eine Trilogie"
Hanser, Berlin 2016, 593 Seiten, 28 Euro
"Bentos Skizzenbuch"
Hanser, Berlin 2013, 176 Seiten, 19,90 Euro