Aber was, wenn die Vernunft nicht schläft, sondern träumt? Wenn sie träumt von sich selbst, von sich als Herrscherin der Welt schwärmt, wie sie es im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, so gerne tat, an seinem Ende, unter Karl III., sogar im katholischen Spanien? 1798, wenige Jahre nach der Französischen Revolution, hat Goya die Skizze der schlafenden/träumenden Vernunft gemalt, und zu jener Zeit wusste er längst, dass die Vernunft alles andere als vernünftig ist, dass auch sie –Robespierre lässt grüßen – die schlimmsten Ungeheuer hervorbringt. Der Traum der Vernunft als Vater des Ungeheuerlichen: Auch das macht Sinn, es illustriert die größenwahnsinnige Anmaßung, deren Zumutungen Spanien wenige Jahre später, 1808, auf furchtbare Weise zu spüren bekommt: Denn niemand Geringerer als der oberste Streitherr der Vernunft, Napoleon Bonaparte, marschiert in das Land ein und überzieht es mit jener Gewalt, die Goya in den "desastres de la guerra", den "Schrecken des Krieges", festhalten wird. Spätestens jetzt kann es keinen Zweifel mehr geben: Auch der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer.
"Zu jeder Fabel gehört noch eine andere", lautet ein bekannter, auf Juan Ruiz´ "Buch der guten Liebe" aus dem 14. Jahrhundert zurückgehender Topos der spanischen Literaturgeschichte, und er dient dem Kunsthistoriker Werner Hofmann in seiner großen und großartigen Goya-Monographie als hermeneutischer Leitfaden. Entsprechend stellt er der Fabel von Goya als dem großen Künstler der Aufklärung und der Vernunft. eine anderen gegenüber: die von Goya als Zeugen der aufziehenden Moderne, als Zeuge des Wettstreits zwischen Vernunft und Unvernunft, Täuschung und Enttäuschung, der sich im späten 19. Jahrhundert in Spanien zum "Kulturkampf" auswuchs, wie Hofmann schreibt: zur erbitterten Auseinandersetzung zwischen Klerus und Aufklärern, Anhängern des Absolutismus und den Verfechtern von Freiheit und Moderne. Und dieser Streit spitzt sich dramatisch zu, Zitat: "Die Verrücktheiten, die in der Jahrhundertmitte … noch integrierbar erscheinen, werden nun zum Merkmal kollektiven Wahnsinns. Was die Züchtigung auszugrenzen und zu disziplinieren vermeint, nimmt vom ganzen Gesellschaftskörper Besitz und schlägt auf ihn zurück."
Es schlägt zurück, weil Spanien im 18. Jahrhundert ein Land in der Krise, eine Kultur im Übergang ist: Die himmlischen Vermittlungsinstanzen sind längst ausgefallen, was bleibt, sind Schrumpfformen des Religiösen. Spiritualität ist nur als Rausch erfahrbar, die zahlreichen, regelmäßig in derben Vergnügungen endenden Heiligenumzüge der Epoche geben davon nachdrücklich Zeugnis. Besinnung, Orientierung kann man von solcher Religiosität nicht erwarten. Umgekehrt zeigt sich die spanische Aufklärung zu blutleer, zu streng, zu nüchtern, um die Massen zu begeistern. Schwach, wie sie ist, springt ihr Funke vom Herrscher nicht auf die Untertanen über. Und zwischen beiden Kräften steht Goya, der Maler, Diagnostiker, Zeitzeuge.
Doch das Bild vom "Schlaf" oder dem "Traum" der Vernunft deutete es bereits an: Goya steht nicht über diesen Welten, er ist von ihnen umfangen, hat mit den Gespinsten seiner Zeit nicht weniger zu tun als seine Zeitgenossen. Und nicht soziale Missstände sind Hofmann zufolge sein wesentliches Thema, sondern, viel grundsätzlicher, der fallende Mensch. Zitat: "(Goya) zeichnet und malt Parabeln, in denen er die menschliche Existenz in ihren unausweichlichen Verstrickungen, in ihrer schicksalhaften Fallsüchtigkeit aufzeigt."
Schicksalhafte Fallsüchtigkeit. Längst beschränkt sie sich nicht mehr auf die Ausnahmegestalten, die Heiligen und Gotteskinder. Um 1770 malt Goya die "Kreuzabnahme", ein Gemälde des toten Christus, hinweggetragen von zwei Engeln. Diesem Bild stellt Hofmann das gut sechzehn Jahre später gemalte Gemälde "Der verletzte Maurer" entgegen, das Bild eines vom Baugerüst gefallenen Arbeiters: genauso hilflos wie der gekreuzigte Christus, und ebenso wie er von treuen Gefährten gestützt. Leid und Niedergang sind vom Himmel auf die Erde gekommen. Und hier, auf der Erde, wird dieser Fall kein Ende finden. Immer tiefer stürzen die Menschen, machen sich selbst das Leben zur Qual. "Vom Himmel durch die Welt zur Hölle" hat Hofmann seine Studie darum benannt.
Und doch sind die Rollen in dieser irdischen Hölle nicht statisch aufgeteilt. Nur wenige Monate vor dem Bild des "gestürzten" Maurers fertigte Goya das Bild des "trunkenen" Maurers an: Der gleiche Aufbau - allerdings nicht tragisch, sondern burlesk anmutend. In welchem Bild mochte Goya die condition humaine glaubwürdiger veranschaulicht sehen? In keinem, meint Hofmann, oder besser: in beiden gleichermaßen. Denn der Heilige ist immer auch ein Trunkener, zumindest verhält es sich auf Erden so, und nirgends anders kann Goya seine Erfahrungen machen. Mit einer, Zitat, "polyfokalen Kunstwirklichkeit" habe es man im Werk Goyas darum zu tun, schreibt Hofmann, mit Darstellungen widersprüchlicher Veranlagungen, die die herkömmlichen Charakterlehren glatt unterlaufen. "Die Kategorien von Rousseau und Diderot – der natürliche und der künstliche Mensch – greifen nicht mehr", umschreibt Hofmann Goyas zentrale Erfahrung, eine Erfahrung, die Goya mit seiner Epoche teilt – und die Hofmann durch einen Goya und Goethe miteinander verbindenden Prolog eindrücklich illustriert.
"Religion, Sitte, Gesetz, Stand, Verhältnisse, Gewohnheit", zitiert Hofmann den deutschen Dichter, "alles beherrscht nur die Oberfläche des städtischen Daseins. (…) Wie viele Familien hatte ich nicht schon näher und ferner durch Bankerotte, Ehescheidungen, verführte Töchter, Morde, Hausdiebstähle, Vergiftungen entweder ins Verderben stürzen oder auf dem Rand kümmerlich erhalten sehen." Man merkt: Goethes Welt ist Goyas Welt, beide werden Zeugen einer gigantischen Dekadenz. Lässt die sich aufhalten? "Der Künstler heilt, indem er bewusst macht", hat Hofmann das letzte Kapitel seines wunderbaren, prächtig illustrierten Buchs überschrieben, und vertraut, hierin ganz ein Mann der Kunst, der heilenden Kraft der Formgebung, der Gesundung durch Veranschaulichung. "Der Künstler", schließt Hofmann seine Studie, "heilt, indem er bewusst macht. Mehr vermag er nicht." Das ist viel, sehr viel. Ob dem tatsächlich so ist? Wir wollen es uns wünschen.
Werner Hofmann
Goya. Vom Himmel durch die Welt zur Hölle
Beck, 336 S., 270 Abb., EUR 78,-
"Zu jeder Fabel gehört noch eine andere", lautet ein bekannter, auf Juan Ruiz´ "Buch der guten Liebe" aus dem 14. Jahrhundert zurückgehender Topos der spanischen Literaturgeschichte, und er dient dem Kunsthistoriker Werner Hofmann in seiner großen und großartigen Goya-Monographie als hermeneutischer Leitfaden. Entsprechend stellt er der Fabel von Goya als dem großen Künstler der Aufklärung und der Vernunft. eine anderen gegenüber: die von Goya als Zeugen der aufziehenden Moderne, als Zeuge des Wettstreits zwischen Vernunft und Unvernunft, Täuschung und Enttäuschung, der sich im späten 19. Jahrhundert in Spanien zum "Kulturkampf" auswuchs, wie Hofmann schreibt: zur erbitterten Auseinandersetzung zwischen Klerus und Aufklärern, Anhängern des Absolutismus und den Verfechtern von Freiheit und Moderne. Und dieser Streit spitzt sich dramatisch zu, Zitat: "Die Verrücktheiten, die in der Jahrhundertmitte … noch integrierbar erscheinen, werden nun zum Merkmal kollektiven Wahnsinns. Was die Züchtigung auszugrenzen und zu disziplinieren vermeint, nimmt vom ganzen Gesellschaftskörper Besitz und schlägt auf ihn zurück."
Es schlägt zurück, weil Spanien im 18. Jahrhundert ein Land in der Krise, eine Kultur im Übergang ist: Die himmlischen Vermittlungsinstanzen sind längst ausgefallen, was bleibt, sind Schrumpfformen des Religiösen. Spiritualität ist nur als Rausch erfahrbar, die zahlreichen, regelmäßig in derben Vergnügungen endenden Heiligenumzüge der Epoche geben davon nachdrücklich Zeugnis. Besinnung, Orientierung kann man von solcher Religiosität nicht erwarten. Umgekehrt zeigt sich die spanische Aufklärung zu blutleer, zu streng, zu nüchtern, um die Massen zu begeistern. Schwach, wie sie ist, springt ihr Funke vom Herrscher nicht auf die Untertanen über. Und zwischen beiden Kräften steht Goya, der Maler, Diagnostiker, Zeitzeuge.
Doch das Bild vom "Schlaf" oder dem "Traum" der Vernunft deutete es bereits an: Goya steht nicht über diesen Welten, er ist von ihnen umfangen, hat mit den Gespinsten seiner Zeit nicht weniger zu tun als seine Zeitgenossen. Und nicht soziale Missstände sind Hofmann zufolge sein wesentliches Thema, sondern, viel grundsätzlicher, der fallende Mensch. Zitat: "(Goya) zeichnet und malt Parabeln, in denen er die menschliche Existenz in ihren unausweichlichen Verstrickungen, in ihrer schicksalhaften Fallsüchtigkeit aufzeigt."
Schicksalhafte Fallsüchtigkeit. Längst beschränkt sie sich nicht mehr auf die Ausnahmegestalten, die Heiligen und Gotteskinder. Um 1770 malt Goya die "Kreuzabnahme", ein Gemälde des toten Christus, hinweggetragen von zwei Engeln. Diesem Bild stellt Hofmann das gut sechzehn Jahre später gemalte Gemälde "Der verletzte Maurer" entgegen, das Bild eines vom Baugerüst gefallenen Arbeiters: genauso hilflos wie der gekreuzigte Christus, und ebenso wie er von treuen Gefährten gestützt. Leid und Niedergang sind vom Himmel auf die Erde gekommen. Und hier, auf der Erde, wird dieser Fall kein Ende finden. Immer tiefer stürzen die Menschen, machen sich selbst das Leben zur Qual. "Vom Himmel durch die Welt zur Hölle" hat Hofmann seine Studie darum benannt.
Und doch sind die Rollen in dieser irdischen Hölle nicht statisch aufgeteilt. Nur wenige Monate vor dem Bild des "gestürzten" Maurers fertigte Goya das Bild des "trunkenen" Maurers an: Der gleiche Aufbau - allerdings nicht tragisch, sondern burlesk anmutend. In welchem Bild mochte Goya die condition humaine glaubwürdiger veranschaulicht sehen? In keinem, meint Hofmann, oder besser: in beiden gleichermaßen. Denn der Heilige ist immer auch ein Trunkener, zumindest verhält es sich auf Erden so, und nirgends anders kann Goya seine Erfahrungen machen. Mit einer, Zitat, "polyfokalen Kunstwirklichkeit" habe es man im Werk Goyas darum zu tun, schreibt Hofmann, mit Darstellungen widersprüchlicher Veranlagungen, die die herkömmlichen Charakterlehren glatt unterlaufen. "Die Kategorien von Rousseau und Diderot – der natürliche und der künstliche Mensch – greifen nicht mehr", umschreibt Hofmann Goyas zentrale Erfahrung, eine Erfahrung, die Goya mit seiner Epoche teilt – und die Hofmann durch einen Goya und Goethe miteinander verbindenden Prolog eindrücklich illustriert.
"Religion, Sitte, Gesetz, Stand, Verhältnisse, Gewohnheit", zitiert Hofmann den deutschen Dichter, "alles beherrscht nur die Oberfläche des städtischen Daseins. (…) Wie viele Familien hatte ich nicht schon näher und ferner durch Bankerotte, Ehescheidungen, verführte Töchter, Morde, Hausdiebstähle, Vergiftungen entweder ins Verderben stürzen oder auf dem Rand kümmerlich erhalten sehen." Man merkt: Goethes Welt ist Goyas Welt, beide werden Zeugen einer gigantischen Dekadenz. Lässt die sich aufhalten? "Der Künstler heilt, indem er bewusst macht", hat Hofmann das letzte Kapitel seines wunderbaren, prächtig illustrierten Buchs überschrieben, und vertraut, hierin ganz ein Mann der Kunst, der heilenden Kraft der Formgebung, der Gesundung durch Veranschaulichung. "Der Künstler", schließt Hofmann seine Studie, "heilt, indem er bewusst macht. Mehr vermag er nicht." Das ist viel, sehr viel. Ob dem tatsächlich so ist? Wir wollen es uns wünschen.
Werner Hofmann
Goya. Vom Himmel durch die Welt zur Hölle
Beck, 336 S., 270 Abb., EUR 78,-