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’’Ich wählte die Freiheit’’. Die Geschichte einer afghanischen Familie

Es war kurz nach dem 11. September 2001, nach einer Informationsveranstaltung über die Lage in Afghanistan, als die Autorin Erica Fischer von der Exil-Afghanin Mariam Notten gefragt wurde, ob sie bereit wäre, ihre Familiengeschichte aufzuschreiben.

Eva Pfister |
    Sie hat mir die dann im Kurzdurchlauf erzählt und ich war total fasziniert von dieser Mischung aus Gewalt und selbstbewussten Frauen, die trotz aller Gewalt und aller Ungerechtigkeit gegen sie sich auf irgendeine Weise so gut sie eben können innerhalb dieses patriarchalen Systems wehren.

    Tatsächlich beginnt die Familiensaga wie ein Abenteuerroman aus dem wilden Afghanistan: Die Urgroßmutter der Ich-Erzählerin Malalai, wird kurzerhand erschossen, als ihr Ehemann nachts einen jungen Mann in der Gasse bei ihrem Haus erblickt. Den Söhnen wird auferlegt, als Erwachsene die Ehre ihres Vaters wiederherzustellen, und eben diesen – vermutlichen – Liebhaber umzubringen. Bevor sie die Tat ausführen, planen sie schon die Flucht nach Kabul, denn in ihrer Heimat in den paschtunischen Bergen hätte sich die Blutrache unweigerlich fortgesetzt.

    In Kabul geht es der Familie zunächst ganz gut, der Großvater ist ungewöhnlich liebevoll, oder, wie die Autorinnen schreiben: "Es war selten, dass ein paschtunischer Mann sich die Blöße gab, die Zuneigung zu seiner Frau so offen zu zeigen." Zumal ihr erstes Kind nur ein Mädchen war. Leider wirft die Großmutter von Malalai ein Auge auf den Knecht, und dies beobachtet der Urgroßvater, der Greis, der stets zuhause herumsitzt. Diesmal handelt die Großmutter kurz entschlossen, um einer drakonischen Strafe für Ehebruch zu entgehen: Sie erschießt ihren Schwiegervater und berichtet ihrem Mann , dass der sich beim Gewehrputzen versehentlich selbst getötet habe. Der Großvater ahnt die Zusammenhänge, aber er unternimmt nichts. Der Haussegen hängt von da an jedoch schief und er stirbt früh.

    Die Mutter von Malalai wächst unter diesen Umständen erstaunlicherweise zu einer Rebellin heran. Pari – ihr Name bedeutet Fee – ist die eigentliche Heldin des Buches. Sie tritt ungewöhnlich selbstbewusst auf und als sie mit 15 Jahren verheiratet werden soll, unternimmt sie sogar juristische Schritte dagegen. Ihr Widerstand scheitert zwar an den verständnislosen und korrupten Richtern, aber Pari geht mit erhobenem Haupt in ihre Ehe – und die wird für kurze Zeit sogar glücklich. Mit dem Eintritt in das Haus des einflussreichen tadschikischen Clans kommt Pari aus ihrer ärmlichen Flüchtlingsfamilie in eine Welt des Überflusses, wo man Wert auf schöne Gewänder und gutes Essen legt, wo getanzt und gefeiert wird.

    Das Glück währt so lange, bis ihr Söhnchen vom Dach des Hauses fällt und stirbt. Da beginnt für Pari ein Martyrium zwischen Schlägen und vergeblichen Fluchtversuchen, bis sie schließlich zurück in das Haus ihrer Mutter zieht.

    Die Ich-Erzählerin Malalai ist die Tochter dieser ungewöhnlich starken Frau. Ich fragte Mariam Notten, ob denn die Figur ihrer Mutter, diese Pari, eine Ausnahmefrau im Afghanistan der 40er und 50er Jahre gewesen sei. Notten:

    Ich glaube nicht. Die sollte eben diese Figur, diesen Typus von Frauen in Afghanistan darstellen, die eben beides ertragen: Einerseits sehr kämpferisch, selbstbewusst und stark sind wie viele Frauen auf dieser Welt, nicht nur in Afghanistan, andererseits konnten sie jede Menge Leid ertragen, und daran wachsen sie auch.

    Beinahe ungläubig liest man, wie Pari zum einen ihren Ehemann zum Teufel jagt, zum anderen, wie sie dennoch immer wieder seine ungeliebten Besuche erdulden muss (und hinterher abtreibt), wie sie sich auch von ihm schlagen lässt, so wie Malalais Tante, die von ihrem Bruder, "Schläger" genannt, verprügelt wird, weil sie sich in der Stadt herumtreibt.

    Pari erzieht ihre Töchter jedoch bewusst zur Wehrhaftigkeit. Und Malalai ist nach dem Tod der Mutter schon mit 16 Jahren eine selbständige junge Frau, die sich durch Arbeit – in einem Krankenhaus und im Rundfunk - den Lebensunterhalt für sich und ihre Schwester verdient. Für die traditionellen Regeln der Familie hat sie nur noch Verachtung übrig, wenn sie sich auch gelegentlich noch daran halten muss. So lebte Mariam Nottens Alter Ego Malalai in zwei Welten. War das nicht ein unglaublicher Spagat?

    Malalai ist immerhin das Produkt dieser Erziehung dieser Frau, und in diesem Buch sollte es auch darum gehen, dass jede Generation den Weg für die andere Generation ebnet, und was diese westliche Orientierung dieser Zeit angeht, das war die 60er Jahre, 70er Jahre, wo es auch in Afghanistan eine Studentenbewegung gab, wir hatten eine neue Verfassung, in der zum ersten Mal zumindest in der Verfassung Männer und Frauen gleichgestellt wurden... von daher hatten wir schon eine Aufbruchszeit erlebt in dieser Zeit, die leider kläglich zu Ende ging durch den sowjetischen Einmarsch.

    Zwar gab es 1964 in Afghanistan eine neue Verfassung, drei Frauen konnten sogar ins Kabinett einziehen, doch bis in den Alltag drang die neue Zeit nicht so rasch. Im Interview stellt Mariam Notten die Lage positiver dar als in ihrem Buch. Dort schreibt sie: "Ich hatte es geschafft, mir innerhalb eines mächtigen Clans Respekt zu verschaffen, doch meine Ehre und meine Selbstachtung wurden jeden Tag verletzt, sobald ich das Haus verließ." Malalai – wie auch die Autorin - ergreift die erste Gelegenheit, um Afghanistan zu verlassen und fliegt 1967 im Alter von 19 Jahren nach Berlin, um zur Krankenschwester ausgebildet zu werden. Bei einem Besuch zwei Jahre später erlebt sie zum einen neue Freiheiten, aber sie erlebt auch, wie eine junge Frau durch eine kollektive Vergewaltigung sozusagen abgestraft wird, als sie diese Freiheit nutzt. Auch dieses Erlebnis bringt sie dazu, nach ihrer Ausbildung nicht nach Afghanistan zurückzukehren, sondern in Deutschland zu bleiben. Die Heirat mit einem Holländer bewahrt sie vor der Abschiebung.

    Der Titel Ich wählte die Freiheit verführt dazu, das Buch als anti-islamische Befreiungsstory im Stile von "Nicht ohne meine Tochter" zu lesen. Von dieser Absicht sind aber beide Autorinnen gleich weit entfernt. Mariam Notten berichtet auch von den Schattenseiten ihres Lebens im Exil. Erica Fischer erzählt die afghanische Familiensaga eingebettet in anschauliche Schilderungen des Alltagslebens und recherchierte auch die Geschichte dieses Landes:

    Und da habe ich erfahren, dass es nicht immer so war, dass Frauen wie Gespenster unter Burqas herumgelaufen sind in Afghanistan, dass es zum Beispiel in den 20er Jahren einen Aufbruch gegeben hat vergleichbar mit der Situation unter Atatürk in der Türkei, unter König Amanullah, dessen Frau in aller Öffentlichkeit den Schleier abgelegt hat und die Frauen aufgefordert hat, es ihr gleichzutun. Allerdings war das zu früh für Afghanistan.

    Dass es jetzt Zeit sein könnte für eine demokratische, gleichberechtigte Gesellschaft hofft mit den afghanischen Frauen auch Mariam Notten, die als Soziologin in Berlin lebt. Sie hatte sich all die Jahre in der afghanischen Exilbewegung engagiert, kämpfte gegen die Regimes des Sowjets wie auch der Taliban. Heute unterstützt sie den Wiederaufbau ihrer Heimat, indem sie Spenden sammelt für die Einrichtung von Schulen und Arbeitsstätten für verarmte Kriegswitwen. Mehr denn je ist sie zu einer Vermittlerin zwischen ihrer Wahlheimat Deutschland und ihrem Herkunftsland Afghanistan geworden.