Eine zarte Knabenstimme intoniert das Carol "Once in royal David’s city" – beim Refrain setzt der Chor ein, ab der zweiten Strophe singt die Gemeinde mit. Am Nachmittag des Heiligen Abend feiert man in fast allen englischen Kirchen das "Festival of nine lessons and carols" – egal ob anglikanisch oder presbyterianisch, katholisch oder protestantisch.
1918, zum Ende des Ersten Weltkriegs, wurde die Andacht zum ersten Mal in Cambridge gefeiert. Ein paar Jahre später begann die BBC mit den Live-Übertragungen, die seitdem jedes Jahr aus Cambridge gesendet werden - sogar in der bitteren Zeit der deutschen Bombenangriffe. Damals hatte man die kostbaren Bleiglasfenster aus Furcht vor Zerstörung ausgebaut, die ehrwürdige King’s College Chapel blieb ungeheizt.
Seit mehr als einhundert Jahren ist der Ablauf der "Nine lessons and carols" unverändert – in Cambridge, in ganz England, in anglikanischen Gemeinden überall auf der Welt. "Same procedure as last year – same procedure as every year!" – die Engländer halten eisern an ihren Traditionen fest.Die unterscheiden sich teilweise deutlich von denen auf dem Kontinent, auch was die musikalischen Weihnachtsbräuche angeht.
Liebgewonnene Traditionen christlich gedeutet
Wie bei manchen anderen weihnachtlichen Traditionen liegt der Ursprung in heidnischen Zeiten. In der Nacht der Wintersonnwende füllte man den "wassail bowl", einen großen Holzkrug, mit stark gewürztem Bier, reichte ihn herum und wünschte einander für das kommende Jahr alles Gute.
Schon in vorchristlichen Zeiten schmückte man in den dunklen Wintermonaten die Häuser mit immergrünen Pflanzen. "Holly and Ivy" – Stechpalme und Efeu – symbolisierten die Wiedergeburt der Sonne nach der Zeit der Finsternis, den Sieg des Lebens über den Tod. Dabei verkörperte der stachelige, unbeugsame Ilex das männliche Prinzip, während der rankende Efeu die Weiblichkeit versinnbildlichte. Nach der Christianisierung Englands behielt man die liebgewonnenene Tradition bei – deutete die Pflanzen aber im christlichen Sinn.