Im Pariser Palais Bourbon ebbt der Lärm der Debatte nicht ab. Es ist halb vier Uhr morgens am 29. November 1974. Das französische Parlament soll das Gesetz zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs verabschieden. Ein Abgeordneter fragt, ob "Madame la Ministre" es verantworten könne, Embryonen wie in den Nazi-Lagern zu verbrennen. Einen Moment lang verbirgt Simone Veil ihr Gesicht. Noch Jahrzehnte später spekuliert man in Frankreich darüber, ob die junge Gesundheitsministerin, die den Geruch der Krematorien von Auschwitz nie vergessen hat, in diesem Moment weinen musste.
"Es war fürchterlich. Ich glaube, es gab nie wieder eine so schwierige Debatte in der Assemblée Générale. Da wurde geschrieen und geschimpft, es gab die schlimmsten Beleidigungen. Aber schließlich ist das Gesetz verabschiedet worden. Nur das war mir wichtig."
Sie erschütterte das Wertesystem Frankreichs bis in die Grundfeste
Durch die weit verbreiteten illegalen Abtreibungen kam es damals jährlich zu Hunderten von Todesfällen. Indem sie offen legte, worüber niemand sprach, und in dem sie den Frauen den Zugriff auf die Antibabypille vereinfachte, erschütterte Simone Veil das traditionelle Wertesystem Frankreichs bis in die Grundfesten.
"Es liegt in meinem Temperament Dinge anzufechten, schon als ich ganz klein war, habe ich meinem Vater widersprochen, der sehr autoritär war. Wenn man mir eine Frage stellt, sage ich immer zuerst nein. Erst später merke ich, dass die Dinge vielleicht komplizierter sind."
Als 18-Jährige ins Jurastudium gestürzt
Simone Veil wurde am 13. Juli 1927 in Nizza geboren und wuchs republikanisch-laizistisch und strikt antireligiös auf. Wegen ihrer jüdischen Herkunft wurde sie im März 1944 mit ihrer Mutter und einer Schwester nach Auschwitz deportiert. Die Mutter starb kurz vor der Befreiung. Auch der Vater und der Bruder blieben in den Lagern verschollen.
Bei ihrer Rückkehr nach Paris stürzte sich die 18-jährige Simone in ein ehrgeiziges Jurastudium und besuchte gleichzeitig die Eliteschule Science Po. Bereits fünf Jahre nach ihrer Befreiung aus den Nazi-Lagern kehrte sie nach Deutschland zurück, da ihr Mann in Wiesbaden eine Diplomatenlaufbahn begann.
"Für mich war es klar, dass wir uns mit den Deutschen versöhnen müssten, um einen Dritten Weltkrieg zu verhindern. Frankreich und Deutschland haben die gesamte Welt in ihre Kriege hineingezogen - mit Millionen von Toten. Deshalb habe ich mich immer für die europäische Einigung eingesetzt und konnte auch das Leben in Deutschland wie einen Schritt in Richtung Europa sehen, das ja in dieser Zeit sehr zum Thema wurde.
Bermerkenswerte Karriere im Justizministerium
Als sie mit 29 Jahren in Paris ihre Rechtsanwaltszulassung bekam, war Simone Veil bereits Mutter von drei Söhnen. Gegen den Widerstand ihres Mannes und die Vorstellungen der Zeit begann sie eine bemerkenswerte Karriere im Justizministerium.
Schon bald nachdem Valérie Giscard d’Estaing sie 1974 zur Gesundheitsministerin gemacht hatte, wurde Veil auch als künftige Präsidentin gehandelt. Doch nachdem sie kurz darauf schon bei der Nominierung für das Pariser Bürgermeisteramt gescheitert war, sprach der damalige Innenminister aus, was trotz ihrer großen Beliebtheit damals viele dachten: "Paris gibt sich keiner Frau hin - und noch weniger einer Israelitin."
Veil hatte nie das Gefühl, benachteiligt zu sein. Vielmehr meinte sie gerade in ihrer Rolle als eine Art Alibi-Frau der Regierung besonders viel für Ihresgleichen erreicht zu haben. Aber so sehr sie sich als Feministin begriffen hat, so fern lagen ihr kompromisslose Forderungen mit der die Frauenbewegung sie häufig konfrontierte.
Erste Präsidentin des Europaparlaments
Auch als Jüdin kam es Veil vor allem darauf an, der Verbrechen der Shoah zu gedenken und für ein einiges Europa zu kämpfen. Dass ausgerechnet sie - als ehemalige Insassin der Vernichtungslager - 1979 zur ersten Präsidentin des Europaparlaments werden konnte, begriff sie immer als den Höhepunkt ihrer Karriere. Und doch hat sie sich auch von jüdischen Gruppierungen oder politischen Parteien nicht vereinnahmen lassen.
"Ich habe das Spiel der Politik nie wirklich mitgespielt. Damit habe ich mir sicherlich den einen oder anderen Weg verbaut. Aber im selben Moment hat mir das eine große Freiheit gegeben."
Simone Veil hat nie aufgehört, sich einzumischen. Kurz nach ihrem 80. Geburtstag urteilte sie in ihrer im November 2007 erschienenen Autobiographie noch einmal mit seltener Offenheit über die Politik ihrer Kollegen. Sogar den Vater der Nation, Charles de Gaulle, wagte sie zu kritisieren, der mit seiner Nachkriegspolitik der nationalen Einheit die Aufarbeitung der Vichy-Verbrechen entscheidend vernachlässigte. So stand Simone Veil vor allem für die Wahrung demokratischer Werte in einem Europa, das den Nationalsozialismus überlebt hat.