Obwohl beide Bücher sich mit dem Weltkriegsdiskurs beschäftigen, könnten sie in Aufbau und Herangehensweise kaum unterschiedlicher sein. Verhey nimmt systematisch und chronologisch die vergebliche Begeisterung auseinander: Er vergleicht Darstellungen von Massenaufläufen, beschreibt geduldig die Linien der Propaganda und forscht nach vergessenen Gegenstimmen. Kurt Flaschs Buch dagegen liest sich wie eine mäandemde Vorstudie zu einer kommenden Untersuchung - eine Mischung aus Einzelfallanalysen, methodischen Überlegungen und unfertig wirkenden Ordnungsversuchen.
Der Bochumer Emeritus versteht sein Werk als Beitrag zur hiesigen Philosophiegeschichte. Denn in den gängigen Darstellungen tauche der Weltkrieg einfach nicht auf, beklagt Flasch. In diesem Sinne werden Reden und Texte von Rudolf Eucken, Emst Troeltsch oder Max Scheler speziell darauf befragt, wie sie "den Krieg denken". Flasch kann zeigen, wie sich trotz der Individualität der Autoren bestimmte Topoi und Elemente überall durchziehen.
Die Philosophen betonten den außergewöhnlichen Erlebnischarakter des Krieges, bewiesen die Gerechtigkeit der deutschen Sache und erteilten dem Pazifismus eine deutliche Absage. Zudem interpretierten sie aus philosophischer Überzeugung politische Vorgänge ausschließlich als Gesinnungen: Kapitalismus, Demokratie, Militarismus, Krieg - das alles schienen eigentlich nur Ideen zu sein. Und je weiter sich die Philosophen in eine Metaphysik des Krieges hineinsteigerten, desto weniger scherten sie sich um intellektuelle Redlichkeit oder reale Menschenopfer. Zu einer konkreten politischen Analyse seien sie deswegen fast durchweg nicht in der Lage gewesen, stellt Flasch fest. Freilich könnte man auch Flasch diese Vernachlässigung konkreter politischer Analyse vorwerfen. Denn indem er die Texte nur auf ihren philosophischen Gehalt hin liest bleibt als Fazit wenig mehr als die wiederholte Bemerkung, die Texte seien "historisch fremd."
Sicher weist Flasch darauf hin, daß die Philosophen sich freiwillig und bewußt in den Dienst der "geistigen Mobilmachung" stellten. Doch am Ende scheint er sich verwundert die Augen zu reiben. Gab es vielleicht doch eine tiefere Verbindung zwischen den damals gängigen philosophischen Richtungen und der Kriegsbejahung, fragt er sich. Darauf hätte man allerdings eine Antwort erwartet. Sein Buch steckt voller feiner Beobachtungen, doch leider fehlt ihm jeder Wille, Zusammenhänge herzustellen und Schlussfolgerungen zu ziehen. Verhey dagegen ist weitaus kompakter - und das trotz der weit größeren Materialmengen. Er hat eine klare These: Die Kriegsbegeisterung, der vielbeschworene "Geist von 1914", war ein Mythos. Dieser Mythos hatte zwei Funktionen: Er sollte die Nation zusammenschweißen und den Glauben des Volkes an den Kampfe stärken. Zunächst befaßt sich Verhey ausführlich mit den vorgeblich kriegsbegeisterten Massen des Sommers von 1914. Dabei kann er überzeugend nachweisen, daß die Teilnehmer an den fahnenschwenkenden Umzügen hauptsächlich aus gebildeteren Kreisen kamen - Arbeiter waren kaum darunter Oftmals handelte es sich um Jugendliche, deren Motive Verhey als "karnevalesk" beschreibt - sie freuten sich, straflos Radau machen zu dürfen. Die meisten Menschenaufläufe kamen jedoch einfach aus Neugier zusammen, aus einem eher angsterfüllten Interesse an Information. Zudem sind die gutbesuchten Antikriegsdemonstrationen der Sozialdemokraten heute weithin vergessen. Eine übergreifende Begeisterung kam erst nach den ersten Siegen auf, aber selbst die läßt sich mit Fug und Recht auch als Ausbruch von Erleichterung interpretieren.
Dennoch feierten Regierung und bürgerlich-konservative Kräfte die angebliche Begeisterung als Ausdruck einer Verschmelzung des Volkes zu einer Einheit. Zweifelsohne nahmen sich die unterschiedlichen Teile der Bevölkerung angesichts des Krieges wohl oder übel als "Schicksalsgemeinschaft" wahr. Doch von einer Transformation kam keine Rede sein, meint Verhey. Tatsächlich wurde die Einheit während des Krieges von oben verordnet. Die Zensoren verboten zu Beginn des Krieges nicht nur Kritik am Krieg, sondem auch alle antisozialdemokratischen, antikatholischen und antisemitischen Organisationen. Die Unterstützung des Krieges durch diese Gruppen war daher vor allen Dingen mit der Hoffnung auf bessere Integration verbunden.
Auch Flasch erwähnt ausführlich katholische und j üdische Denker. Allerdings bleiben bei ihm eben die sehr spezifischen Gründe im Dunkeln, die auch solche Intellektuellen den "Geist von 1914" beschwören ließ. Erst das außerordentlich erhellende Buch von Verhey verdeutlicht, wie sich in der Vorstellung der Nation die unterschiedlichsten politischen Hoffnungen bündelten. Zudem stellt er den Zusammenhang zur Nachkriegsperlode her. Denn als die gesellschaftlichen Unterschiede spätestens 1918 mit aller Gewalt wieder hervorbrechen, transfomierte sich die mythische Erzählung des "Geistes von 1914" in der "Volksgemeinschaft". Und bekanntlich war diesem Mythos im Sinne der nationalen Einheit ein entsetzlicher Erfolg vergönnt.