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Geschichte der CDU
Die Weichenstellerin der Bundesrepublik

Keine andere Partei hat das heutige Deutschland so geprägt wie die CDU. Vor 75 Jahren hat sich diese damals völlig neuartige Partei gegründet. Ein Sammelband schaut auf Geschichte und Zukunft der CDU, mit Fragen nach dem "C" im Namen und dem Status als Volkspartei.

Von Michael Kuhlmann |
Hintergrundbild: Blick über den Saal auf das Präsidium während des ersten Bundesparteitags der Christlich-Demokratischen Union (CDU). Vom 20. bis 22. Oktober 1950 hielt die CDU im Odeonsaal der alten Kaiserstadt Goslar ihren ersten Bundesparteitag seit ihrer Gründung 1945 ab. Vordergrund: Buchcover
Der erste CDU-Bundesparteitag fand 1950, fünf Jahre nach der Gründung, in Goslar statt. (picture alliance / dpa Siedler Verlag)
Zunächst zieht Norbert Lammert Bilanz: Über bald zwei Drittel ihrer Existenzdauer hinweg wurde die Bundesrepublik von christdemokratischen Kanzlern regiert; jeder zweite Bundespräsident kam aus der CDU; bei sechzehn der neunzehn Bundestagswahlen wurde die Union stärkste Kraft. Lammert gibt zu bedenken:
"Ansehen und Erfolg einer Volkspartei hängen aber ganz wesentlich von ihrer Fähigkeit ab, unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und Interessen zu erreichen und übergreifend zu integrieren. […] Sie muss lebendige Membran sein, die Veränderungen vermittelt – in beide Richtungen."
Das gelang der CDU etwa in der Ära Adenauer, als sie politische und wirtschaftliche Weichen stellte und zugleich beharrende Kräfte mit auf den Weg nahm. Alles im Zeichen eines Weltbildes, das Konrad Adenauer 1946 im Nordwestdeutschen Rundfunk erläuterte. Denn die Deutschen, so betonte er, müssten politisch umdenken.
"Der grundlegende Satz unseres Programms ist: An die Stelle der materialistischen Weltanschauung muss wieder die christliche treten. Wir betrachten die hohe Auffassung des Christentums von der Menschenwürde, vom Wert jedes einzelnen Menschen als Grundlage und Richtschnur unserer Arbeit."
Ein Aktivist von Greenpeace trägt den Buchstaben C aus dem Parteiennamen CDU aus der CDU-Bundesgeschäftsstelle, dem Konrad-Adenauer-Haus.
Wie die CDU zum C kam
Vor 75 Jahren wurde die CDU gegründet. Erstmals gab es in Deutschland eine Partei mit dem Anspruch, Katholisches und Evangelisches zu verbinden. Besonders schwierig waren die Bedingungen in der sowjetischen Besatzungszone.
Nicht chronologisch, sondern systematisch gegliedert untersuchen die Autoren die Entwicklung der Partei. So schreibt etwa Wolfgang Jäger über die CDU und die deutsche Einheit, Matthias Stickler befasst sich mit der Migrationspolitik; Mariam Lau beleuchtet, wie es um die CDU und die Frauen stand und steht; und Horst Möller schreibt über das oftmals delikate Verhältnis zur bayerischen Schwester CSU. Die war als Regionalpartei stets homogener als die CDU; sie vermochte auch leichter das "C" im Parteinamen zu betonen.
Das "C" im Namen und seine Tragfähigkeit
Antonius Liedhegener aber zeigt, dass die CDU in den letzten 40 Jahren auch in der säkularisierten Gesellschaft zurechtkam. Denn:
"Der Bezug zum Christentum wurde durchdacht, die Verbindung des christlichen Menschenbilds zu den Grundwerten Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit verständlich gemacht. Während der Modernisierungsphase der 1970er-Jahre enthielt das ‘C‘ also die Möglichkeit, die strukturelle Modernisierung der Partei mit einer Traditionslinie im politischen Leitbild zu verbinden. Die Voraussetzung dafür war eine Ausformulierung des christlichen Menschenbilds, die hier als eine Form von Wertgeneralisierung ausgemacht wurde."
Unter Angela Merkel, so knüpft Thomas Brechenmacher an, proklamiere die CDU einen – so wörtlich – universalen Humanismus. Der müsse immer wieder von Neuem moralisch begründet werden. Solch ein ständiger Rechtfertigungszwang binde politische Kräfte, die eigentlich für pragmatische Krisenbewältigung benötigt würden.
Andere Autoren des Buches betonen, nur mit einem breiten Programm vermöge die CDU ihren Abwärtstrend zu bremsen. Noch deutlicher als der bündnisgrüne Ralf Fücks betont das der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte:
"Noch immer führt die Schnittmenge aus drei Bereichen zum Wahlerfolg: ökonomische Effizienz, soziale Gerechtigkeit und kulturelle Modernisierung. Um Wählerangebote zu machen, die nicht auf die AfD schielen, bedarf es eigener bürgerlich-attraktiver und glaubwürdiger Leistungsversprechen für notwendige Reparaturarbeiten am Wohlfahrtsstaat. Es wird nicht ausreichen, nur traditionelle christdemokratische Milieus wiederzugewinnen, die Merkel nach 2015 nicht mehr erreichte. Wer dafür die liberale Mitte preisgibt, verliert mehr, als er gewinnt."
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU, l-r), Altbundeskanzler Helmut Kohl und seine Frau Maike Richter-Kohl sitzen am 27.09.2012 im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Die Politiker nahmen zum 30. Jahrestag der Wahl von Helmut Kohl zum Bundeskanzler an einer Festveranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung teil.
Auf der Suche nach dem richtigen Entwicklungspfad
Ein Jahr vor Ende der Ära Merkel ragt die CDU einsam wie nie als letzte Volkspartei aus dem Parteienspektrum, kommentiert Stephan Detjen. Die Kür des nächsten Parteichefs sei nicht nur für die CDU bedeutsam, sondern für Deutschland und Europa.
Die prominenten Köpfe
Dass sie dem Wirken einzelner Politikerpersönlichkeiten Bedeutung zumessen, lassen die Autoren durchblicken. Aber einzig Angela Merkel und Helmut Kohl sind individuelle Beiträge gewidmet. Zu Letztgenanntem kann man bei Frank Bösch zwischen den Zeilen herauslesen, dass sich Kohls programmatische Kreativität bereits Ende der achtziger Jahre erschöpft hatte. Auf dem Parteitag 1989 versuchten Kurt Biedenkopf, Heiner Geißler und Lothar Späth zu putschen. Der langjährige FAZ-Redaktionsleiter Günter Bannas erinnert daran: Den Kanzler rettete wohl einzig der überraschende Umbruch in Osteuropa mit seinen welthistorischen Folgen. Das Buch weicht der Frage aus, inwieweit das Denken der drei Putschisten – die dem Kanzler intellektuell allesamt weit überlegen waren – der CDU auf Dauer nicht zukunftsträchtigere Impulse verliehen hätte als das "Weiter-so-Deutschland" des Einheits-Kanzlers.
Die CDU der DDR fehlt
Noch in einem weiteren Punkt bleibt das Buch wortkarg: Einzig Ursula Münch erinnert an den jahrzehntelangen Opportunismus der DDR-CDU. Und man hätte auch gern etwas gelesen zu dem Problem, dass sich Reformer der DDR-CDU während des Volkskammerwahlkampfs 1990 von den Bonner CDU-Profis geradezu untergebuttert fühlten.
Diese achthundert Seiten über die CDU sind also zwar keine unkritische Festschrift; aber Quergedachtes auch im Sinne einer Rita Süssmuth oder des verstorbenen Richard von Weizsäcker hätte den Band bereichert. Wie auch ein Unterkapitel zu den Aktivitäten der Jungen Union. Barbara Zehnpfennig immerhin mutet der CDU einen unbequemen Ratschlag zu: Diese einst antimaterialistisch gesonnene Partei müsse die geistige Dimension der Politik wieder ins Spiel bringen.
"Dazu gehörte eine bürgernahe Vermittlung der Bedeutung der parlamentarischen Demokratie angesichts illusionärer Vorstellungen von der unmittelbaren Wirkung des Volkswillens. Dazu gehörte ebenfalls eine programmatische Debatte, die vielleicht dem Konservativen wieder mehr Raum ließe – allerdings einem konservativen Profil, das zukunftstauglich sein muss. Dazu gehörten auch das Wahr- und Ernstnehmen bürgerlicher Ängste – denen aber mutig entgegenzutreten ist, wenn sie sich als sachlich nicht gerechtfertigt erweisen."
Ein schlüssiger Ansatz für eine Partei, die die bundesdeutsche Demokratie so stark geprägt hat. Der frühere saarländische Ministerpräsident Peter Müller rundet das in seinem Beitrag ab durch einen pragmatischen Hinweis:
"Nicht nur der neue Parteivorsitzende, sondern die Partei insgesamt werden daran gemessen werden, ob es ihnen gelingt, in der Nach-Corona-Zeit die liberale, die konservative und die soziale Ausrichtung der Partei mit einem sowohl führungsstarken und föderalen als auch partizipativen Führungsstil zu vereinbaren."
Norbert Lammert (Hg.): "Christlich-Demokratische Union. Beiträge und Positionen zur Geschichte der CDU,
Siedler Verlag, 838 Seiten, 30 Euro.