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Zwischen Starre und Protest
Russland vor der nächsten Revolution?

Die Wirtschaft stagniert, die Realllöhne sinken: In Russland wird der Widerstand der Gesellschaft größer, immer mehr Bürger gehen auf die Straße - doch der Kreml erstickt selbst kleinste Proteste im Keim. Hundert Jahre nach der blutigen Revolution blicken die einen mit Angst, die anderen mit Hoffnung auf die explosive Situation im Land.

Von Boris Schumatsky |
    Am 26. März 2017 protestieren Demonstranten im russischen St. Petersburg gegen Korruption und für die Abdankung des russischen Premierministern Dimitri Medwedew
    "Putin ist ein Dieb!": Proteste am Palastplatz im russischen St. Petersburg, wo vor genau einem Jahrhundert der letzte Zar gestürzt wurde. (imago / Alexander Kulebyakin)
    Niemand hatte es erwartet. Am letzten Märzsonntag gingen mehr als einhunderttausend Menschen in Dutzenden russischer Städte auf die Straße. "Putin ist ein Dieb!", skandierten die Demonstranten am Palastplatz in St. Petersburg, wo vor genau einem Jahrhundert der letzte Zar gestürzt worden war.
    Der hundertste Jahrestag der blutigen Revolution ruft in Russland gemischte Gefühle hervor. Die einen hoffen, dass eine neue Revolution Russland aus der heutigen Starre erlösen könnte, die anderen fürchten sich vor einem politischen und wirtschaftlichen Zusammenbruch.
    Bisher schien der Kreml mit Zuckerbrot und Peitsche die Lage fest im Griff zu haben. Sein Zuckerbrot war die Annexion der ukrainischen Krim. Sie ließ die Beliebtheit von Wladimir Putin auf einen Schlag um zwanzig Prozent hochschnellen. Die Peitsche waren die Gummiknüppel, mit denen vor vier Jahren die letzten großen Proteste niedergeschlagen und die Demonstranten in Untersuchungshaft und Arbeitslager geschlagen wurden.
    Der Kreml profitierte jahrelang von hohen Öl- und Gaspreisen
    Die russische Polizei wendet bei Festnahmen einen besonderen Griff an. Auch wenn man sich nicht wehrt, werden einem die Arme hinter dem Rücken so weit nach oben gebogen, dass sich die Festgenommenen tief bücken müssen, sonst würden die Gelenke ausrenken. Immer wieder brechen dabei Knochen. "Alle könnt ihr nicht einsperren!", skandieren die anderen Demonstranten und weichen nicht von der Stelle.
    Die Anti-Korruptionsstiftung von Alexej Nawalny, einem Regimekritiker mit nationalpopulistischer Gesinnung, warf in einer Online-Dokumentation dem Regierungschef Dmitri Medwedew Amtsmissbrauch vor. Die Dokumentation war der Auslöser für die neue Protestwelle. Die Ursachen aber liegen tiefer.

    Jahrelang hatte der Kreml von hohen Öl- und Gaspreisen profitiert und konnte sich so die Loyalität der Bevölkerung erkaufen. Doch seit 2014 der Ölpreis einbrach, sucht der Kreml verzweifelt nach neuen Geldquellen. Der Moskauer Politikprofessor Valery Solovey bringt das neue Credo der russischen Machthaber in einem Radiointerview sehr prägnant auf den Punkt:
    Zwei Polizisten führen Nawalny aus einer Menge von Demonstranten, von denen einige die Szene filmen bzw. fotografieren.
    Der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny (m.) wurde am 26.03.2017 in Moskau auf einer nicht genehmigten Demonstration festgenommen. (Evgeny Feldman / dpa / ap)
    "Das Volk ist unser neues Öl. Wir werden aus ihm das auspressen, was es in den Jahren des relativen Wohlstands aufgesaugt hat. Weil ich darüber geforscht habe, weiß ich, dass der fiskalische Druck der direkte Weg zu sozialen Unruhen ist. Sobald der Druck steigt, sollte sich man auf ernsthafte Probleme einstellen."
    Quer durch Russland entstehen immer wieder Protestherde
    Seit drei Jahren sinken in Russland die Reallöhne, zugleich führt die Regierung immer neue Gebühren und Steuern ein. Noch vor der Ausbruch des Märzprotestes entstanden in den letzten Jahren quer durch Russland immer wieder kleinere Protestherde, entweder lokal begrenzt oder auf eine Berufsgruppe bezogen.
    Bauarbeiter im sibirischen Chakassien fordern ihr Gehalt, das seit zwei Jahren nicht ausgezahlt wurde. St. Petersburger protestieren gegen die Übergabe ihrer Isaaks-Kathedrale an die Orthodoxe Kirche, die inzwischen zur Staatskirche avanciert ist. Fernfahrer kämpfen gegen die neue Maut, die einen Oligarchen aus Putins Umkreis bereichern soll. Und in einem Randbezirk Moskaus gehen die Einwohner auf die Straße, um ihren kleinen Park zu schützen.
    Der Lossinoostrowski Bezirk ist eine Stadtrandsiedlung mit über 80.000 Einwohnern, mit kilometerlang gleich aussehenden mehrstöckigen Häusern aus den 1950er- und 70er-Jahren, die man damals "Schuhkartons" nannte. In der Mitte ist ein kleiner Park und ein Teich. Ein Schutzgebiet, auf dem man außer Bänken oder Kioske nichts bauen darf.
    "Wir sind nicht gegen die Politik, wir sind für unseren Park"
    Doch vor zwei Jahren erlaubten die Beamten auf dem Terrain des Parks den Bau eines Kirchenkomplexes. Die Anwohner protestierten, sie riefen Behörden und Gerichte an, und als nichts half, gingen sie auf die Straße.
    Anna blickt aus ihrem Wohnzimmerfenster auf die alten Birken, die gefällt werden sollen. Die Frau, Mitte Vierzig, die mit ihrem richtigen Namen nicht genannt werden möchte, war von Anfang an bei den Protesten im Torfjanka-Park dabei:
    "Ich bin keine politische Kämpferin. Das ist für mich eine individuelle Entscheidung, genauso wie ich 2012 auf die Straße ging. Natürlich habe ich meine politischen Überzeugungen, aber im Torfjanka-Park rede ich nie über sie. Denn obwohl dort das ganze politische Spektrum vertreten ist, sind die meisten einfach Bürger. Alle sagen einstimmig, wir hier sind nicht gegen die Politik, wir sind für unseren Park."

    Akademikerinnen wie Anna, die sich beruflich mit Kinderbüchern beschäftigt, sind eine Minderheit in Russland und auch in Annas Nachbarschaft. Vor einem Jahrhundert war es die Intelligenzija gewesen, die dem damaligen Protest die politischen Ziele vorgegeben hatte. Auch während der Perestroika und Glasnost waren es die politischen Ideale der andersdenken Intellektuellen, die den alten Machthabern entgegengesetzt wurden.
    Die Proteste eint Unzufriedenheit mit wirtschaftlicher und politischer Starre
    Heute ist es anders. Der russische Basisprotest ist zwar noch sprachlos und vereinzelt, getrennt durch soziale und geographische Entfernung in einem Land, das sich über neun Zeitzonen erstreckt. Und doch entsteht dort überall etwas Neues, glaubt Anna:
    "Dieser Protest, der sich unter meinem Fester abspielt, ist sehr bemerkenswert. Man liest ja oft, es gebe bei uns keine Zivilgesellschaft, und auch ich selbst habe immer gesagt, dass es keine gibt. Und plötzlich wacht sie auf, sie bricht durch wie ein Trieb im Frühling; man zertrampelt sie, aber sie richtet sich wieder auf. Das sind keine Linken und keine Rechten, das sind Menschen, die mit Politik sonst nichts am Hut haben, sondern einfach ihre Hunde im Park Gassi führen wollen."
    Vor fünf Jahren, vor Wladimir Putins erneutem Amtsantritt, waren die Proteste vor allem von den gebildeten und wohlstatuierten Großstädten getragen. Heute lehnen sich Menschen in Randbezirken, kleineren Städten und sogar auf dem Land auf. Anfangs geht es meist um lokale Probleme. Doch was alle Proteste eint, ist eine allgemeine Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen und politischen Starre, die ein Jahr vor den nächsten Präsidentschaftswahlen das Land erfasst hat.
    "Es gibt gar keine positiven Aussichten mehr"
    Der Wirtschaftsforscher an der Lomonossow-Universität, Oleg Buklemishev, sieht in dieser Perspektivlosigkeit das größte Hindernis für eine stabile Entwicklung:
    "Die wichtigste Ressource der Wirtschaft sind Erwartungen. Sowohl die Unternehmen als auch die Bevölkerung sollten ein positives Bild davon haben, was die Wirtschaft in den kommenden Jahren erwartet. Doch weder die Unternehmerwelt noch die Bürger haben heute eine Vorstellung von ihrer Zukunft, weder eine positive noch überhaupt eine. Unsere Politik will sich immer auf die Meinungsumfragen stützen. Wollt ihr eine Supermacht sein? – Ja bitte, jetzt sind wir eine Supermacht! Und dennoch fehlt das Gefühl, dass wir uns in die richtige Richtung bewegen. Man sorgt sich um die Zukunft, weil es gar keine positiven Aussichten mehr gibt."

    Der Ökonom Buklemishev weiß, wovon er redet. Er war Regierungsbeamter in der Zeit, als die russische Wirtschaft noch rasant wuchs. Der wirtschaftliche Aufschwung begann Ende der 1990er-Jahre, noch bevor Wladimir Putin Präsident wurde, und er dauerte fast zehn Jahre. Als Buklemishev 2004 die Regierung verließ, dominierte bereits die Einheitspartei Putins das russische Parlament. Die wichtigsten Medien standen bereits unter der Kontrolle des Kreml.
    Russlands Präsident Wladimir Putin
    Putins große Beliebtheit bei den Russen sehen Meinungsforscher als das größte Geheimnis der russischen Politik und Gesellschaft. (picture alliance / Mikhail Klimentyev/TASS/dpa)
    Über 8o Prozent der Russen unterstützen Putin
    So viel anders als heute war das politische System auch damals nicht. Für viele Spitzenpolitiker und Industrielle in Deutschland und anderen Industrienationen war Putin jedoch ein "lupenreiner Demokrat" und die russische Wirtschaft ein zuverlässiger Partner für milliardenschwere Investitionen. Dass der Fortschrittstrend einbrach, sagt Buklemishev, hatte rein politische Ursachen:
    "Dahinter steckt eben dieser Wusch, alles allein zu bestimmen, die Überzeugung, dass man alles besser weiß als alle anderen. Niemand wird angehört, Fehler werden nicht mehr anerkannt. Die Konzentration der Macht geht längst über jedes vernünftige Maß hinaus. Kein Staat braucht so viele Vollmachten, um seine Funktion zu erfüllen. All diese grandiose Macht schafft nichts davon, was die Wirtschaft heute wirklich braucht."
    Dennoch genießt der mächtige Präsident Putin die Unterstützung von über 80 Prozent der Russen, so die neuesten Angaben des unabhängigen Levada-Zentrums. Die Meinungsforscher bezeichnen diesen Beliebtheitswert als "Rating", und dieses, wie sie sagen, "bombenfeste" Rating Putins, ist der einzige Grundstein und zugleich das größte Geheimnis der russischen Politik und Gesellschaft.
    Putin als der Märchenriese Russlands
    Der Soziologe Alexej Levinson beschäftigt sich seit rund zwei Jahrzehnten damit, und trotzdem scheint er dieses politische Rätsel immer noch nicht fassen zu können:
    "Das ist ein erstaunliches Phänomen, dieses Rating Putins, das wir von Anfang an beobachtet haben, als im Jahr 2000 ein praktisch unbekannter Mann von Boris Jelzin zum Premierminister ernannt und dann selbst Präsident wurde. Putins Rating lag seit dem allerersten Tag bei über 60 Prozent."

    Dieselben hohen Angaben zu Putins Unterstützung veröffentlichen auch die kremltreuen Meinungsforscher. Die Kremlkritiker im In- und Ausland erklären diese Zahlen entweder durch die gleichgeschalteten Medien oder damit, dass die Russen Angst vor der Befragung haben. Alexej Levinson allerdings glaubt nicht daran, dass die Menschen durch die Medien manipuliert seien oder dass sie aus Angst gefällige Antworten geben würden. Leider ist die Situation, sagt der Soziologe, viel gefährlicher:
    Polizisten in Moskau nehmen einen Mann während einer Demonstration gegen Korruption in Russland fest.
    Während der landesweiten Anti-Korruptions-Proteste in Russland wurden - wie hier in Moskau - Hunderte Demonstranten festgenommen (imago )
    "Was im Massenbewusstsein geschieht, kann man so beschreiben: Das Land schuf sich ein Symbol, eine Art Nationalfahne. Zuerst war Putin ein Symbol, aber nach dem Anschluss der Krim sah man in Putin auch noch den Beschützer, und aus einem populären Politiker verwandelte er sich in einen charismatischen Anführer. Das ist sehr, sehr ernst, und nicht nur für Russland, auch für die Welt."
    Für die meisten Russen ist Putin ein Märchenriese, sagt Levinson, und andere Staatschefs stehen wie Pygmäen neben ihm. Eine solche Vorstellung von der Politik teilen in Russland sogar Menschen, die ihre Lebensumstände durchaus kritisch bewerten, und sogar diejenigen, die offen dagegen protestieren.
    "Wenn wir schweigen, nehmen sie uns alles weg"
    Die Anwohner des Torfjanka-Parks hatten sich schon seit über einem Jahr für die Erhaltung des Naturareals eingesetzt, mit Tanz, mit Musik, und mit Transparenten "Putin, beschütze unsere Parks!". Dann riss der Obrigkeit der Geduldsfaden. Im vergangenen November durchsuchte die Polizei die Wohnungen mehrerer Parkanwohner und nahm ein Dutzend Aktivisten fest.
    Doch am nächsten Tag gingen wieder empörte Anwohner auf die Straße, gleich mehrere hundert Menschen. Seitdem bewachen sie Tag und Nacht ihren Park von einem geparkten Kleinbus aus. Jedes Mal, wenn Baugerät in Polizeibegleitung anfährt, informieren sie einander durch eine Telefonkette. Dutzende Anwohner kommen sofort aus ihren Häusern und versammeln sich im Park. Alte Frauen legen sich vor die Busse der Einsatzpolizisten.
    Die junge Frau, die gerade mit einer Freundin ihren zweistündigen Wachdienst im Bus angetreten hat, will Katja genannt werden. Wie ihre Nachbarinnen behält auch sie ihren richtigen Namen lieber für sich:
    "Klar habe ich Angst, aber noch mehr Angst habe ich davor, den Park zu verlieren. Wenn wir schweigen, nehmen sie uns alles weg. Deswegen sitzen wir ja auch hier, in der Hoffnung, erhört zu werden. Wir hoffen auf die Obrigkeit, und es gibt nur einen Weg, ihre Aufmerksamkeit zu bekommen, nämlich, wenn man ihnen ein bisschen auf den Wecker geht."
    "Eine Politik, die alle Konkurrenten eliminiert"
    Das eint viele kleine und große Protestaktionen der letzten Jahre. Zumindest am Anfang erwarten sie Hilfe von der Obrigkeit, manchmal wenden sie sich an Putin höchstpersönlich. Die Bauarbeiter einer Weltraumraketen-Rampe schreiben auf den Dächern ihrer Wohncontainer: "Sehr geehrter Putin, rette die Arbeiter. 4 Monate ohne Gehalt." Sie schreiben das in metergroßen Buchstaben, damit Putin es aus dem Weltraum lesen kann.
    Andere Bauarbeiter in der Region Chakassien, die auch nicht bezahlt wurden und von Putin seit zwei Jahren nicht erhört werden, fanden einen noch besseren Weg zu seinem Ohr. Ihr Online-Appell:
    "Sehr geehrter Herr Donald Trump, da unser Präsident uns nicht hört, könnten Sie bei einem Treffen mit Putin ihn bitte an die Leute erinnern, die hier in Chakassien leben."
    Dann kündigten die Bauarbeiter einen Hungerstreik an. Auch die Fernfahrer, die in ganz Russland seit zwei Jahren protestieren, appellierten bis vor Kurzem vor allem an Putin. Das ist eine besondere Auffassung von Politik, sagt der Meinungsforscher Levinson:
    "Dass es niemanden außer Putin gibt, ist natürlich Folge einer Politik, die alle Konkurrenten eliminiert. So funktioniert dieses System. Aber es ist vor allem nicht die Politik, die autoritär ist, nein, die Gesellschaft selbst hat eine autoritäre Vorstellung davon, wie die Politik sein soll. Deshalb ist die Lage so ernst, es geht weit über die Politik hinaus."
    Immer mehr Bürger lehnen sich gegen die Repression auf
    Vor einem Jahrhundert hatte man sich in Russland auch nichts anderes als die Alleinherrschaft des Zaren vorstellen können. Auch diese Autokratie schien stabil, bis sie 1917 innerhalb von wenigen Tagen von der Bildfläche verschwand. Heute warnen die russischen Spitzenpolitiker, die staatstreuen Medien und Präsident Putin selbst nahezu tagtäglich vor einem Umsturz, vor einer "orangenen" Revolution wie zuletzt in der Ukraine.

    Selbst kleinen Protesten begegnet der Kreml mit Repression. Nach dem Wiederaufflammen des Massenprotests im März wurden allein in Moskau über eintausend friedliche Demonstranten vorübergehend festgenommen, so viele wie noch nie in der jüngeren Geschichte Russlands. Gegen die streikenden Fernfahrer in Dagestan wurden Panzer aufgefahren, und die Wohnungen der Parkschützer von Torfjanka wurden von Einsatzkommandos mit Diensthunden gestürmt.
    Russland, Februar 1917: Soldaten und Revolutionäre feuern auf Hinterhalte von Polizisten.
    Die Februarrevolution 1917 beendete die Zarenherrschaft in Russland. (dpa / Ria Novosti)
    Immer mehr Bürger widersetzen sich, sie lehnen sich gegen die Repression auf, gegen korrupte Beamte. Aber nur wenige stellen die Verbindung zur "großen Politik" her. So bezeichnet Katja, die im geparkten Bus ihren Park bewacht, die Politik Wladimir Putins:
    "Was hat die Politik bei uns verloren? Ich sehe hier nichts, was mit der Politik zusammenhängen würde. Was ich sehe, ist zum Beispiel einen Bürgermeister, der seine Stadt nicht liebt. Wir brauchen einen anderen, und deswegen gehe ich auf jeden Fall wählen, um zumindest irgendwas in unserer Stadt zu ändern. Was aber die politische Situation angeht, ist mir alles recht. Ich mische mich in die große Politik nicht ein, ich verstehe auch nichts davon. Mir geht es gut, warum soll ich mich da einmischen?"
    "Die Angst vor Blutvergießen ist hierzulande allgegenwärtig"
    Doch immer mehr Menschen verlieren zusehends den Glauben an den "Beschützer" Putin. Eine von Katjas Nachbarinnen war bereits beim politischen Märzprotest dabei und wurde zu zehn Tagen Haft verurteilt. Nach dem Anschlag in der Metro von Sankt Petersburg kursierten in den sozialen Netzwerken harte Vorwürfe gegen die Obrigkeit, die friedliche Demonstranten verhaften und Terroristen walten lässt.
    Es breitete sich in den ersten Stunden nach dem Anschlag sogar eine Verschwörungstheorie aus, Putin selbst stecke dahinter, er wolle so die Bürger vom Protest ablenken. Denn der Protest richtet sich immer mehr gegen den Präsidenten. Die Fernfahrer bitten jetzt nicht mehr "Putin hilf!", sie rufen:
    "Sie haben die Wirtschaft gegen die Wand gefahren! Putin muss gehen! Die Putin-Bande vor Gericht!"

    Der Soziologe Alexej Levinson sieht in Putins Beliebtheit, in seiner symbolischen Rolle als Beschützer der Russen, die letzte Naht, die Russland noch zusammenhält. Noch halte sie, sagt der Soziologe, und dennoch:
    Junge Demonstranten in Moskau rufen Slogans bei einer der landesweiten Anti-Korruptions-Protestkundgebungen in Russland
    Die Proteste in Russland richten sich immer mehr gegen den Präsidenten Wladimir Putin. (Imago )
    "Die Angst vor Blutvergießen ist hierzulande allgegenwärtig. Die Leute haben tatsächlich Angst, das weiß ich aus unseren Erhebungen. Viele bilden sich sogar ein, es könne zu einem Bürgerkrieg kommen. Aber wer soll hier gegen wen kämpfen? Darauf gibt es keine Antwort. Ich weiß auch nicht, was morgen kommt, ich weiß nur, wie die Menschen darüber sprechen. Und ich stelle fest: Die russische Gesellschaft hat gar keine konkrete Vorstellung von der Zukunft."
    "Ich fürchte, wir werden noch für die Sowjetunion bezahlen müssen"
    Auch die stagnierende Wirtschaft sieht kein Licht am Ende des Tunnels, sagt der Ökonom Oleg Buklemishev:
    "Ich bin mir nicht sicher, ob wir den Preis für die sowjetische Epoche schon ganz bezahlt haben. Die Sowjetunion war ja ein großes Übel, und wenn man vergleicht, wie blutig etwa der Zerfall Jugoslawiens verlief, welche tiefen Spuren er hinterlassen hat, dann ist es ein Wunder, wie friedlich es bei uns geschah. Ich fürchte, wir werden noch für die Sowjetunion bezahlen müssen."