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Fotografien aus Tschernobyl
Der Moment, als die Zeit für immer stehen blieb

Der deutsch-amerikanische Fotograf Gerd Ludwig ist für zahlreiche Reportagen nach Tschernobyl gereist. Die Gegend habe sich in den letzten Jahren verändert, sagte er im DLF. "Prypjat spiegelt nicht mehr so wie früher das abrupte Ende des Lebens wieder." Doch eines seiner Bilder belegt dieses Ende besonders eindrucksvoll.

Gerd Ludwig im Gespräch mit Michael Köhler |
    Nach der Katastrophe in Tschernobyl
    Verlassene Welt: Eine Wohnung in Tschernobyl (picture alliance / dpa / Grigoriy Vasilenko)
    Michael Köhler: Etwa 1.700 Kilometer vom Kölner Funkhaus des Deutschlandfunks entfernt, nördlich von Kiew, in der Ukraine, an der weißrussischen Grenze, liegt Tschernobyl. Heute vor 30 Jahren explodierte Block vier des Kernreaktors. Die größte Katastrophe der zivilen Nutzung der Kernenergie war passiert. Der deutsch-amerikanische Dokumentarfotograf Gerd Ludwig war seit 1993 insgesamt neunmal im Sperrgebiet rund um Tschernobyl. Gerd Ludwig habe ich gefragt: Sind das immer noch gespenstische Ruinen mit verlassenen Häusern und Wohnungen rund um den Reaktor in Prypjat?
    Gerd Ludwig: Die Stadt Prypjat ist nach wie vor verlassen, aber sie spiegelt nicht mehr so wie früher das abrupte Ende des Lebens wieder. Denn Diebe sind mittlerweile im Schutze der Nacht in die Zone eingedrungen und haben alles, was nicht niet- und nagelfest war, aus Prypjat und den Dörfern herausgeholt, sodass man heute oft leere Innenräume vorfindet.
    "Meine Fotos stellen eine Warnung an menschliche Hybris dar"
    Köhler: Herr Ludwig, ich spreche mit Ihnen nicht als Umweltaktivist, sondern als Künstler und Dokumentarfotograf. Was reizt Sie an dieser, ich nenne es mal, apokalyptischen Welt, die Sie ja nicht als Armageddon, als letzten Tag fotografiert haben, sondern als verlorene Welt?
    Ludwig: Ich bezeichne mich auch selbst nicht als Umweltaktivisten. Ich bin nicht jemand, der mit einem Anti-Atom-Button durch die Welt geht. Aber ich glaube, dass meine Fotos eine Warnung an menschliche Hybris darstellen, dass nämlich nicht alles, was technologisch machbar ist, auch Sinn macht.
    Köhler: Da sitzen trostlose, unglückliche Menschen auf dem Krankenbett, Kinderspielzeugpuppen neben Gasmasken. Was zeigen Sie da? Ist es die unsichtbare Gefahr, die Sie sichtbar machen in Ihren Fotos? Denn die sind ja, das fällt auf, sehr unaufgeregt, da passiert sehr wenig.
    Ludwig: Ich zeige im wahrsten Sinne den langen Schatten von Tschernobyl, die noch immer kontaminierten Landschaften im weiten Umkreis des Reaktors. Da sind die verlassenen Dörfer in der Sperrzone und da ist natürlich auch diese Geisterstadt Prypjat und die Gesundheitsschädigungen unter den unschuldigen Kindern und den etwa 800.000 Menschen, die an den Aufräumarbeiten beteiligt waren und die noch heute leiden. Und dann ist da natürlich auch der zerstörte Reaktor selbst mit seinen 200 Tonnen geschmolzener Brennstäbe. Ich möchte zeigen, dass Atomunfälle zum Wesen von Atomkraft gehören, überall und jederzeit, wie es uns Fukushima in einem so hochtechnologisierten Land wie Japan ja auch gezeigt hat. Ich bin aber nicht jemand, der wirklich jedem Reaktorunfall hinterherrennt, sondern ich möchte symptomatisch am Beispiel von Tschernobyl zeigen, dass auch 30 Jahre danach die Umwelt noch leidet.
    "Einer der bewegendsten Momente meiner Reportagen in der Zone"
    Köhler: Etwas Endzeitliches hat es ja dann am Ende doch. Sie haben beispielsweise, das ist ein berühmtes Foto von Ihnen, eine Uhr fotografiert, die den Moment des Unglücks anzeigt. Richtig?
    Ludwig: Ja. Das war sicherlich einer der bewegendsten Momente meiner ganzen Reportagen in der Zone. Ich war im Reaktor mit einem Ingenieur. Wir sind dunkle Gänge entlanggehastet, mehr stolpernd als gehend. Da lagen Schutt und Metallteile, zerborstenes Metall, und vor einer großen, schweren Tür blieb er stehen und deutete mir an, dass ich meine Kameras fertig haben sollte, wenn er die Tür aufmacht. Und ich stolperte in einen dunklen Raum, nur im Schein meiner Stirnlampe sah ich im Hintergrund eine Uhr. Ich habe eine Reihe von Blitzen abgeschossen und dann war auf dem Bild diese eingefrorene Uhr, die auf 1:23 Uhr zeigte, den Moment, in dem in Tschernobyl die Zeit für immer stehen geblieben war.
    Köhler: Herr Ludwig, heute schreibt Witali Klitschko in der "Bild"-Zeitung darüber, dass sein Vater, ein Luftwaffenoffizier, Einsätze koordinierte in Tschernobyl. Der ist vor fünf Jahren im Alter von 64 Jahren an Lymphdrüsenkrebs gestorben. Ist das nach wie vor die häufigste Erkrankung, der Sie begegnen?
    Ludwig: Das ist sicherlich unzweifelhaft eine Folge von radioaktiver Kontaminierung. Das ist diejenige Folge, die unter den Wissenschaftler unumstritten ist. Ich habe Klitschko vor zwei Jahren selbst getroffen und wir haben darüber geredet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.