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"Giovanni, eine Passion" in Berlin
Zwischen Totenfeier und Karnevalstaumel

Sinnsuche, Triebhaftigkeit, Leben und Tod: Die ungewöhnliche Version von Mozarts "Don Giovanni" an der Neuköllner Oper ist ein performatives Experiment zwischen Musik- und Sprechtheater - eine Gratwanderung zwischen Mitmachtheater und szenischem Happening.

Von Dieter David Scholz |
    "Giovanni, eine Passion" an der Neuköllner Oper Berlin
    "Giovanni, eine Passion" an der Neuköllner Oper Berlin (Neuköllner Oper/ Matthias Heyde)
    Zu den Klängen einer Passionsmusik wird das Publikum durch ein Spalier aller Darsteller, Sänger wie Musiker des Stegreiforchesters, in einen schwarz ausgekleideten Saal geleitet, der mit frischer Erde bestreut ist. In der Mitte ein quadratisches Podest, auf dem ein Teil des Publikums platznehmen wird. An zwei gegenüberliegenden Wänden, Altar und Grab, Devotionalien, Kerzen, Totenblumen. Es ist eine spanisch anmutende Totenfeier, die Ulrike Schwab in der Ausstattung von Pia Dederichs und Marina Stefan inszeniert hat, ein gruftig-sinnliches Ritual, das um den Mythos Don Juan kreist und - sehr frei - die Vertonung von Wolfgang Amadeus Mozart aufgreift. Bernhard Glocksin, der Leiter der Neuköllner Oper und Dramaturg dieser Produktion:
    "Stellten wir uns vor, wir alle hätten Giovanni mal kennengelernt, zumindest kennen wir die Oper, und wir kämen jetzt einmal im Jahr zu seiner Totenfeier. Es gibt im spanischen und im lateinamerikanischen Raum ja das, was wir hier als Allerseligen kennen, den "dia des los muertos", den Tag der Toten. Dort wird mit großer Inbrunst eine Wiederkehr mit seinen Toten gefeiert."
    16 Instrumentalisten und sechs Sänger zelebrieren gemeinsam auf der Bühne eine unkonventionelle Don-Giovanni-Totenfeier, indem sie immer wieder in neue Masken und Rollen schlüpfen, singen, tanzen, sprechen. Juri de Marco, der Leiter des Stegreiforchesters: "Jeder Musiker, egal ob Sänger oder Instrumentalist tritt quasi als Darsteller auf, jeder hat mindestens einen kleinen Satz auch zu sagen, oder einen kleinen Satz zu singen, es gibt auch viele chorische Stellen, es gibt die Champagnerarie, die wir mit dem kompletten Stegreiforchester singen." Vor vier Jahren hat Juri de Marco, klassischer Orchestermusiker, das mittlerweile aus bis zu 30 Musikern bestehende Stegreiforchester gegründet, das seither mit einer Mischung aus Klassischer Musik, Jazz, Klezmer, Blues, Rock, Weltmusik und improvisierten Passagen international auf Tour geht.
    Man spielt ohne Noten, ohne Dirigent, ohne Stühle. Juri de Marco nennt als Gründungsimpuls seines Orchesters, "dass ich mich damals als Hornist eingeschränkt gefühlt hatte in meinen Ausdrucksmöglichkeiten. Ich hab früher viel Improvisationstheater gespielt, ich hab in Jazzbands gespielt, und diese Welt der szenischen Arbeit und aber auch der Improvisation in der Musik wollte ich irgendwie verknüpfen mit dieser klassischen Welt."
    Neue Annäherung an Mozarts Oper
    Die Auseinandersetzung mit Mozarts "Don Giovanni" ist die erste Musiktheaterproduktion des Stegreiforchesters, das sich aus instrumentalistisch, schauspielerisch und sängerisch vielseitig begabten jungen Musikern rekrutiert, die sich mit Neugier, Experimentierfreude und Unvoreingenommenheit Mozarts Oper annähern. Man hat die Oper gekürzt, größtenteils neu arrangiert, uminstrumentiert, mit anderen Musiken des Komponisten angereichert, wie etwa Passagen aus seinem Requiem, mit Technoelementen, Groof und traditioneller Volksmusik angereichert, vor allem mit spanischer wie beispielsweise dem Flamenco.
    Immer wieder werden Arien in 5er-Gruppen aufgeteilt, das heißt, plötzlich singen fünf Darsteller Don Giovanni, oder auch Donna Anna. Ein ganzes Ensemble setzt sich musizierend, singend und spielend mit Mozarts Partitur auseinander, schlüpft in immer neue Rollen. Bernhard Glocksin: "Das ist sozusagen der spielerische Ansatz, der führt dazu, dass wir weniger die Geschichte noch mal eins zu eins nacherzählen, als diesen Aspekten nachzugehen, was macht es denn, wenn wir Momente von diesem Giovanni (…), er ist in uns, er ist unvergänglich, diesem Archetypus, wie gehen wir damit um?"
    Reise durch verschiedenste Zeiten und Stile
    Szenisch ist diese Don Giovanni Passion ein performatives Experiment zwischen Musik- und Sprechtheater: Es geht um Sinnsuche und Triebhaftigkeit, Leben und Tod. Eine Gratwanderung zwischen Mitmachtheater und szenischem Happening. Musikalisch ist sie eine Reise durch verschiedenste Zeiten und Stile. Juri de Marco: "Wir haben da ein Drumset verstärkt, haben den Einsatz von Samplern und Synthesizern, wo es dann auch mal zeitweise in eine düstere Techno-Richtung geht. Dann gibt es eben das große Hochzeitsfest von Masetto und Zerlina, "giovinette" geht schon fast eher in so eine Funk-Richtung, wo man auch wirklich dazu tanzen kann und Leute zum Tanz aufgefordert werden, auch das Publikum selbst, und ganz viel ist tatsächlich chorisch geworden."
    Die Giovanni-Passion der Neuköllner Oper ist eine unkonventionelle Mischung aus Totenfeier und Karnevalstaumel, Prozession und Stierkampf, Brauchtum und Oper. Eine starke, immer wieder auch traditionelle Geschlechterrollen in Frage stellende Auseinandersetzung mit dem Assoziationsraum "Don Giovanni".
    Die Darsteller, die mal in Männer-, mal in Frauenkleidern auftreten, wagen viel, gehen an ihre Grenzen, gelegentlich überschreiten sie ihre Möglichkeiten, zugegeben. Sie verausgaben sich - jenseits von purem Schönklang und edler Gesangskultur, aber mit ehrlicher Leidenschaft. Wer eine traditionelle Aufführung von Mozarts Oper in Neukölln erwartet, wird womöglich enttäuscht sein von dieser Produktion. Doch für das Publikum der Neuköllner Oper, das eher selten in die drei staatlichen Berliner Opernhäuser geht, ist diese respektlos-kreative, barrierelose Expedition in die Alchemie des Mythos Don Juan und den Zauber der Mozartoper - aus dem Hier und Heute und jenseits elitärer hochkultureller Ansprüche - eine animierende Annäherung an ein geradezu prometheisches Opern-Denkmal. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.