"Man muss ja sagen, dass al-Ghazali endlos viele Werke geschrieben hat. Davon sind verschiedene zu unterschiedlichen Zeiten wichtig geworden. Sein sicherlich Einflussreichstes ist die 'Wiederbelebung der Religionswissenschaften', ein Buch, das vor allem wichtig ist, weil eine so große Synthese bietet zwischen Theologie, Mystik und islamischem Recht."
So Thomas Bauer von der Universität Münster über Abu Hamid Al-Ghazali, der um das Jahr 1057 im heutigen Iran geboren wurde. Ghazali genoss eine klassische islamische Ausbildung. Etwa im Alter von Mitte 30 kam er selbst als Gelehrter nach Bagdad, dem Zentrum des bereits im Niedergang befindlichen Reichs der Abbasiden-Dynastie. Ghazali erwarb sich zunächst vor allem mit seinen Arbeiten zum islamischen Recht großes Ansehen. Nebenbei arbeitete er sich gründlich in die philosophischen Schriften ein. Begleitet von den zunehmenden politischen Auseinandersetzungen und religiösen Disputen seiner Zeit stürzte er jedoch in eine tiefe intellektuelle Krise:
Nach langem Zweifel bin ich dahin gekommen, auch der sinnlichen Erkenntnis keine Gewissheit zuzugestehen,
... schreibt Ghazali in seinem autobiografischen Werk: "Der Befreier aus dem Irrtum". Die Skepsis gegenüber dem verbreiteten Autoritätsglauben, der dazu auffordert, sich nur bereits existierenden Gelehrtenmeinungen anzuschließen, hatte Ghazali schon vor längerer Zeit entwickelt. Und auch auf die Vernunft allein wollte er sich nicht verlassen, um sein Verlangen nach Gewissheit zu befriedigen. Er schreibt:
Vielleicht versteckt sich ja hinter der Vernunfterkenntnis ein anderer Richter, welcher, sobald er in Erscheinung tritt, das Urteil der Vernunft der Lüge bezichtigt.
Irgendwann wird es dem Gelehrten zu viel. Quasi auf dem Höhepunkt seines Erfolgs gab er seine renommierte Stelle in Bagdad auf. Verschenkte all seinen Besitz und machte sich auf die Suche nach der Liebe zu Gott. Als Asket folgte Ghazali fortan fast elf Jahre dem Pfad der Mystik. Anschließend ging er in seine Heimatregion zurück und nahm an seiner ehemaligen Ausbildungsstätte einen Lehrstuhl an. In dieser Zeit schloss er auch seine berühmte Schrift "Ihya ulum al-din" - Die Wiederbelebung der Religionswissenschaften - ab. Es ist vielleicht die bedeutendste theologische Abhandlung im Islam.
Wenn dem Islam heute mitunter ein gespanntes Verhältnis zur Philosophie attestiert wird, so ist Ghazali daran nicht ganz unschuldig. Der französische Schriftsteller und Historiker Ernest Renan bezeichnete ihn 1852 als einen "Feind der Philosophie". Und sein deutscher Kollege und Zeitgenosse Salomon Munk kam zu dem Urteil:
Ghazali führte einen Schlag gegen die Philosophie, von dem sie sich im Orient nicht mehr erholen konnte.
Den Ruf des Zerstörers brachte ihm vor allem ein Werk ein: "Die Inkohärenz der Philosophie". In diesem Buch setzte sich Ghazali aus theologischer Perspektive kritisch mit den Denkansätzen der bis dahin wichtigsten islamischen Philosophen auseinander: Ibn Sina und Al-Farabi, die in Europa als Avicenna und Alfarabius bekannt sind. Ghazali führt insgesamt 20 Lehrsätze von ihnen auf, die seiner Auffassung nach Fehler und Mängel aufwiesen - etwa die Behauptung, die Welt sei unerschaffen und ewig. Oder: Nur die Seele, nicht aber der Leib werde auferstehen. Zum Teil hatten Ghazalis Ausführungen fatale Folgen. 17 dieser Lehrsätze erklärte er für häretisch, drei sogar als ein Zeichen für Apostasie, also für einen Abfall vom Glauben, der nach klassischer Rechtsauffassung mit dem Tod bestraft wird.
Der Islamwissenschaftler Frank Griffel von der Yale-University ist gegenwärtig einer der besten Kenner Ghazalis:
Ghazali hat die Philosophie nie als Ganzes verurteilt oder verworfen. Im Gegenteil, er und andere haben sie gelehrt und damit die aristotelische Tradition im ascharitischen Kalam (das ist die vorherrschende Theologie-Schule im Islam) begründet. Die Aneignung der Philosophie durch den ascharitischen Kalam wurde durch Ghazalis Werke erst möglich gemacht.
Der Teil der islamischen Theologie, den man in unserem Sprachgebrauch als orthodox bezeichnen würde, hat sich um die Zurückweisung der Vernunft und der menschlichen Einflüsse auf die Religion bemüht. Er tut es auch heute noch. Die buchstabengetreue Vorstellung von Gott im Koran macht sein Wesen aus. Strömungen wie die Philosophie oder die Mystik - die auf menschliche Vernunft und emotionale Kraft setzen - waren ihnen fremd. Manchen orthodoxen Gläubigen galten sie gar als bedrohlich. In Ghazalis Vorstellungswelt war die Philosophie zwar ebenfalls kritisch zu bewerten, aber lediglich dort, wo sie grundlegende Doktrinen des Islam verletzt: also beim Monotheismus, bei Muhammads Prophetentum und bei der koranischen Beschreibung des Lebens nach dem Tod. Auch der Islamwissenschaftler Thomas Bauer hält mit Bezug auf Ghazali fest:
"Aber gegen die Philosophie insgesamt hat er sich keines Wegs gewendet, was man an seinem rechtsmethodologischen Buch sieht - al-Mustasfa ist ein Werk, in dem er stärker als je jemals einer vor ihm aristotelische Logik reingebracht hat. Seitdem ist die Logik aus der Rechtsmethodologie nicht mehr hinweg zu denken."
Selbst wenn Ghazali die menschliche Vernunft nicht als alleinige Quelle des Wissens gelten lassen wollte, ihren Wert wusste er Zeit seines Lebens zu schätzen. In der "Wiederbelebung der Religionswissenschaften" schreibt er zur Vernunft:
Und es ist, als sei sie ein Licht, das ins Herz dringt, wodurch es zum Begreifen der Dinge befähigt wird. Und der ist im Unrecht, der dies leugnet und die Vernunft auf bloße notwendige Erkenntnisse reduziert.
Ghazali ist davon überzeugt, wenn sich die menschliche Vernunft in Form von Argumenten zeige, "die evident sind und nicht angezweifelt werden können", dann müsse man Schlussfolgerungen gelten lassen. Dann könnten sie ebenso wenig als falsch erachtet werden wie die göttliche Offenbarung. Sollte sich beides widersprechen, müsse der Koran im übertragenen Sinn interpretiert und symbolisch für eine tiefere Wahrheit gelesen werden.
Trotz der grundlegenden Anerkennung durch fast alle nachfolgenden Gelehrten blieb Ghazali nicht ohne Gegner. Der Andalusier Ibn Ruschd, in Europa als Averroes bekannt, verfasste rund hundert Jahre später ein Buch, das wiederum Mängel und Fehler in Ghazalis Philosophie-Kritik aufzeigen sollte. Schon Ibn Ruschds berühmter Lehrer Ibn Tufayl hatte sich gegen Ghazali gewandt. Er warf ihm sogar Opportunismus vor:
Mit den Aschariten ist Ghazali Ascharit, mit den Sufis Sufi, mit den Philosophen Philosoph.
Aber Ibn Tufayl und Ibn Ruschd gelang es nicht, die reine philosophische Lehre im Islam gegen die Kritik Ghazalis und gegen die politischen und gesellschaftlichen Umstände ihrer Zeit weiter aufrecht zu erhalten.
Auf der anderen Seite des theologischen Spektrums, dem antirationalistischen, formierten sich ebenfalls Kritiker Ghazalis. Nennen muss man gewiss Ibn Taymiyya, einer der Lieblingsautoren heutiger Fundamentalisten. Bereits im 13. Jahrhundert predigte er die absolute Rückbesinnung auf Koran und Sunna. Ibn Taymiyya wollte vor allem nicht in Ghazalis Forderung einwilligen, im Fall intellektueller Konflikte einer Bedeutung im übertragenen Sinn den Vorzug vor einer wörtlichen Bedeutung Heiliger Texte zu geben.
Nach Meinung von Thomas Bauer von der Universität Münster kann Ghazali auch heute noch Muslimen Orientierung bieten - solange man nicht jeden Satz von ihm wortwörtlich nimmt:
"Ghazali war schon ein sehr strenger, frommer Mann. Man muss ja sehen, dass der klassische Islam eine ausgesprochen pluralistische oder plurale Religion ist, und man natürlich die verschiedensten Meinungen zu den verschiedenen Themen findet. Da ist Ghazali zwar nicht so rigoros wie Ibn Taymiyya oder dergleichen, aber er gehört doch schon zu den Rigoroseren. Und viele seiner Äußerungen sind natürlich auch vor dem Hintergrund seiner Zeit zu lesen und nicht eins zu eins in die Gegenwart übertragbar. Ich glaube aber, das wissen die meisten Muslime sehr genau."
So Thomas Bauer von der Universität Münster über Abu Hamid Al-Ghazali, der um das Jahr 1057 im heutigen Iran geboren wurde. Ghazali genoss eine klassische islamische Ausbildung. Etwa im Alter von Mitte 30 kam er selbst als Gelehrter nach Bagdad, dem Zentrum des bereits im Niedergang befindlichen Reichs der Abbasiden-Dynastie. Ghazali erwarb sich zunächst vor allem mit seinen Arbeiten zum islamischen Recht großes Ansehen. Nebenbei arbeitete er sich gründlich in die philosophischen Schriften ein. Begleitet von den zunehmenden politischen Auseinandersetzungen und religiösen Disputen seiner Zeit stürzte er jedoch in eine tiefe intellektuelle Krise:
Nach langem Zweifel bin ich dahin gekommen, auch der sinnlichen Erkenntnis keine Gewissheit zuzugestehen,
... schreibt Ghazali in seinem autobiografischen Werk: "Der Befreier aus dem Irrtum". Die Skepsis gegenüber dem verbreiteten Autoritätsglauben, der dazu auffordert, sich nur bereits existierenden Gelehrtenmeinungen anzuschließen, hatte Ghazali schon vor längerer Zeit entwickelt. Und auch auf die Vernunft allein wollte er sich nicht verlassen, um sein Verlangen nach Gewissheit zu befriedigen. Er schreibt:
Vielleicht versteckt sich ja hinter der Vernunfterkenntnis ein anderer Richter, welcher, sobald er in Erscheinung tritt, das Urteil der Vernunft der Lüge bezichtigt.
Irgendwann wird es dem Gelehrten zu viel. Quasi auf dem Höhepunkt seines Erfolgs gab er seine renommierte Stelle in Bagdad auf. Verschenkte all seinen Besitz und machte sich auf die Suche nach der Liebe zu Gott. Als Asket folgte Ghazali fortan fast elf Jahre dem Pfad der Mystik. Anschließend ging er in seine Heimatregion zurück und nahm an seiner ehemaligen Ausbildungsstätte einen Lehrstuhl an. In dieser Zeit schloss er auch seine berühmte Schrift "Ihya ulum al-din" - Die Wiederbelebung der Religionswissenschaften - ab. Es ist vielleicht die bedeutendste theologische Abhandlung im Islam.
Wenn dem Islam heute mitunter ein gespanntes Verhältnis zur Philosophie attestiert wird, so ist Ghazali daran nicht ganz unschuldig. Der französische Schriftsteller und Historiker Ernest Renan bezeichnete ihn 1852 als einen "Feind der Philosophie". Und sein deutscher Kollege und Zeitgenosse Salomon Munk kam zu dem Urteil:
Ghazali führte einen Schlag gegen die Philosophie, von dem sie sich im Orient nicht mehr erholen konnte.
Den Ruf des Zerstörers brachte ihm vor allem ein Werk ein: "Die Inkohärenz der Philosophie". In diesem Buch setzte sich Ghazali aus theologischer Perspektive kritisch mit den Denkansätzen der bis dahin wichtigsten islamischen Philosophen auseinander: Ibn Sina und Al-Farabi, die in Europa als Avicenna und Alfarabius bekannt sind. Ghazali führt insgesamt 20 Lehrsätze von ihnen auf, die seiner Auffassung nach Fehler und Mängel aufwiesen - etwa die Behauptung, die Welt sei unerschaffen und ewig. Oder: Nur die Seele, nicht aber der Leib werde auferstehen. Zum Teil hatten Ghazalis Ausführungen fatale Folgen. 17 dieser Lehrsätze erklärte er für häretisch, drei sogar als ein Zeichen für Apostasie, also für einen Abfall vom Glauben, der nach klassischer Rechtsauffassung mit dem Tod bestraft wird.
Der Islamwissenschaftler Frank Griffel von der Yale-University ist gegenwärtig einer der besten Kenner Ghazalis:
Ghazali hat die Philosophie nie als Ganzes verurteilt oder verworfen. Im Gegenteil, er und andere haben sie gelehrt und damit die aristotelische Tradition im ascharitischen Kalam (das ist die vorherrschende Theologie-Schule im Islam) begründet. Die Aneignung der Philosophie durch den ascharitischen Kalam wurde durch Ghazalis Werke erst möglich gemacht.
Der Teil der islamischen Theologie, den man in unserem Sprachgebrauch als orthodox bezeichnen würde, hat sich um die Zurückweisung der Vernunft und der menschlichen Einflüsse auf die Religion bemüht. Er tut es auch heute noch. Die buchstabengetreue Vorstellung von Gott im Koran macht sein Wesen aus. Strömungen wie die Philosophie oder die Mystik - die auf menschliche Vernunft und emotionale Kraft setzen - waren ihnen fremd. Manchen orthodoxen Gläubigen galten sie gar als bedrohlich. In Ghazalis Vorstellungswelt war die Philosophie zwar ebenfalls kritisch zu bewerten, aber lediglich dort, wo sie grundlegende Doktrinen des Islam verletzt: also beim Monotheismus, bei Muhammads Prophetentum und bei der koranischen Beschreibung des Lebens nach dem Tod. Auch der Islamwissenschaftler Thomas Bauer hält mit Bezug auf Ghazali fest:
"Aber gegen die Philosophie insgesamt hat er sich keines Wegs gewendet, was man an seinem rechtsmethodologischen Buch sieht - al-Mustasfa ist ein Werk, in dem er stärker als je jemals einer vor ihm aristotelische Logik reingebracht hat. Seitdem ist die Logik aus der Rechtsmethodologie nicht mehr hinweg zu denken."
Selbst wenn Ghazali die menschliche Vernunft nicht als alleinige Quelle des Wissens gelten lassen wollte, ihren Wert wusste er Zeit seines Lebens zu schätzen. In der "Wiederbelebung der Religionswissenschaften" schreibt er zur Vernunft:
Und es ist, als sei sie ein Licht, das ins Herz dringt, wodurch es zum Begreifen der Dinge befähigt wird. Und der ist im Unrecht, der dies leugnet und die Vernunft auf bloße notwendige Erkenntnisse reduziert.
Ghazali ist davon überzeugt, wenn sich die menschliche Vernunft in Form von Argumenten zeige, "die evident sind und nicht angezweifelt werden können", dann müsse man Schlussfolgerungen gelten lassen. Dann könnten sie ebenso wenig als falsch erachtet werden wie die göttliche Offenbarung. Sollte sich beides widersprechen, müsse der Koran im übertragenen Sinn interpretiert und symbolisch für eine tiefere Wahrheit gelesen werden.
Trotz der grundlegenden Anerkennung durch fast alle nachfolgenden Gelehrten blieb Ghazali nicht ohne Gegner. Der Andalusier Ibn Ruschd, in Europa als Averroes bekannt, verfasste rund hundert Jahre später ein Buch, das wiederum Mängel und Fehler in Ghazalis Philosophie-Kritik aufzeigen sollte. Schon Ibn Ruschds berühmter Lehrer Ibn Tufayl hatte sich gegen Ghazali gewandt. Er warf ihm sogar Opportunismus vor:
Mit den Aschariten ist Ghazali Ascharit, mit den Sufis Sufi, mit den Philosophen Philosoph.
Aber Ibn Tufayl und Ibn Ruschd gelang es nicht, die reine philosophische Lehre im Islam gegen die Kritik Ghazalis und gegen die politischen und gesellschaftlichen Umstände ihrer Zeit weiter aufrecht zu erhalten.
Auf der anderen Seite des theologischen Spektrums, dem antirationalistischen, formierten sich ebenfalls Kritiker Ghazalis. Nennen muss man gewiss Ibn Taymiyya, einer der Lieblingsautoren heutiger Fundamentalisten. Bereits im 13. Jahrhundert predigte er die absolute Rückbesinnung auf Koran und Sunna. Ibn Taymiyya wollte vor allem nicht in Ghazalis Forderung einwilligen, im Fall intellektueller Konflikte einer Bedeutung im übertragenen Sinn den Vorzug vor einer wörtlichen Bedeutung Heiliger Texte zu geben.
Nach Meinung von Thomas Bauer von der Universität Münster kann Ghazali auch heute noch Muslimen Orientierung bieten - solange man nicht jeden Satz von ihm wortwörtlich nimmt:
"Ghazali war schon ein sehr strenger, frommer Mann. Man muss ja sehen, dass der klassische Islam eine ausgesprochen pluralistische oder plurale Religion ist, und man natürlich die verschiedensten Meinungen zu den verschiedenen Themen findet. Da ist Ghazali zwar nicht so rigoros wie Ibn Taymiyya oder dergleichen, aber er gehört doch schon zu den Rigoroseren. Und viele seiner Äußerungen sind natürlich auch vor dem Hintergrund seiner Zeit zu lesen und nicht eins zu eins in die Gegenwart übertragbar. Ich glaube aber, das wissen die meisten Muslime sehr genau."