"Ich komme aus einem Deutschland, das nicht mehr existiert und nie wieder existieren wird." Der Historiker Fritz Stern, am 2. Februar 1926 in Breslau geboren, entstammte einer assimilierten jüdischen Familie: Vater Arzt, Mutter Physikerin. Fritz Haber, Träger des Chemie-Nobelpreises, war sein Pate. Ihre bildungsbürgerliche Welt zerstörten die Nationalsozialisten unwiederbringlich: "Im Herbst 1938 - ich war zwölf - verließen meine Eltern und ich ihre alte Heimat Breslau in letzter Minute. Meine politische Erziehung begann in den fünf Jahren, die ich unter den Nationalsozialisten gelebt habe; in einem freien Amerika wurde sie fortgesetzt."
Mindestens ebenso stark wie die Bindung der Eltern an deutsche Literatur, Musik und Philosophie prägte den jungen Fritz Stern der Kontakt mit der politischen Kultur der Vereinigten Staaten. Schon als Schüler bewunderte er den demokratischen Präsidenten Franklin Roosevelt:
"Man kommt aus einem Nazideutschland und plötzlich sieht man eine Demokratie, ich wollte gerade sagen: eine blühende Demokratie, das wär' zuviel gesagt, aber eine Demokratie, die durch einen Präsidenten, die durch einen Chef, trotz einer ebenso schweren Wirtschaftskrise durchgegangen ist wie Deutschland 1932, sich nicht nur an die Demokratie geklammert hat, sondern einen demokratischen Staat benutzt haben, um die Wirtschaftskrise zu überwinden. Ja, ich hab mich dann beteiligt."
Einstein riet zum Medizinstudium
Dass dieser junge deutsche Emigrant Geschichte studieren würde, das war damals noch nicht ausgemacht. Albert Einstein, ein Freund der Familie, riet zur Medizin. Doch trotz "lebenslanger Hochachtung vor dem weißen Kittel" schrieb Fritz Stern sich an der New Yorker Columbia University für Geschichte ein, die - wie er selbst formulierte – "schließlich auch eine Wissenschaft ist".
Schon früh befasste er sich professionell mit dem Land seiner Geburt. "Ich habe einen Teil der einzigartigen Vielfältigkeit der deutschen Geschichte miterlebt und als Historiker versuche ich diese Vielfältigkeit zu verstehen in dem Rahmen, in dem sie stattgefunden hat, d.h. in dem Kontext der gesamteuropäischen Entwicklung."
In der Studie "Kulturpessimismus als politische Gefahr" analysierte Stern die antimoderne und antidemokratische Ideologie einflussreicher Denker der deutschen Rechten. Mit "Gold und Eisen", der Biografie von Bismarcks jüdischem Bankier Gerson Bleichröder, lieferte der Historiker sein Meisterstück ab. Zugleich profilierte der Gelehrte von der Columbia University sich als politischer Intellektueller und wurde in den USA ein gefragter Deutschland-Experte.
Fritz Stern hat Deutschland in den unterschiedlichsten Herrschaftssystemen erfahren: die Republik von Weimar, das Dritte Reich, die demokratische Bonner Republik, die DDR und - nach 1989 - das vereinte Deutschland. Von der Warte eines in den USA sozialisierten Liberalen aus nahm Stern an den Leitdebatten der Bundesrepublik teil, angefangen in den 1960er-Jahren mit der sogenannten Fischer-Kontroverse um die deutsche Kriegschuld im Ersten Weltkrieg. So hat er den Deutschen ihre wechselvolle Geschichte erklärt - und interessierten Amerikanern geholfen, ein rätselhaftes kleines Land in Europa zu verstehen. Eine Aufgabe, die dem Historiker angesichts seiner Familiengeschichte nicht leicht gefallen ist.
Mit Deutschland wieder versöhnt
Denn da waren die Erinnerungen an Hakenkreuze und die Ausgrenzung der Juden, da waren die Bilder aus Bergen-Belsen, die zur Chiffre eines ganzen Zeitalters wurden. Mit Deutschland versöhnt hat ihn Mitte der 1950er-Jahre die Begegnung mit den Familien der Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944:
"Da hat sich etwas in mir geändert, als ich die Gesichter der Witwen und der kleinen Kinder gesehen hab’, die übrig geblieben sind, deren Väter, Brüder, was weiß ich, ermordet worden sind, gefoltert worden sind. Das hat einen sehr, sehr tiefen Eindruck auf mich gemacht, das hat meine Meinung geändert."
Aus dem Verlauf der deutschen Geschichte hat der Historiker Fritz Stern die Kategorien entwickelt, mit denen der politische Intellektuelle die imperiale Überhebung der USA kritisierte: Nixon oder George W. Bush erinnerten ihn an die Großmannssucht Wilhelms II. Dass das demokratische Deutschland Fritz Stern mit zahlreichen Preisen ehrte, das hat ihn gefreut. "Five Germanys I have known" ist der Titel seiner Autobiografie. In der Bundesrepublik fand er Freunde wie Marion Gräfin Dönhoff und Helmut Schmidt - Exponenten eines liberalen, eines demokratischen Deutschlands. "Und in dem Sinne war das das Deutschland, das ich am besten kannte und dessen Erfolg mir eine Beruhigung war. Und wenn ich auch nur in der kleinsten Weise da mithelfen konnte, war das für mich eine Genugtuung."