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''Zwischen den Zeilen'', Nr. 21

Wer auch immer einst das Label "experimentelle Poesie" in Umlauf gebracht hat – er hat der damit bezeichneten poetischen Schule erheblichen Schaden zugefügt. Denn all die bekennenden Anhänger jenes "Experiments mit der Sprache als Material" wurden – nicht ohne eigenes Zutun - sogleich der künstlerischen Sterilität bezichtigt. Den schlechten Ruf des "Experimentellen" befestigten all jene Dogmatiker, die ihre avantgardistischen Manifeste als ultima ratio der Poesie verkauften. Die Leser ergriffen die Flucht – und die Experimentellen trösteten sich mit der Verbreitung von Nestwärme auf einschlägigen Kolloquien. Wenn nun ein Sonderheft der Zeitschrift "Zwischen den Zeilen" unter Federführung des Lyrikers Ulf Stolterfoht "elf Widerstandsnester" der Poesie annonciert, dann fürchtet man zunächst ein allzu spezialistisches Heimspiel der Experimentellen, das die neuesten Dekonstruktionen traditioneller Versrede auf Kosten der Lesbarkeit absolviert.

Michael Braun |
    Aber das Unbehagen angesichts von experimentell ausgehobenen "Widerstandsnestern" wird von den sprachbesessenen Wort-Komponisten des Heftes sogleich zerstreut. So entwirft hier der ewig-anarchische Ostberliner Bert Papenfuß eine sehr eigensinnige lyrische Strategie des "sozialen Engagements", die sich von allen Naivitäten des herkömmlichen "Widerstands"-Verständnisses emanzipiert hat. Um jedes Gesinnungs-Gesülze zu vermeiden, fordert Papenfuß die "antipolitische Artikulation": "Von Anekdote über Ironie, Satire, Zynismus bis zur Zote sind alle Mittel recht, nur prägnant müssen sie sein - Essenzen, Sentenzen, Sequenzen statt Geleier, Geseier und Rumgeeier."

    Was hier Ulf Stolterfoht als Herausgeber des "Zwischen den Zeilen"-Sonderhefts an vokabulären Abweichungs-Strategien und "antipolitischen Artikulationen" zusammengetragen hat, kartographiert das ganze Spektrum sprachreflektorischer Schreibweisen. Da folgt auf die spracherfinderische, bildermächtige Wort-Wucherung des Ekstatikers Paulus Böhmer, auf diese ungeheuren Phantasmagorien von Tod und Sexualität die streng durchdeklinierte Reduktion in Gestalt der Palindrome und symmetrischen Typogramme Anton Bruhins. Aus dem knappen Palindrom "Purist Sirup" entwickelt Bruhin ein weites Feld von Bedeutungsverschiebungen. Auf Oswald Eggers geometrische Konfigurationen von Sprache antworten die minimalistischen Zeichnungen Thomas Kapielskis, die freilich in ihrer Koketterie mit der Banalität stecken bleiben.

    Mit Ronald Pohl und Christian Steinbacher hat Sonderheft-"Kompilator" Stolterfoht zwei kaum bekannte Exponenten der (noch zu gründenden) "Linzer Schule" entdeckt, die sich in ihren Sprachzerlegungs-Techniken ein bisschen zu gehorsam an Altmeister Oskar Pastior orientieren. An Überraschungen reicher sind die surrealistischen Vagabondagen des Wiener Dominik Steiger, der sich in seiner biographischen Notiz völlig zurecht als "quantenfanatischer Infanterist der Phantasie" bezeichnen darf. Von den magnetischen Feldern des Surrealismus hat sich auch Hans Thill bewegen lassen, der sich nicht nur "die schönen krummen Sätze der Moderne", sondern auch die Fachsprachen der Werbeindustrie und die Emphasen der Religionen einverleibt hat, um daraus das Material für seine Poetik der Überraschungen zu gewinnen. Mit einer Sentenz des französischen Sprachanarchisten Raymond Queneau nimmt Thill Kurs auf die längst verloren geglaubte "ästhetische Autonomie" des Gedichts: "immer n bisschen extrem / son Poem".