Archiv

Biografie über Hans Henny Jahnn
Der Mann, der das Leben maßlos liebte

Kunstanbeter, Antikapitalist, Schriftsteller, Orgelbauer, Atomkraftgegner der ersten Stunde: Es gibt kaum genug Worte, um das Multitalent Hans Henny Jahnn zu beschreiben. Jan Bürger hat es 2003 dennoch versucht - in seiner Jahnn-Biografie "Der gestrandete Wal", die jetzt erneut erschienen ist.

Von Joachim Geil |
    Porträtfoto von Hans Henny Jahnn.
    Jan Bürger liefert mit seiner Biografie über Hans Henny Jahnn ein Handbuch für das bessere Verständnis des künstlerischen Multitalentes. (dpa / picture alliance / Herold)
    Von einem gestrandeten Wal mag man sprechen, wenn man ein Leben führt wie Hans Henny Jahnn, jener Autor der Autoren, die davon träumen, alles in die Vorstellungskraft zu legen, buchstäblich alles: Alles Leben, alle Erfahrung, mit einer Welt, die man sich in ihrer Gesamtheit nicht gesamt genug vorstellen kann. Er konnte es. Aber er scheiterte zugleich daran und wusste dies:
    "Meine Furcht indessen ist sehr groß, dass die Werke der Genies inzwischen wie ein Wal sind, der in zu flaches Wasser kam und strandete. Mit Entsetzen schaue ich auf das hilflose Tier, und da es sich nicht rührt, fürchte ich sogar, es ist bereits tot, und wir werden demnächst den Geruch merken."
    Armut, Reichtum, Mensch und Tier, die Planetenharmonie, Sphärenklänge, ein unbändiges sexuelles Verlangen: All dies kann in ein Leben nur gepresst werden, wenn man ihm ein Ritual an die Seite stellt, das all die Impulse, die Besessenheiten umspannt und ihnen eine Kontur gibt. Eine Religion, eine Glaubensgemeinschaft, die die Liebe zu Männern und Frauen, ja, selbst noch zu Pferden, und natürlich den Tod umfasst.
    Hans Henny Jahnn erfand solch eine pseudoreligiöse Kunst-Glaubensgemeinde – und war bereit, für sie zu bauen, sie zu leben, zu leben allein für die Kunst, die das Leben sei. Jahnn nannte sie Ugrino und raunte dazu:
    "Der Name Ugrino ist ein Symbol, eine Erdscholle, die Bauwerke trägt, ist der Kennton für eine tausendfache Arbeit, die sich auf ein Ewiges bezieht, er ist das Land für Lebende und Tote [ ... ] Ugrino will den Menschen ein Einigendes geben, an dem sie nicht Feinde werden können, über das sie deshalb nur wenig sprechen können, um so mehr aber erleben."
    Doch wo eigentlich beginnen bei diesem kunstreligiösen Leben des Hans Henny Jahnn, das motivisch so eng mit seinem Werk verwoben ist? Im Dezember 1894 im ländlichen Stellingen-Langenfelde, heute ein Stadtteil Hamburgs? Also mit der Geburt? Oder doch besser mit dem tödlichen Herzinfarkt im November 1959? Vielleicht aber auch mit der ersten Liebe zu einem Mitschüler, dem maßlos geliebten Friedel, Gottlieb Friedrich Harms, dem so früh Verstorbenen und nach den Methoden Ugrinos Beigesetzten. Der 18-jährige Jahnn schrieb ins Tagebuch:
    "Wir haben die wunderherrlichste Hochzeit, die es überhaupt nur geben kann, gefeiert: mein herzallerliebster Friedel und ich! [...] Wir beide lagen in einem Bett und küssten uns und freuten uns so maßlos und wussten: [...] Jetzt sind wir eins! / So maßlos ist das Glück, dass ich nicht Worte weiß dafür."
    Es wird missbraucht, geklöft, zerstochen und zerstückelt
    Oder beginnt man mit dem ersten Schreiben? Auch dies ist bei Jahnn stets ein maßloses, unbändiges Unterfangen gewesen. Entstanden sind allumfassende Fragmente. Zunächst Theaterstücke, in denen Menschen ineinanderdringen, in körperlicher Liebe, in zerstörerischer, rächender und todbringender Gewalt. Es wird missbraucht, geköpft, zerstochen und zerstückelt. Doch immerhin erhielt der Dramatiker Jahnn für seinen ersten großen Wurf, das blutrünstige Familienstück "Pastor Ephraim Magnus", 1920 den damals noch recht jungen Kleist-Preis. Ein düsteres Stück über Krankheit, Lustmord und Selbstverstümmelung.
    Zur Berliner Uraufführung 1923 wurde es von keinem Geringeren als Bertolt Brecht auf Abendspiellänge, also zur Unkenntlichkeit, verkürzt. Inszeniert hat diese zwischen Tötung, Verwesung und Erlösung mäandernde das rätselhafte, blutrünstig raunende Tragödie dann Arnolt Bronnen, einer der bedeutendsten Dramatiker seiner Zeit.
    Fast alle Prosaarbeiten Jahnns aber blieben Fragment. Denn im Verständnis dieses atemlosen Kunstanbeters kann über das Ganze nur fragmentarisch berichtet werden. Und die Ausmaße des Ganzen sind maßlos, weil die Tragik des Einzelnen in einer fatalen Verstrickung ins Ganze liegt, ohne seiner jemals Herr werden zu können.
    Kaum zu bewältigende Aufgabe für einen Biografen
    So könnte man die utopischen und oft geradezu prophetisch erfühlten Weltläufte grob umreißen, mit denen sich Hans Henny Jahnn auseinandersetzte – und darüber früh zum selbst ernannten Außenseiter wurde.
    Aber ebenso zum Weissager des Zweiten Weltkriegs, zum Antirassisten, zum Antikapitalisten, Pazifisten und Atomkraftgegner der ersten Stunde. Und darüber hinaus auch noch zum Orgelbauer, Hormon-Alchemisten und Landwirt. Er gab dem jungen Peter Rühmkorf Pferde-Urin zu trinken und besorgte sich an diversen Hamburger Schulen Knaben-Urin: zu Forschungszwecken. Was für ein grandios-uferloses Leben! Was für ein Schreiben!
    Und was für eine maßlose, kaum zu bewältigende Aufgabe für einen Biografen!
    Jan Bürger heißt der Biograf. Ein Kenner, ein Archivar. Er schrieb die bislang faktenhaltigste Biografie über Hans Henny Jahnn. Nun liegt sie bei Hoffmann und Campe vor. Ihr dreiteiliger Titel: "Der gestrandete Wal. Das maßlose Leben des Hans Henny Jahnn. Die Jahre 1894 bis 1935".
    Doch ach! Sie ist nicht zum ersten Mal erschienen, 2003 kam sie als überarbeitete Dissertation bereits bei Aufbau heraus. Und auch sie ist Fragment. Warum behandelt sie nur die ersten vierzig Jahre?, fragt man sich. Dabei sind doch die bekanntesten Werke Jahnns erst alle danach entstanden: die Novelle "Die Nacht aus Blei", das kürzeste Prosawerk des Autors, noch zu dessen Lebzeiten 1956 erschienen und weithin gelesen. Auch seinen letzten, 2.000-seitigen, dreiteiligen, Fragment gebliebenen Großroman "Fluss ohne Ufer" schrieb er nach 1935.
    Ist also das Fragment die angemessenste Möglichkeit, sich Hans Henny Jahnn zu nähern? Bürger zumindest tut es, schöpft jedoch aus einer maßlosen Materialfülle, die er vor uns ausbreitet. Und trotz Prolog, Einführung, zwölf Abschnitten und 500 Fußnoten verstrickt er sich und, ja verliert sich ein wenig. Das erforschte Material muss eben nicht nur zusammengetragen und hinterfragt, sondern auch in sinnliche und sinnhafte Form gebracht werden. Ein annäherungsfreudiger Leser will auch mit erzählerischen Mitteln durch ein Leben geführt werden.
    Ein kleines Beispiel ist Ellinor Philips, Jahnns Ehefrau, die er im November 1926 heiratete. Bürger führt sie ganz abrupt ein, obwohl er ihren Namen schon mehrfach erwähnt hat, aber eben nur kommentarlos als Quelle eines Briefes. Informationsvergabe könnte geschmeidiger sein.
    Der Reiz des überbordenden Materials
    Der Reiz von Bürgers Buch liegt in der Ausbreitung des überbordenden Materials. Er montiert Jahnns Leben. Geschickt lässt er so dessen Zeit sprechen, fügt Aussagen und Beschreibungen von Zeitgenossen, Kollegen, Vorbildern, Ideengebäuden, die im jungen 20. Jahrhundert im Raum standen, zusammen. Eine literarische Biografie also. Ihre akribische Behutsamkeit führt manchmal zu etwas bürokratischen Inhaltsangaben und Interpretationsansätzen.
    Aber einen unbestreitbaren Vorzug hat dieses Buch: Jan Bürger unterzieht das maßlose Leben des Hans Henny Jahnn einem sorgfältigen Fakten- und Quellenstudium. Er räumt auf mit romantischen Verklärungen und Mythen, die um dieses Leben und Werk entstanden sind. Denn Jahnn selbst stilisierte sich gern zu einem Helden oder Nicht-Helden nach Ugrino-Maß.
    Es fehlt an erzählerischem Mut
    Ein wenig mehr erzählerischer Mut hätte dem Buch dennoch gutgetan. Und auch wenn die letzten Lebensjahre immer wieder anklingen, hätte dieses maßlose Leben einen zweiten abschließenden Band durchaus vertragen. Immerhin liegt so nun eine Art Handbuch zum besseren Verständnis von Jahnns Werks vor, das vom Verlag Hoffmann und Campe dankenswerterweise seit den 1980er-Jahren Stück um Stück neu aufgelegt wird.
    Jan Bürger: "Der gestrandete Wal: Das maßlose Leben des Hans Henny Jahnn. Die Jahre 1894-1935"
    Aufbau Verlag 2003, 452 Seiten, 34 Euro.