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Christie Malrys doppelte Buchführung

1989 erschien im Münchner Schneekluth Verlag - nicht gerade eine Adresse für die ganz große Literatur - der Roman eines 1973 verstorbenen Engländers, den bis auf ein paar Spezialisten kein Mensch kannte. Das Buch, eine Art Bürokomödie, hieß "Christie Malrys doppelte Buchführung" und der Autor Bryan Stanley Johnson, kurz: B. S. Johnson. Es war der Beginn einer meisterhaft übersetzten, auf sieben Bände angelegten Werkausgabe, die vier Jahre später, 1993, vollständig war. Die deutsche Literaturkritik war begeistert, Publikum und Buchhandel stellten sich taub.

Peter Urban-Halle |
    Nun macht Hans Christian Rohr, der zusammen mit Michael Walter die Werkausgabe seinerzeit edierte, beim Argon Verlag in Berlin einen zweiten Versuch. "Christie Malrys doppelte Buchführung" liegt jetzt wieder vor, leider nicht ganz so schön wie die deutsche Erstausgabe und mit einem Vorwort von Georg M. Oswald, das den damaligen Rezensionen nichts Neues hinzufügt. Über den mysteriösen Autor zum Beispiel hätte man gern etwas mehr als nur die Lebensdaten und den Geburtsort erfahren; sein Selbstmord, den er mit Vierzig verübte, wird hier nicht einmal erwähnt.

    Wer Johnsons Romane in die Hand nimmt, dem fällt zunächst ihr Äußeres auf. In "Christie Malry" sind verschiedene Rechnungsblätter eingestreut. In "Albert Angelo", der auch bei Argon wieder herausgegeben werden soll, ist auf drei Seiten hintereinander ein Rechteck ausgeschnitten, so daß man schon vorher erfährt, was dann auf der vierten Seite eintritt. Aber die auffällige Form ist kein Selbstzweck, sondern Folge des Inhalts. Johnson ist keiner dieser Experimentalautoren, bei denen das Experiment zum Hantieren mit typographischen Figuren verkommt und bei denen oft genug Wahrnehmung und Bewußtsein an die Form verraten werden.

    Doch für Johnson ist die Form nicht Ziel, sondern Ergebnis. Seine antirealistische Schreibweise ist eine besondere Art des Realismus. Eine im ständigen Wandel begriffene Welt, so Johnson, erfordere geradezu den Wandel der literarischen Form und eine Vielzahl von Stilen, die nicht nur von Buch zu Buch wechseln, sondern auch innerhalb eines Textes. "Das Leben ist chaotisch", heißt es in einem seiner Essays, "es läßt Myriaden von Fäden einfach unverknüpft liegen."

    Der Held, Christie Malry, ist ein kleiner Angestellter in einer Kuchenfirma, der die fixe Idee hat, alles Übel, das ihm angetan wird, zu vergelten. Fein säuberlich legt er zweispaltige Listen an, in denen er angebliche "Belästigungen" mit "Entschädigungen" aufrechnet: eine - sagt der Autor - "Tolle Idee" im Geiste des toskanischen Mönches Pacioli, der 1494 die doppelte Buchführung begründete. Jedes Unrecht, von den "Widerlichkeiten des Bankgeneraldirektors" bis zu der betrüblichen Erkenntnis, daß der "Sozialismus keine Chance bekommt", wird von Christie Malry in Pound & Penny umgerechnet. Die Bosheit der Welt gleicht er durch Racheaktionen wieder aus, die sich anfangs noch in harmlosen Grenzen halten: Er zerkratzt Hausfassaden oder läßt Büroklammem mitgehen. Am Ende aber gipfeln sie in einer Wahnsinnstat: Christie schüttet Gift in ein Londoner Trinkwasserreservoir, was exakt 20.479 Menschenleben kostet. In klingender Münze macht das 26.622 Pfund und 70 Pence, "1,30 pro Kopf. Ja, hier geht es schlicht um die Abrechnung mit der Gesellschaft im allgemeinen und einem verstaubten Büroleben im einzelnen: "Christie Malry war ein einfacher Mensch", wird uns schon auf Seite l versichert. Die Pointe aber ist, daß wir es mit Johnsons Romanen nicht mit "wirklichen" Geschichten zu tun haben. "Geschichten erzählen, heißt Lügen erzählen", das ist seine Maxime. Die 20.479 Opfer begründet er zum Beispiel so: "Das war die erste Zahl, die sich anbot, weil sie annähernd der Zahl von Wörtern entspricht, aus denen der Roman bis jetzt besteht."

    Derlei Verfremdungseffekte finden sich bei Johnson zuhauf, also eigentlich tut er alles, um sein Publikum vor den Kopf zu stoßen. Er läßt - Zitat - "die primitive, ordinäre und faule Neugier des Lesers, der einfach nur wissen will, wie's weitergeht", regelmäßig ins Leere laufen. Das Buch ist eine Illusion mit dem Wunsch, - Zitat - "Wahrheit in der Form eines Romans zu schreiben". Nicht im Erzählten liegt die Wahrheit, sondern in der Reflexion über das Erzählte. So erinnert der Roman nicht selten an Johnsons großes Vorbild "Tristram Shandy" von Laurence Sterne: der Erzähler macht Versprechungen, die er nicht einhält; er reflektiert über sein Vorgehen; und er wendet sich direkt an die Leser: "Sie wissen ja ganz genau, in wessen Kopf das Ganze wirklich stattfindet." Wahrscheinlich macht das Buch uns deshalb diesen Heidenspaß. Christie Malry, der alles und alle in berechenbare Größen verwandelt, ist selbst nur eine Größe in der Hand des Autors.

    Ganz ungeniert unterhalten sich die beiden auch miteinander, wobei dann jener Satz fällt, den sich kein Rezensent entgehen läßt: "Der Roman sollte jetzt nur noch versuchen, komisch, brutal und kurz zu sein."

    "Christie Malrys doppelte Buchführung" zum zweiten - in der Hoffnung, daß diesmal auch die Leser mitziehen. Versprochen wird: ein geistreicher, grotesker und amüsanter Roman mit lauter kuriosen Einfällen. B. S. Johnson ist seinem Anspruch, einen "Tristram Shandy des 20. Jahrhunderts" zu schreiben, sehr nahe gekommen.