Das Leben gehört zu den wichtigsten Gegenständen von Philosophie und Naturwissenschaft. Bereits in der europäischen Antike wurde die große Fülle der Lebewesen akribisch dokumentiert und klassifiziert. So sollte herausgefunden werden, wie die ungeheure Anzahl der Arten entstanden ist. Aber es hat viele Jahrhunderte gedauert, bis das Rätsel des Lebens zumindest ansatzweise gelöst werden konnte. Ein entscheidender Schritt war die Entstehung der Evolutionsbiologie im 19. Jahrhundert. Erstmals konnte die Geschichte des Lebens von ihren Anfängen an geschrieben werden.
Alle Lebewesen verdanken sich einem gemeinsamen Ursprung und unterliegen zugleich einem ständigen Wandel. Es gibt keine feststehenden Arten. Die neuen Lebewesen gehen aus den gegenwärtigen hervor. Seit dieser Erkenntnis erscheint die Welt des Lebendigen auf eine geheimnisvolle genetische Weise in sich geordnet. Wie die moderne Physik die Neuzeit geprägt hat, ist die Entschlüsselung der Erbinformationen das große Projekt unserer Zeit. Noch lange wird es die menschliche Zukunft bestimmen.
Die Verbundenheit der Körper
Vor diesem Hintergrund hat sich der italienisch-französische Philosoph Emanuele Coccia vorgenommen, eine "Philosophie der Verwandlung" auszuarbeiten. Mit ihr sollen aus den Erkenntnissen der Evolutionsbiologie auch Konsequenzen für die Sichtweise auf uns selbst gezogen werden. Denn die Verwandlung der Lebewesen ist nicht nur etwas, das sich über große Zeiträume hinzieht, sondern sich permanent in unserem Leben ereignet.
"Wir, die lebenden Spezies, haben nie aufgehört, uns Teile, Umrisse, Organe auszutauschen, und was wir sind, jede und jeder von uns, gemeinhin ‚Spezies‘ genannt, ist nichts weiter als die Gesamtheit aller Techniken, die ein Lebewesen von den anderen übernommen hat."
Bereits in seinem Buch "Die Wurzeln der Welt" hat Coccia eine neue philosophische Sichtweise entwickelt. In deren Mittelpunkt stand das Leben der Pflanzen. Ohne die Vegetation wäre weder tierisches noch menschliches Leben auf der Erde möglich. Trotzdem spielen die Pflanzen – anders als die Tiere – kaum eine Rolle in der klassischen Anthropologie. Sie werden meist als weniger bedeutsame Lebewesen eingestuft. In der alten agrarischen Kultur früherer Zeiten existierte noch eine enge Bindung an die Vegetation. In der industriellen Moderne aber gelten Pflanzen als Grünzeug, das zur Ernährung oder Gestaltung da ist. Erst unter den gegenwärtigen Bedingungen der ökologischen Krise wird das intelligente Leben der Pflanzen wiederentdeckt.
Das Blut der Anderen
In seinem neuen Buch geht Coccia noch einen Schritt weiter. Ausgangspunkt ist dieses Mal die Kontinuität aller Lebensformen. Damit ist nicht nur ihr gemeinsamer Ursprung gemeint. Auch in der Gegenwart ihrer Existenz sind alle Lebewesen miteinander verbunden. Von den einfachen Organismen bis zu den höheren Säugetieren gehören alle einem einzigen Lebensstrom an. In diesem Lebensstrom tauchen die einzelnen Exemplare auf und verschwinden auch wieder. Das gilt auch für die Menschen:
"In unserem Atem setzt sich der Atem eines anderen fort, in unseren Adern fließt das Blut eines anderen; die DNA, die wir von jemand anderem bekommen haben, modelliert und gestaltet unseren Körper. So, wie unser Leben lange vor unserer Geburt begonnen hat, endet es erst lange nach unserem Tod. Unser Atem versiegt nicht in unserem Leichnam: Er wird noch all diejenigen versorgen, die mit ihm einen Festschmaus feiern werden."
Kein dauerhaftes Bestehen
Unser Körper ist mit zahlreichen anderen Körpern verknüpft, die vor uns da waren und die nach uns da sein werden. Wir gehören niemals nur uns selbst. Wie jedes Lebewesen existieren auch wir nur, weil es andere Lebewesen gibt, aus denen wir hervorgegangen sind. Der Lebensstrom muss sich ständig neue Formen suchen, in denen er sich fortsetzen kann. Es gibt kein dauerhaftes Bestehen.
Die Welt des Lebendigen ist eine Welt der Metamorphosen. So lautet auch der Titel des Buches von Coccia, mit dem er die Verwandlungen der Natur zu fassen versucht. Zugleich nimmt er damit Bezug auf ein einzigartiges Werk der lateinischen Antike. Unter einer Metamorphose hatte Ovid den Wechsel des Lebensmodus einer Raupe zu einem Schmetterling verstanden.
Die Variation ist horizontal
Sein gleichnamiges Werk erzählt von einer mythologischen Welt voller Maskeraden und Verwandlungen. Menschen und Götter werden zu Pflanzen und Tieren oder auch zu Sternen. Für Coccia soll die Metamorphose aber mehr sein als ein poetisches Motiv:
"Die Metamorphose ist das Prinzip der Gleichwertigkeit zwischen allen Naturen und der Vorgang, durch den diese Gleichwertigkeit hergestellt werden kann. Alle Gestalt, alle Natur kommt vom anderen und ist dort gleichwertig. Jede von ihnen existiert auf derselben Ebene. Jede hat, was die anderen gemeinsam haben, aber auf unterschiedliche Weise. Die Variation ist horizontal."
Seit der Aufklärung sind wir es gewohnt, neue Zustände möglichst als Verbesserung wahrzunehmen. Ob es sich nun um die große Geschichte oder um unsere überschaubaren Lebensläufe handelt, die Idee des Fortschritts hat sich tief in das kulturelle Gedächtnis eingeprägt. Biographien werden als Karrieren arrangiert. Gesellschaften werden als fortschrittlich dargestellt.
Stets wird aus einzelnen Ereignissen eine Geschichte des Fortschritts gemacht. Als Charles Darwin seine Evolutionstheorie veröffentlichte, glaubten daher viele Zeitgenossen, dass sich die Lebewesen immer höher entwickeln würden. Dabei bestand das eigentlich Neue seiner Theorie darin, dass der Zufall dafür verantwortlich war, in welche Richtung sich der Lebensstrom bewegt. In der Evolution gibt es weder eine Vorhersehung noch ein Ziel, sondern nur Wechselwirkungen und Wandlungen.
Die Bedeutung der Geburt
Um von den Zufällen der Evolution berichten zu können, musste sich Darwin davor hüten, ihr einen höheren Sinn unterzuschieben. Er musste lernen, dass nicht die Menschen diese Geschichte schreiben, sondern alle Lebewesen zusammen. Auf ähnliche Weise versucht Coccia die Sichtweise auf uns selbst aus der engen Klammer unserer Identität zu befreien. Obwohl wir wissen, dass wir uns nicht selbst erschaffen haben, ist unsere Identität das Resultat eines Vergessens. Dabei ist die Geburt unsere wichtigste Metamorphose:
"Die Geburt ist die absolute Grenze der Wiedererkennbarkeit. Sie ist die Schwelle, auf der das ‚Ich‘ mit einem anderen verschwimmt. Unmöglich zu sagen, ob der Atem, der uns erlaubt, diese Silbe auszusprechen, wirklich uns gehört oder ob er die Fortsetzung des Körpers unserer Mutter ist; unmöglich zu sagen, ob diese Silbe unseren Körper bezeichnet oder den, aus dem wir gekommen sind."
Das Kind als Synthese
Unser Leben beginnt in einem anderen Körper, von dem wir bei unserer Geburt abgenabelt werden. Das geschieht seit unzähligen Generationen immer auf die gleiche Weise. Entscheidend für unsere Identität ist, wie wir diesen Vorgang im Nachhinein verstehen. So betonte die antike Philosophie die Hervorbringung von Nachkommen, die das eigene Weiterleben sicherstellen sollten. Mit Kindern war immer auch die Erbschaft des Erreichten verbunden.
Erst für die moderne Philosophie bedeutete die Geburt ein Neuanfang. In der klassischen Dialektik galt das Kind als Synthese von Vater und Mutter. Für die existenzialistische Philosophie besteht der Geburtsvorgang darin, in die Welt hinausgeworfen zu werden. Das bringt zugleich Freiheit und Einsamkeit mit sich.
Auch für Coccia ist mit jedem neuen Leben eine neue Welt gegeben. Aber mit der Abnabelung entsteht kein vereinzeltes Lebewesen, das von nun an auf sich selbst zurückgeworfen wäre. Das Neugeborene ist nur eine weitere Gestalt der zahlreichen Metamorphosen des Lebensstroms.
Stammesgeschichte des Lebens
Der Säugling, der in einem anderen Körper herangewachsen ist, stellt von Anfang an einen Ausdruck der gewaltigen Vielfalt des Lebens dar. Mit der Geburt wird die gesamte Geschichte des Lebens in einem einzigen Augenblick der Gegenwart versammelt. Denn beim Heranwachsen im Bauch der Schwangeren durchlebt der kleine Körper die lange Stammesgeschichte des Lebens:
"Die Erfahrung der Schwangerschaft – also zu erleben, wie der eigene Körper im Körper eines anderen wiedergeboren wird – ist auch aus einem anderen Grund einzigartig: Sie entfaltet sich unter besonderen zeitlichen Vorzeichen. Jede Schwangerschaft stülpt zweierlei auf die Gegenwart: die Kopräsenz einer vorgeschichtlichen Zeit, die mit den Ursprüngen einer Spezies zusammenfällt (denn jede Geburt fällt mit der Geburt und der Erschaffung der menschlichen Spezies zusammen), und eine absolute Zukunft jenseits aller Science-Fiction-Träume."
Die Metamorphose der Geburt bringt ein Leben zur Welt, das die gesamte Geschichte des Lebens in sich trägt. Es wiederholt alle früheren Gestalten des Lebens, indem es ihnen eine weitere hinzufügt.
Selbstbestimmung und Identität
Diese philosophische Sichtweise ist bemerkenswert. Sie widerspricht allen modernen Phantasien vom Neuanfang und den Wünschen, ganz über sich selbst verfügen zu können. Sie steht quer zu den gegenwärtigen Tendenzen, möglichst alles an sich selbst ändern zu können, das eigene Aussehen, das körperliche Geschlecht und in Zukunft vermutlich auch die Erbanlagen.
Die Metamorphosen des Lebens, die Coccia in manchen Passagen geradezu besingt, haben nur wenig mit der emanzipativen Idee der Selbstbestimmung zu tun, die heute längst zu einem Zwang in Form einer lebenslangen Arbeit an der eigenen Identität geworden ist. Sie setzen der Traurigkeit des modernen Ichs und seiner ewigen Suche nach sich selbst das Versprechen einer neuen Lebenslust entgegen. Seinen Ursprung hat dieses Versprechen in der Lebensphilosophie des 20. Jahrhunderts. Und es ist sicher kein Zufall, dass diese Sichtweise heute erneut an Gewicht gewinnt.
Die Ökologie der Erde
Nach Stationen in Florenz und Freiburg lehrt Coccia heute Philosophiegeschichte in Paris. Dort arbeitet er mit dem berühmten Soziologen und Philosophen Bruno Latour zusammen, der zu den wichtigsten Theoretikern einer politischen Ökologie gehört. Um die globalen Probleme bewältigen zu können, halten beide eine neue ökologische Kosmologie für nötig. Das überkommene Menschenbild soll verabschiedet und den anderen Lebewesen auf diesem Planeten mehr Geltung verschafft werden.
Ein Baustein dieser Kosmologie ist die umstrittene Gaia-Hypothese, die der britische Biophysiker James Lovelock bereits Mitte der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts entwickelt hat. Benannt nach der personifizierten Erde in der griechischen Mythologie, ist damit das irdische Lebenssystem gemeint, das wie ein einziger Organismus betrachtet werden soll.
Darwin auf links gedreht
Alle Lebewesen zusammen sorgen demnach für ein chemisch und physikalisch stabiles Milieu als Grundlage ihrer Existenz. Sie halten den Salzgehalt in den Meeren konstant und begrenzen die Schwankungen des Klimas. Im Unterschied zu den klassischen Evolutionstheorien, bei denen die Anpassungsleistungen des Lebens an seine Umgebung im Zentrum stand, schafft sich das Leben hier seine Umgebung selbst:
"Das Leben ist immerzu Reinkarnation des Nicht-Lebendigen, ein Bastelwerk des Minerals, ein Karneval der irdenen Substanz eines Planeten – Gaia, der Erde –, der seine Gesichter und Seinsweisen im kleinsten Teilchen des eigenen, verschiedenartigen, heterogenen Körpers unablässig vervielfacht."
Die interessante Vorstellung, dass alle Lebewesen zusammen einen großen irdischen Organismus bilden, hat eine lange Vorgeschichte. Sie findet sich schon in der antiken Mythologie und wurde insbesondere von den Romantikern aufgegriffen, den ersten Kritikern der modernen Naturzerstörung.
Die Natur als Datenaustausch
Aber auch in der wissenschaftlichen Ökologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat sie prominente Anhänger gefunden, die beweisen wollten, dass sich einzelne Biotope wie ein selbständiges Lebewesen verhalten und ihren Stoffwechsel regulieren können. Die meisten dieser Theorien sind inzwischen widerlegt worden. In den 1970er-Jahren erhielt die Idee einer lebendigen Erde neuen Auftrieb durch die Forschung zur Kybernetik.
Die Natur wurde als ein gewaltiger Datenaustausch aufgefasst, bei dem alle Lebewesen mitwirken, ohne dabei zu einem einzigen Lebewesen werden zu müssen. Auf diese Hypothese bezieht sich Coccia, wenn er unser gesamtes Leben als von der Kraft der Erde durchdrungen sieht:
"Es ist immer Gaia, die ‚ich‘ in uns sagt. Wir sind Welt und jede und jeder von uns ist auf ihre und seine Weise weltlich. Alle zusammen sind wir ihr Inhalt, aber auch und vor allem ihre Gestalt. Das ‚Ich‘ ist niemals eine rein persönliche Eigenschaft oder Tätigkeit: Es ist eine tellurische Kraft."
Die Gaia-Hypothese
Jedes Naturverständnis hat immer auch soziale Implikationen. Als Darwin seine Evolutionstheorie ausformulierte, wurde er durch die ökonomischen Theorien seiner Zeit inspiriert. Das berühmte "survival of the fittest" folgte der Vorstellung, dass eine verschärfte Konkurrenzsituation auch zu einer dynamischeren Entwicklung führt. Der Kampf der Lebewesen um Nahrung und Raum entscheidet darüber, welche Spezies sich fortpflanzen kann und welche nicht.
Dagegen werden heute in der Evolutionsbiologie verstärkt die Symbiosen betont, die vielen Lebewesen ihre Existenz sichern. Als in den 70er-Jahren die Gaia-Hypothese aufkam, zeichnete sich die Zeit der Computer am Horizont ab, in der sich alle großen Menschheitsprobleme durch einen besseren Informationsfluss lösen lassen würden. Vor diesem Hintergrund wurde der Planet als ein gigantischer Rechner begriffen.
Kosmologie der Lebewesen
Inzwischen haben sich die optimistischen Erwartungen an das Computerzeitalter stark relativiert. Die zahlreichen politischen Utopien, die mit dem "World Wide Web" einhergingen, wirken heute naiv. Auch wenn die Gaia-Hypothese bislang nicht widerlegt wurde, geht es dem irdischen Lebewesen offensichtlich ziemlich schlecht. Der Klimawandel belegt, dass eine einzige Spezies in der Lage ist, die gesamte Ökologie der Erde in Gefahr zu bringen.
In diesem Kontext versteht Coccia seine neue Lebensphilosophie als einen Beitrag zu den aktuellen Diskussionen um einen ökologischen Umbau der Gesellschaft. Damit dieser Umbau gelingt, müssen sich die Menschen unter die zahllosen Lebewesen auf der Erde einreihen und sich von ihrer Sonderstellung verabschieden:
"Alle Lebewesen vermögen ihre Umgebung und die der anderen Spezies willentlich zu verändern, beliebige interspezifische Beziehungen zu knüpfen, die nicht zwangsläufig auf irgendeinen Nutzen ausgerichtet sein müssen, und auch die Bestimmung anderer Spezies zu ändern. Die Welt ist, aus diesem Blickwinkel betrachtet, das sich stetig wandelnde Resultat der universellen und kosmischen Intelligenz und Empfindsamkeit der unendlich vielen Lebensformen."
Emphase für das Leben
In diesen Gedanken finden sich viele Spuren aus der romantischen Tradition und der frühen Umweltbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dazu gehörten auch die sogenannten "Kosmiker", die den antiken Naturbegriff mit seiner Annahme einer beseelten Welt wiederbeleben wollten.
Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, sich mit diesen Entwürfen und ihren politischen Dimensionen auseinanderzusetzen. Denn an manchen Stellen des Buches überdeckt die Emphase für das Leben die schwierige Frage nach einer Politik des Lebens. Seine große Stärke hingegen bezieht das Buch aus den neuen Beschreibungen der Lebensstationen von der Geburt bis zum Tod und seinen grandios überraschenden Einsichten.
Emanuele Coccia: "Metamorphosen. Das Leben hat viele Formen. Eine Philosophie der Verwandlung"
aus dem Französischen von Caroline Gutberlet
Carl Hanser Verlag, München. 206 Seiten, 23 Euro.
aus dem Französischen von Caroline Gutberlet
Carl Hanser Verlag, München. 206 Seiten, 23 Euro.