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Zygmunt Bauman
"Retrotopia"

Zygmunt Bauman zeichnet in seinem posthum erschienenen Buch ein düsteres Bild von unserer Gegenwart: Die Menschen seien von der Globalisierung überfordert, glaubten nicht an eine bessere Zukunft und wendeten sich deshalb einer angeblich besseren Vergangenheit zu.

Von Angela Gutzeit |
    Hintergrundbild: Zygmunt Bauman, Vordergrund das Buchcover
    Der heutige Mensch glaubt nicht mehr an die Zukunft, er flüchtet sich stattdessen in die Illusion einer einst besseren Vergangenheit. Das ist das Thema von Zygmunt Baumans nachgelassenem Buch "Retrotopia". (dpa / EPA / Toni Albir / Suhrkamp)
    Eine der hervorstechendsten Eigenschaften des Baumanschen Denkens war wohl sein ungetrübter Blick auf die menschliche Natur und ihre Widersprüchlichkeit. Geprägt ist dieses Denken durch Zygmunt Baumans Erfahrungen mit den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, die er als polnischer Jude aus nächster Nähe erlebt und erlitten hatte. So war für ihn insbesondere der Holocaust niemals nur ein Ausrutscher der Moderne, wie er in der zeitgenössischen Fortschrittserzählung immer noch gern gedeutet wird, sondern ein Ausdruck der ihr innewohnenden Ambivalenz.
    Technikgläubigkeit und Rationalität hatten ihre dunkle Kehrseite in Reinheitsstreben, Abgrenzung und Allmachtsphantasien. Die futuristischen Utopien des frühen 20. Jahrhunderts verloren nach den verheerenden Weltkriegen ihre Strahlkraft. Aber am Ende dieses zerrissenen Jahrhunderts ist auch der Glaube an den Fortschritt an sich im Sinne von mehr Frieden, Sicherheit und Wohlstand für alle kollabiert. Der heutige Mensch glaubt nicht mehr an die Zukunft, er flüchtet sich stattdessen in die Illusion einer einst besseren Vergangenheit. Das ist das Thema von Zygmunt Baumans nachgelassenem Buch "Retrotopia". Ein Begriff, mit dem Baumann einen Kontrapunkt setzen will zu der vor 500 Jahren erschienenen Schrift "Utopia" von Thomas Morus.
    Individualisierung als Segen und Fluch
    Im Kern liegen die Ursachen für den polnisch-britischen Soziologen in der fortschreitenden Entsolidarisierung und damit in der Freisetzung und Bindungslosigkeit des Individuums in einer zunehmend globalisierten Welt.
    "Die Privatisierung beziehungsweise Individualisierung der Idee des 'Fortschritts' und des Strebens nach einem besseren Leben wurden von den herrschenden Mächten als Befreiung verkauft und von den meisten Untergebenen als solche begrüßt: die Entlassung aus den strengen Anforderungen der Unterordnung und Disziplinierung - auf Kosten der sozialstaatlichen Absicherung. Für eine große und nach wie vor wachsende Anzahl der 'Untertanen' hat sich diese 'Befreiung' langsam, aber stetig als überaus zweifelhafter Segen erwiesen, der immer mehr Beimischungen eines Fluchs enthält."
    Bauman prägte den Begriff der "liquid modernity", der "verflüssigten Moderne", der in verschiedenen Variationen sein gesamtes Werk durchzieht. Präsent ist dieser zentrale Gedanke, der die Loslösung von Bindungen wie auch die Auflösung von Grenzen jeglicher Art meint, auch in "Retrotopia", zum Beispiel, wenn es um die zunehmende Entkoppelung von Macht und Politik geht. Der Staat, beim englischen Philosophen Thomas Hobbes noch der "Leviathan", eine allmächtige Instanz, die die Zivilisierung des Menschen wie auch seinen Schutz garantieren sollte, habe sein Gewaltmonopol aufgegeben.
    Zurück zu den "Stammesfeuern"
    "Die Ablösung und Emanzipation der Macht von jedwedem Territorium ist der schwerste Schlag, den der von seinem Ende noch weit entfernte Globalisierungsprozess der Grundfunktion und vor allem der vermeintlichen Omnipotenz (und damit Lebensfähigkeit) des Leviathan, wie Hobbes ihn erdachte, versetzt hat."
    Die Macht liegt nach Bauman in den Händen der hyperglobalisierten Wirtschaft, der unkontrolliert agierenden Waffenindustrie sowie u.a. der weltumspannenden Medien, die mit ihren Schreckensmeldungen aus jedem fernen Winkel das Gefühl der ständigen Bedrohung aufrechterhalten würden. Die Politik und unser Bewusstsein, das schrieb auch schon der Soziologe Ulrich Beck, hinkten hinter den kosmopolitischen Realitäten meilenweit hinterher. Der lokal agierende Staat habe keine passenden Instrumente mehr, um die Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt sowie die auseinanderdriftenden Sphären von Armen und Reichen wirksam zu bekämpfen.
    Die Folge seien zunehmende Aggressivität gegen Andere, Fremde, Schutzsuchende und eben die Illusion, man könne zurück ans wärmende Stammesfeuer vergangener Zeiten, eine Illusion, die von den Populisten mit ihren Formeln wie Identität, Nationalität, Ethnie und Religion nachhaltig befeuert werde.
    Die Neuerfindung des Sozialstaates
    Es geht Zygmunt Bauman in seinem letzten Buch um nichts weniger als die Zukunft der Menschheit. Dabei bettet er seine Analysen absolut kenntnisreich in einen vielstimmigen Diskurs ein mit zeitgenössischen Intellektuellen wie Denkern und Schriftstellern verschiedener Epochen. Die Umbrüche und gefährlichen Verwerfungen unserer Zeit hat dieser klarsichtige Soziologe in diesem Buch noch einmal präzise auf den Punkt gebracht.
    Und dennoch bleiben Fragen, die sich aus widersprüchlich anmutenden Gedankengängen ergeben. Bauman hält den Prozess der umfassenden Globalisierung unserer außer Kontrolle geratenen Lebensbedingungen für unumkehrbar. Genauso wie er glaubt, dass wir uns mit der Disposition der menschlichen Aggressivität abgefunden haben bzw. abfinden müssen. Aber welche Spielräume bleiben dann, um die Folgen einzuhegen? Wie könnte dann noch unter dieser negativen Prämisse der Sozialstaat, wie Bauman am Ende seines Buches fordert, neu erdacht werden?
    Die Fortschritte der Menschheit
    Vehement setzt sich der Soziologe für die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens ein. Ein sinnvoller und gut begründeter Gedanke zur Befriedung der auseinanderfallenden Gesellschaft. Aber Bauman schreibt ja selbst, es sei weit und breit kein "Ober-Leviathan in Sicht", nur viele kleine Leviathane, sprich staatliche Instanzen, die alle kläglich versagten. Sein Fazit am Ende des Buches nimmt die gesamte Weltgemeinschaft in den Blick:
    "Es gibt keine Abkürzungen, die zu einer raschen und mühelosen Eindämmung der 'Zurück zu'-Strömungen führen - ob sie zurück zu Hobbes, an die Stammesfeuer, zur Ungleichheit oder in den Mutterleib streben. Nochmal: Die vor uns liegende Aufgabe, die humane Integration auf der Ebene der gesamten Menschheit wird sich vermutlich als beispiellos anstrengend, beschwerlich und problematisch erweisen. […] Aber in diesem besonderen Fall […] gilt die Aussage 'es gibt keine Alternative…'"
    Der postmoderne Intellektuelle Zygmunt Bauman bevorzugte stets eine Art pointilistische Denkweise in Widersprüchen und Versatzstücken, denn die Realität sei seiner Meinung nach nun mal nicht anders zu begreifen. Das macht die Lektüre von "Retrotopia" einerseits so anregend. Andererseits wird hoffnungsvollen und zukunftsweisenden Ansätzen für gesellschaftliche Veränderungen zu wenig Raum gegeben. Wie sagte kürzlich der amerikanische Linguist und Kognitionswissenschaftler Steven Pinker? Die große Ironie des Intellektualismus sei, das ausgerechnet die Intellektuellen, die sich selbst als fortschrittlich begreifen, ihre Nische darin gefunden hätten, die nicht zu bezweifelnden Fortschritte der Menschheit ständig zu verleugnen.
    Zygmunt Bauman: Retrotopia, aus dem Englischen von Frank Jakubzik,
    Suhrkamp, 220 Seiten, 16,00 Euro.