Massenandrang vor dem slowenischen Konsulat in Banja Luka. Etwa 100 Männer zwischen Anfang 20 und 60 stehen für Visa an. Sie alle wollen in der EU arbeiten, denn in Bosnien-Herzegowina finden sie keine Beschäftigung. Eine Polizistin lässt immer zehn Personen hinein.
Ich warte auf ein Visum, ich bin aus Modritscha. Ich will auch ein Visum, sagt der Mann neben ihm. Sie reden über die EU. Dass Bosnien-Herzegowina Mitglied wird, glaube ich nicht, sagt einer. Schön wär's, aber unsere Regierung will das nicht. Dabei ist das so eine klasse Idee. Ein Mann, um die 50, stimmt dem Vorredner zu, Bosnien-Herzegowina müsse in die EU. Auch er braucht das Visum, denn er hat vor, in Slowenien auf dem Bau zu arbeiten. In Bosnien finde man kaum einen Job und wenn, sei er schlecht bezahlt.
Eine Konsulatsangestellte bittet die Männer, ihre Papiere bereitzuhalten. Die Antragsteller sind Serben aus der Republik Srpska. Die gehört zu Bosnien-Herzegowina, einem der sechs Balkanländer, die langfristig Mitglied der Europäischen Union werden sollen. Wobei Bosnien-Herzegowina und Kosovo noch nicht einmal Beitrittskandidaten sind, anders als Albanien und Mazedonien oder Montenegro und Serbien. Die beiden Letzteren haben die größten Chancen. EU-Kommissionspräsident Jean Claude Juncker nannte sogar schon einen möglichen Termin: das Jahr 2025.
Gute Beziehungen mit Brüssel und Moskau
"Utopisch", sagen die Kritiker nicht nur in der EU, auch in Serbien selbst. "Strategisch wichtig" finden die Befürworter die Beitrittsperspektive. Denn die Balkanstaaten sind zwar umgeben von EU-Ländern, doch der Einfluss Chinas und Russlands in der Region wächst spürbar, was am Donnerstag in Sofia auf dem EU-Balkan-Gipfel auch Thema sein dürfte.
Serbien und die Republik Srpska zum Beispiel orientieren sich nach West und Ost, sie pflegen gute Beziehungen sowohl mit Brüssel als auch mit Moskau. Eine Verbindung, die Jahrhunderte zurückreicht.
Andja Petković vom Zentrum für euroatlantische Studien in der serbischen Hauptstadt Belgrad beobachtet seit langem russische Organisationen und Unternehmen in Serbien. Als im vorigen Jahr die jüngste Studie vorgestellt werden sollte, erlebte die Politologin eine böse Überraschung:
"Noch vor unserer Konferenz über den Einfluss Russlands in der Region haben wir viele Drohungen erhalten und unsere Webseite wurde gehackt. Wir haben herausgefunden, dass in Serbien 109 prorussische Organisationen tätig sind. Die Mehrheit der Serben ist prorussisch eingestellt. Der serbische Außenminister äußert sich sehr oft mit den gleichen Worten wie der Kreml zu außenpolitischen Vorgängen. Außenminister Ivica Dačić klingt genauso wie sein russischer Kollege Sergej Lawrow."
"Jede Woche die Botschaft: Putin wird uns retten"
Von diesen prorussischen Organisationen sind die meisten an den Universitäten in Serbien aktiv. Sie veranstalten viele Konferenzen, vor allem an der politikwissenschaftlichen und juristischen Fakultät in Belgrad.
"Wir haben eine Umfrage unter jungen Serben von 18 bis 35 Jahren durchgeführt, wie sie zu Russland und der EU stehen. Und dabei kam heraus, dass 72 Prozent für einen russischen Militärstützpunkt sind." - Dragan Janjić, 63 Jahre alt, ist Chefredakteur der unabhängigen Nachrichtenagentur BETA in Belgrad, die es schwer hat, sich auf dem Markt zu behaupten, weil sie auf Geld von der Regierung verzichtet. Er beobachtet die prorussische und antiwestliche Stimmungsmache schon eine ganze Weile:
"Den größten Einfluss nimmt Russland nicht über seine Nachrichtenagentur Sputnik oder Russia Today, sondern über rechtsorientierte Parteien und Gruppen und über die Boulevard-Zeitungen. Fast keine Woche vergeht ohne Schlagzeilen wie: Der Westen bereitet einen Anschlag auf Serbien vor, einen Regierungsumsturz oder die Ermordung unseres Präsidenten. Jede Woche sind die Titelblätter voll damit und parallel dazu die Botschaft: Putin wird uns retten, Putin warnt: Niemand sollte sich an Serbien vergreifen."
Dragan Janjićs Agentur ist bei der serbischen Regierung so schlecht gelitten ist, dass ihm drei staatsnahe Medienhäuser gekündigt haben. Er konstatiert, dass gegen diese Stimmungsmache in den Boulevardblättern nichts unternommen wird.
Einfluss oder Einmischung?
Biljana Stepanović von einer ebenfalls unabhängigen Wirtschaftszeitung geht mit Serbiens Präsident Aleksandar Vučić hart ins Gericht. Der habe zwei Gesichter: eines für den Westen, das andere für den Kreml. Politisch sollte niemand Moskaus Einflussnahme unterschätzen, für Serbiens Ökonomie dagegen werde sie überschätzt.
"Die Zahlen zeigen einen Abwärtstrend. Im Gegensatz zu der Rhetorik, den öffentlichen Reden, in denen behauptet wird, dass die Beziehungen immer besser werden. Serbien exportiert nur zehn Prozent seiner Waren nach Russland. Nach Bulgarien ist es das Doppelte. Außerdem sind nur rund 50 russische Firmen hier tätig. Aus Österreich sind 450 Firmen hier tätig."
Aus Deutschland sind es fast ebenso viele.
Siniša Atlagić vom Russlandzentrum der Universität Belgrad sieht hingegen keinen Unterschied zwischen dem Agieren Russlands, der USA, Deutschlands oder anderer Länder. Sie alle würden ihre Interessen verfolgen, sich mehr oder weniger in die serbische Politik einmischen. Wobei er lieber von Einfluss denn von Einmischung sprechen würde. Dass Moskau so aktiv ist, kann der Professor für Politische Kommunikation nur begrüßen.
"Auf der internationalen Bühne ist Russlands Hilfe für Serbien großartig, wenn es etwa um den Kosovo und die Länder Ex-Jugoslawiens geht."
Unabhängigkeit Kosovos für Russland eine Niederlage
Wichtigstes Bindeglied zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und dessen Amtskollegen Vučić in Serbien ist der Kosovo.
Für Russland ist die Unabhängigkeit der Region eine Niederlage. Die Abtrennung des Gebietes von Serbien und die nicht vollständige, aber doch breite internationale Anerkennung als unabhängiger Staat ist das Exempel, das es für Moskau nie hätte geben dürfen. Viele Serben sind Wladimir Putin dankbar für diese Solidarität, er ist der beliebteste ausländische Politiker in Serbien. Auch wegen dessen Kritik an der NATO.
Das serbische Parlament in der Hauptstadt Belgrad liegt in Blickweite zum Präsidentenpalast. Vor dem klassizistischen Bau wurde eine höchst umstrittene Fotoausstellung aufgebaut, unübersehbar für jeden Passanten und Autofahrer. In großen Lettern steht neben Fotos von verletzten Personen und Toten: "NATO und EU schützen albanische Kriegsverbrecher", "NATO, KFOR und Clinton verübten Kriegsverbrechen."
Harsche Vorwürfe gegen das westliche Militärbündnis, das unter Führung der USA 1999 drei Monate lang strategisch wichtige Objekte Serbiens bombardierte, um den Abzug der serbischen Armee aus dem Kosovo zu erzwingen und damit weiter Menschenrechtsverbrechen zu verhindern. Bei den Angriffen wurden rund 3.500 Menschen getötet.
Die unabhängige Journalistin Biljana Stepanović verurteilt die NATO-Bomben ebenfalls, findet die Plakate vor dem Abgeordnetengebäude jedoch falsch:
"Warum hängen diese Fotos vor dem Parlament? Die Bombardierung war ein großer Fehler. Meine Kinder und ich sind nicht schuld gewesen an den Ereignissen im Kosovo. Ich war in der Opposition gegen Milošević. Aber wenn man in die EU und gute Beziehungen zu den USA haben will, dann kann man nicht diese Fotos zeigen."
Borko Stepanivic, der eine linke Oppositionspartei gegründet hat, ist überzeugt davon, dass die EU und NATO Serbiens Problem mit dem Kosovo nicht in seiner ganzen Tragweite erfassen. Belgrad werde gedrängt, einen Sitz des Kosovo in der UNO zu akzeptieren. Keiner, so versichern es viele serbische Gesprächspartner, wolle aber in die Geschichte als derjenige eingehen, der Kosovos Unabhängigkeit anerkannt hat.
"Eine stabile Autokratie"
Doch den ehemaligen stellvertretenden Außenminister und jetzigen Linken-Politiker beschäftigt der Abbau demokratischer Rechte in Serbien unter Präsident Vučić fast noch mehr als die abtrünnige Provinz:
"Brüssel neigt dazu, die Augen davor zu verschließen, dass in Serbien eine stabile Autokratie errichtet wurde. Wie in Ungarn, in der Türkei, in Montenegro. Das wird einfach akzeptiert, solange sich unser Präsident Vučić in Bezug auf den Kosovo konstruktiv verhält."
Denn Vučić will das Land in die EU führen. Dazu muss das Kosovo-Problem gelöst werden. Die Journalistin Biljana Stepanović findet, dass Serbien unter Vučić nicht in die EU gehört.
"Sie sind Nationalisten und das waren sie schon zu den Zeiten des Regimes von Slobodan Milosevic. Sie zerstören alle Institutionen in diesem Land, vor allem jene, die die Regierung kontrollieren sollen. Wir haben Korruption hier, Geldwäsche. Und mit diesen Leuten um Vučić werden wir kaum Teil der EU werden. Vielleicht ahnen sie das und versuchen deshalb, sich andere Optionen offenzuhalten, mit den Türken und mit den Russen."
"Es kann hier wieder Krieg geben"
Der ungelöste Kosovo-Konflikt, aber auch die anhaltenden ethnischen Spannungen in Bosnien-Herzegowina bergen eine große Ungewissheit für die Europäische Union und machen eine Mitgliedschaft nicht wahrscheinlicher. Denn die Gefahr, dass schon bald wieder Krieg auf dem Balkan ausbricht, ist real, sagt Milovan Milutinović, der Präsident der Armee-Veteranen in Banja Luka, der Hauptstadt der serbisch dominierten Republik Srpska, die ein Teil von Bosnien-Herzegowina ist:
"Es kann hier wieder Krieg geben. Wegen der radikalen Muslime, der Islamisten. Diese Leute leben in Bosnien und sind eine große Gefahr für Bosnien. Deswegen wollen wir auch in die EU, damit wir jemanden haben, der uns hilft, dieses Problem zu lösen. Denn die muslimische Regierung in Sarajewo sagt, dass die radikalen Muslime gut sind und unternehmen nichts gegen sie. Wir brauchen die EU, die ihnen sagt: Stoppt das."
Der heutige Chef der Kriegsveteranen war während des Bosnien-Krieges von 1992 bis 1995 Sprecher von Ratko Mladić, einem im November vorigen Jahres verurteilten serbischen Kriegsverbrecher. Der Ex-Pressesprecher des Generals nimmt seinen früheren Vorgesetzten in Schutz, obwohl der zu lebenslanger Haft verurteilt worden ist, unter anderem wegen des Massakers von Srebrenica, bei dem rund 8.000 Menschen getötet wurden.
"Der Prozess gegen Mladic ist nicht endgültig entschieden, noch läuft ein Einspruch. In meinen Augen ist Ratko Mladić ein großartiger General, der für sein Volk gekämpft hat. Er war ein ehrenwerter Mann, der niemals gesagt hat, dass seine Armee irgendjemanden töten soll. Das Gericht hat nicht ein Dokument gefunden, das die Schuld von General Mladić belegt. Das Tribunal in Den Haag ist antiserbisch."
"Wer die ethnische Karte spielt, gewinnt meist"
Mit seiner Unterstützung für verurteilte Kriegsverbrecher ist der Veteran keineswegs ein Einzelfall, viele auf dem von Kriegen gezeichneten Balkan zeigen sich derart solidarisch. Auch die schlechte Meinung vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien ist weit verbreitet, färbt aber erstaunlicherweise nicht ab auf die EU.
"Wir wollen Teil der EU werden und akzeptieren alles, was die Regierung Bosnien-Herzegowinas tut, um uns in die EU zu bringen. Wir sind ein Teil Europas und werden besser leben, wenn wir zur EU gehören. Dann werden wir auch lernen, unsere Probleme auf dem Verhandlungsweg zu lösen."
Der ehemalige Sprecher des Generals Mladić erwartet, dass die EU als Vermittler zwischen Bosniaken, Serben und Kroaten auftritt. Seit Anfang der 1990er Jahre herrschen in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens ethnische Spannungen, sagt der Politikwissenschaftler Miloš Šolaja. Er lehrt an der Universität in Banja Luka. Doch hätten seiner Meinung nach die Auseinandersetzungen zwischen den Bevölkerungsgruppen weniger ethnische als vielmehr politische Gründe.
"Wer die ethnische Karte spielt, gewinnt meist. Bei den bosnischen Parlamentswahlen im Oktober werden wir es wieder sehen. Das ist ja auch viel leichter, als sich den realen Problemen der Gesellschaft zuzuwenden. Unter den einfachen Menschen sehen wir keinerlei Spannungen. Erst wenn es um Politik geht, agieren wir als Serben, Bosnier, Kroaten. Diese Politiker haben in Wahrheit nicht das geringste Interesse, in die EU zu kommen, denn dann wären sie bald weg vom Fenster. Sie wollen an der Macht bleiben und deswegen spielen sie die nationalistische Karte."
Reden über Politik am Schachbrett
Das Freiluftschachbrett im Stadtzentrum von Banja Luka ist stets umringt von Schaulustigen. Jungen und älteren Männern. Sie stehen an der Spielfläche oder schauen von den Bänken aus zu, vor allem aber reden sie über Politik, die EU.
"Unsere Politiker wollen überhaupt nicht in die EU, denn sie wollen keinen Rechtsstaat, sondern lieber weiter die Schattenwirtschaft."
Sed Zoran ist 58 Jahre alt, Ingenieur, arbeitet aber als Wachmann auf einem Friedhof. Die Wirtschaftslage ist in Bosnien-Herzegowina noch miserabler als in Serbien.
Neben chinesischen Unternehmen investieren einige wenige russische Firmen in der Teilrepublik Srpska, allerdings mit vergleichsweise kleinen Beträgen. Sie kaufen alte Fabriken auf, modernisieren sie aber nicht. EU-Firmen verhalten sich im instabilen Bosnien-Herzegowina aber noch zurückhaltender, sagt der Chef der Kriegsveteranen in Banja Luka:
"Wenn wir unsere Firmen verkaufen, wie die Ölraffinerie oder das Telekom-Unternehmen, dann ist es meistens Russland, das die Betriebe erwirbt, nicht EU-Länder. Das Wärmekraftwerk haben die Chinesen gekauft. Mir wäre eine deutsche Firma eigentlich lieber, aber die Russen kaufen sie und unsere Leute haben Arbeit."
Enttäuscht von deutschen Firmen
Und Arbeit ist knapp in der Republik Srpska wie auch in Serbien. Doch wenn tatsächlich einmal deutsche Firmen kommen, werden die damit verbundenen Hoffnungen nicht selten bitter enttäuscht, sagt Borko Stepanović von der Partei "Die Linken" in Belgrad:
"Vučić eröffnet die Fabrik, die Medien sind da, der Botschafter spricht. Aber sie sagen nicht, dass die frisch angestellten Frauen nur 2.500 Dinar verdienen, also weniger als 250 Euro im Monat. Die arbeiten oft elf, zwölf Stunden pro Tag, dürfen keine Gewerkschaftsvertretung gründen. Und diese deutschen Firmen bekommen aus dem serbischen Staatshaushalt Millionen von Euro, damit sie in Serbien investieren. Wir serbischen Linken würde diese Firmen ja auch von der Steuer befreien, aber nur, wenn die Arbeiter zumindest den serbischen Durchschnittslohn, also 380 Euro, bekommen plus bezahlte Überstunden und wenn sie sich in Gewerkschaften organisieren dürfen."
Wegen des Lohndumpings seien solche deutschen Firmen als Arbeitgeber nicht attraktiv und sie halten die Serben nicht im Mindesten davon ab, weiter in der EU nach Arbeit zu suchen. Das ohnehin angeschlagene Image der EU leidet durch solche Praktiken zusätzlich.
"Die EU hat so viele Probleme mit sich selbst"
Auch der Belgrader Künstler Vladimir Miladinović sieht in einem EU-Beitritt kein Heilsversprechen und keinen Anlass für Euphorie:
"Ich bin nicht mehr sicher, ob die EU wirklich eine Errungenschaft ist. Sie hat so viele Probleme mit sich selbst und war in so viele Kriegsgeschehnisse involviert, denken wir nur an Srebrenica und die niederländischen Blauhelm-Soldaten, die die Menschen nicht schützen konnten. Diese Geschichte vom wilden Krieg auf dem Balkan auf der einen Seite, wo sich alle abgeschlachtet haben, und dem Europa, das so sauber ist, stimmt nicht. So wenig wie die Idee, dass Europa eine Errungenschaft ist, für das man sich reinigen muss, um ihm beitreten zu dürfen."
Ob skeptisch oder voller Vorfreude, die Menschen auf dem Westbalkan wissen, dass der Weg in die EU steinig und lang werden wird. Gute Beziehungen nach Moskau werden sie so oder so pflegen.