Es ist Mitternacht, und wir sitzen in einer Jurte. Die Wände sind aus Lehm, das Dach aus Filz, darüber eine Plane, drinnen orientalische Gemütlichkeit. Eine Laterne, ein Ofen, ein silberner Teekessel. Ein Schränkchen, eine Wasserpfeife, ein Schlafplatz. Die Jurte ist ein Refugium, sie steht auf einer Wiese oberhalb der Stadt. Gras, Bäume, Blick: Hier ist es ruhig, wenn das Leben unten in Witzenhausen nervt. Wir werden heute hier schlafen.
Silvia Hable ist müde, der Tag war lang. Viele Gespräche, viel Planung - und ein anstrengender Abend im Rathaus, bei dem es um kommunale Potenziale ging. Um Bürgerengagement, um Teilhabe, um Gemeinschaft. Eigentlich all das, was "Transition Town" will. Aber es gibt es auch in Witzenhausen Menschen, die den meist jungen Leuten aus aller Welt skeptisch gegenüberstehen. Die Offenheit, der Idealismus und der Wille, eine Stadt zu verändern, sind manchen hier noch suspekt.
Wenn Silvia um Mitternacht in einer Jurte über die Transition-Bewegung spricht, klingt das sehr klar, sehr leidenschaftlich und sehr authentisch. Trotz aller Rückschläge, Widerstände und Enttäuschungen. Silvia ist 31, eine engagierte, fröhliche Frau mit zwei Töchtern. Sie verwendet gern Worte wie "kreativpolitisch". "Ich möchte Räume öffnen", sagt Silvia, "sichtbare und unsichtbare". Ein sichtbarer Raum ist das "Transition Haus" in der Fußgängerzone von Witzenhausen: Ein Ort der Begegnung. Die unsichtbaren Räume: das sind die Menschen. Darum lautet das Motto von Transition Town Witzenhausen auch "Stadt und Menschen im Wandel".
"Transition Town" hat in Witzenhausen zum Beispiel mehrere Gartenprojekte angestoßen - den Schaugarten mit Kräutern am Nordbahnhofsweg, den Mehrgenerationengarten auf dem Gelände des neuen Altenheims der AWO. Und den Stubengarten gegenüber vom "Transition Haus", der noch etwas verwildert ist (die Stadt will dort offenbar eine Durchfahrt bauen, die Besitzer aber nicht). Erst heute Nachmittag haben die Transition-Gärtner in der Innenstadt ein gutes Dutzend Pflück-Oasen aufgestellt. Das sind sechseckige Kübel, in denen Rucola-Salat, Kerbel, Hirschhorn-Wegerich und Erdbeeren wachsen. Für jeden.
Witzenhausen liegt in der Mitte Deutschlands, gerade noch im Westen, kurz vor der Grenze zum Osten. Hier blühen so viele Kirschbäume, dass sofort einleuchtet, warum Witzenhausen sich als "Kirschenstadt" vermarktet. Der Ort hat alles in allem um die 20.000 Einwohner und eine Außenstelle der Universität Kassel mit 900 Studenten. Studieren kann man "Ökologische Agrarwissenschaften", so wie Rebecca Schmidt, die in ihrer Freizeit bei "Transition Town" mitmacht.
Global vernetzen, lokal handeln
Zeit für Gespräche. Gilles aus Luxemburg macht einen Europäischen Freiwilligendienst im Transition-Haus in der Fußgängerzone. Ich möchte wissen, was er unter "Transition" versteht. Er denkt nicht lange nach. Für ihn geht es um die Frage, wie die Zukunft aussehen kann, wenn man nicht mehr abhängig sein möchte von fossilen Ressourcen wie dem Erdöl. Global vernetzen und lokal handeln: Das sind Schlagwörter, die ich von vielen hier höre. Lokal handeln bedeutet zum Beispiel, mit der solidarischen Landwirtschaft in der Region zu kooperieren. Das heißt: Erzeuger und Verbraucher arbeiten zusammen. Über einen Beitrag wird der Anbau gemeinschaftlich finanziert und die Ernte hinterher aufgeteilt. Je nach Wetter.
Über all dem steht eine Idee, die von den indigenen Völkern aus Südamerika stammt. Aus ihren Sprachen ins Spanische übertragen, heißt der Schlüsselbegriff "buen vivir", gut leben, oder einfach: das gute Leben. In Ecuador und Bolivien ist das "buen vivir" als Staatsziel in der Verfassung verankert. Der Initiator heißt Alberto Acosta, er ist Professor für Ökonomie und war in Ecuador auch Präsident der verfassunggebenden Versammlung. Alberto Acosta schrieb, das "buen vivir" bestehe darin, "eine andere Entwicklung anzustreben, die sich vom Kapitalismus unterscheidet. Unter dieser anderen Entwicklung wird eine solche verstanden, die von der Gültigkeit der (politischen, sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen) Menschenrechte und der Rechte der Natur als Fundament für eine solidarische Ökonomie geprägt ist."
Kritische Gedanken über das grenzenlose Wachstum
"Das gute Leben": auch dieser Begriff fällt oft in den Gesprächen mit "Transition Town". Vor ein paar Wochen hat die Bewegung Alberto Acosta nach Witzenhausen eingeladen: Er hielt einen Vortrag im "Capitol Kino", einem Programmkino. Der Saal war mit 165 Gästen bis auf den letzten Platz voll. Ralf Schuhmacher betreibt das "Capitol", und er kennt Transition Town von der ersten Stunde an. Darüber schreibt er uns später in einer Mail:
„Ich bin froh, dass wir die Bewegung haben und dass sie so aktiv ist. Das passt gut zu unserer Stadt, auch wenn ich nicht immer mit allem einverstanden bin. Es ist wichtig, sich über das Thema grenzenloses Wachstum kritische Gedanken zu machen. Gut finde ich, dass es eine Gegenbewegung gibt, dass es Menschen gibt, die solche Ideen in die Stadt tragen und mit Leben füllen. Das Transition-Haus ist da sicher ein wichtiger Kristallisationspunkt: Es ist ein Ort, an dem Menschen sich treffen, sich vernetzen. Ein Ort, an dem es Räume gibt, zum Beispiel für den Arbeitskreis Asyl oder den Malraum. Die Transition-Bewegung hat es geschafft, ein leerstehendes Haus in der Innenstadt wieder mit Leben zu füllen."
Kommunale Schätze heben
In Ralf Schuhmachers Kino findet auch an dem Tag, als wir da sind, wieder ein Vortrag statt. Und wieder ist das Kino ausverkauft. Witzenhausen ist in Bewegung. Aufruhr im Hinterland. Diesmal spricht der Hirnforscher Gerald Hüther, der ein paar Orte weiter wohnt. Eigentlich sollte er im Rathaussaal sprechen, aber dann meldeten sich so viele Teilnehmer an, dass der Vortrag ins Kino verlegt wurde. Das Thema passt: Es lautet kommunale Intelligenz, und Landrat Stefan Reuß stimmt den Saal mit einem Hüther-Zitat ein: "Nicht nur die Wirtschaft, auch die Städte und Gemeinden erleben gegenwärtig, dass man in einer Welt begrenzter Ressourcen nicht unbegrenzt weiterwachsen kann."
Hüther ergreift das Mikrofon, er spricht ohne Manuskript, sanft und verbindlich, der Saal saugt die Worte auf. Er wiederholt seine bekannte These, dass der Mensch bis ins hohe Alter in der Lage sei, sich zu verändern. Dann schlägt er den Bogen zur Kommunalpolitik und regt an, dass Bürger in ihrer eigenen Nachbarschaft auf Ideensuche gehen sollen. Dass sie gemeinsam handeln und etwas möglich machen, das unmöglich schien.
Die Worte könnten von Silvia Hable stammen. Die Transition-Mitarbeiterin hat sich in dem vollen Kino links am Rand auf dem Boden gesetzt und hört zu. Nach dem Vortrag geht es weiter ins Rathaus, es ist ein lebendiger Tag heute in Witzenhausen, die Stadt versucht sich neu zu erfinden. Im Saal ergreift wieder Gerald Hüther das Wort, jetzt spricht er für das Bündnis "Freunde von Witzenhausen", das heute Abend eine "Schatzsucher-Werkstatt" veranstaltet. Das Ziel: kommunale Potenziale in Witzenhausen ausloten.
Im Saal sind Stehtische aufgestellt worden, und jeder Tisch hat ein Thema: Kino, Geschäfte, Kunst/Kultur, Kneipe, Bildung, Vereine, Allgemeine Ideen - und: "Transition Town". Ziel ist es, dass sich die Bürger im Saal an die Tische stellen und gemeinsam nach neuen Ideen suchen. Auch Ralf Schuhmacher vom Kino ist wieder dabei. Am Transition-Tisch diskutieren Gerald Hüthers Frau (die auch bei den "Freunden von Witzenhausen" mitmacht) und der grüne Kommunalpolitiker Michael Liebmann mit Silvia Hable, die alle Gedanken mit Filzschreiber auf die Papiertischdecke schreibt. Es geht darum, wie "Transition Town" in Witzenhausen wahrgenommen wird und wie man konservativere Potenziale erschließen kann.
Einfach mal machen
Später wird Silvia berichten, dass der Abend aus ihrer Sicht schwierig war. Das mag daran liegen, dass manch einer in Witzenhausen die Bewegung noch schief anschaut. Wenn man sich etwas umhört, stößt man bald auf Kritik: Zum Beispiel, dass die Menschen von Transition Town manche Bürger mit ihren Äußerungen und Aktionen verärgern. Pflück-Oasen? Wozu, in einer Stadt, die schon im Grünen liegt? Diese Weltverbesserer. So ungefähr. Es klingt nicht böse, aber distanziert.
Noch später. Wir lassen den Abend sacken - bei einem Bio-Bier. Gilles aus Luxemburg, der mittags noch die Pflück-Oasen bepflanzt hat, nimmt uns mit in Schinkels Brauhaus. Wir sprechen bei einem regionalen Hellen über links und rechts und Kapitalismuskritik. Und über Rob Hopkins, den Gründer der Transition-Bewegung, der die Idee mit Büchern unterfüttert hat - "The Power of Just Doing Stuff" heißt eines seiner Bücher. Gilles mag die Idee, auf deutsch lautet sie in seinen Worten: "Einfach mal machen".
Dann fahren wir hinauf in die Jurte zum Schlafen. Es ist Nacht in Witzenhausen, und der Kreis schließt sich. Gualter aus Portugal ist da, auch Emre aus Istanbul - und Silvia Hable. Sie ist noch aufgeregt von dem Abend im Rathaus und stellt ihr Engagement bei Transition Town zum x-ten Mal in Frage. Aber nur ein bisschen. Dann ist es null Uhr, und in diesem Moment verstehen wir die authentische, unermüdliche Begeisterung der Menschen, die für "Transition Town" arbeiten. Denn Silvia und Gualter stimmen, hier in der Jurte, das portugiesische Revolutionslied über die Stadt Grândola an.
Das Lied erinnert an 25. April 1974 - danals begann in Portugal die linke Nelken-Revolution. In dem Lied geht es um Landarbeiter, um Solidarität, um Gleichheit. Vielen Transition-Town-Anhängern wäre der Song wohl zu politisch, denn die Bewegung möchte offen sein für jeden und sich nicht auf eine Richtung festlegen. Dennoch stehen die Worte des Liedes vor uns wie ein Bekenntnis in der Luft:
"Grândola, braungebrannte Stadt, Heimat der Brüderlichkeit. Das Volk ist es, das am meisten bestimmt in Dir, o Stadt."