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Intime Geschichten einer Straße

Das "Flaneur Magazine" befasst sich pro Ausgabe mit lediglich einer Straße. Dabei besteht bei den Berliner Heftmachern nicht der Anspruch, diese eine Straße komplett darzustellen. Sie geben eher einen Einblick in die Geschichten hinter der Fassade.

Von Dennis Kastrup |
    "Also ein Flaneur ist eigentlich immer alleine unterwegs. Das unterscheidet ihn vom Spaziergänger. Ein Flaneur hat dadurch den großen Vorteil, dass er erst mal sehr stark mit sich selbst konfrontiert ist und mit seiner Umgebung besonders konfrontiert ist. Der Flaneur ist in einem anderen Rhythmus unterwegs, weil er selbst den Rhythmus vorgibt und dementsprechend sich auf den Rhythmus der Umgebung einlassen kann. Der Flaneur im 19. Jahrhundert war eigentlich immer entweder der ganz Arme oder der ganz Reiche. Der Arme und der Reiche sind die einzigen, die Zeit haben. Die Mittelklasse geht nicht flanieren. Die Mittelklasse geht spazieren, weil die Mittelklasse arbeiten muss."

    Schritt für Schritt haben sich die Macher des Magazins der ersten Straße ihres neuen Magazins genähert, der Kantstraße. Bevor die ersten Zeilen auf das Papier gebracht werden konnten, erkundeten sie Hausecken, Ladenzeilen und Klingelschilder. Der Straßenzug entfaltete sich langsam.

    "Umso mehr wir uns mit der Straße beschäftigt haben, umso mehr wurde die Straße eigentlich zu den Menschen, die auf der Straße gelebt haben, zu den Geschichten, die wir gefunden haben. Also ich glaube, dass vor allem Orte, denen man vielleicht vorher gar nichts wirklich abgewinnen konnte und wo man vielleicht durchgelaufen ist, sind plötzlich aufgeladen gewesen, weil wir wussten, an der Stelle oder in dem Haus ist das und das passiert. Ich habe zum Beispiel Kontakt zu einem Holocaust-Überlebenden in Amerika irgendwann aufgenommen im Zusammenhang mit einem Artikel, der in den 20er-Jahren dort als Kind gelebt hat, bevor die Familie deportiert wurde."

    "Die Architektur der Straße spielt insofern immer eine Rolle, weil es natürlich erst mal ein greifbarer Aspekt der Straße ist und weil in Berlin vor allem natürlich Architektur immer auch verweist auf Berlin als verwundete Stadt."

    So stehen beispielsweise Altbauhäuser aus den goldenen 20ern direkt neben verlassenen Nachkriegsneubauten. Ein Flickenteppich der Geschichte.

    "Die Kant-Garagen sind für uns ein herausragendes Beispiel gewesen, weil es ein architektonisch einmaliges Gebäude ist, was es so in der Form nur zwei Mal in Deutschland gibt, was in den 20er-Jahren entstanden ist, aus einer ganz anderen Vision, einer ganz anderen Motivation, einer totalen Idee von Amerikanisierung und Motorisierung von Städten, die so nie stattgefunden hat. Also eigentlich ein gescheitertes Gebäude und ich denke, das ist insofern exemplarisch für eine Architektur von so einer Stadt wie Berlin, die einfach gar keine kontinuierliche, florierende Architekturzeit jemals erlebt hat, sondern fast alles in dieser Stadt ja entweder immer nur ein Verweis auf eine andere Zeit ist oder eben eine Reaktion auf die Trümmer der Zeit."

    Das "Flaneur Magazin" hat nicht den Anspruch, eine Straße komplett darzustellen. Im Untertitel heißt es auch: "Fragmente einer Straße."

    "Grashina, mit der ich die Redaktion gemacht habe, ist die Straße einmal komplett hinuntergelaufen und hat alle Worte, alle Dinge, die man da sieht und mit denen man da irgendwie konfrontiert wird, auf ein Diktiergerät gesprochen und eben, wenn man Grashinas Text hört, versteht man schon sehr schnell, dass es eben genau diese Vollständigkeit nicht hat, sondern maximal eine sehr fragmentarische Wahrnehmung. Wenn jemand anders die Straße hinunterlaufen würde, würde garantiert eine ganz andere Wahrnehmung, komplett andere Begriffe fallen und komplett andere Erinnerungen an diese Straße entstehen."

    Aus dieser Erinnerung und Wahrnehmung heraus entstand auch ein musikalisches Stück. Die Noten dazu sind im Flaneur auf fünf Seiten abgedruckt. "Not So Kantible" heißt der Song, der auf der Homepage des Magazins nachzuhören ist.

    "Die Idee, den Sound der Straße komponieren zu lassen oder von jemanden interpretieren zu lassen, hat es sehr früh schon gegeben und es gab immer sozusagen die Idee, das Printmedium an seine Grenze zu führen, zu gucken, was ist alles darstellbar in dem Medium. Musik ist erst mal etwas, was so per se nicht darstellbar ist im Print, aber es gibt eben Visualisierungsformen. Wir haben uns klassisch für die Noten entschieden. Die Musik wurde von Malakoff Kowalski komponiert, der insofern da großes Interesse dran hatte, da er vor Kurzem auch einen Soundtrack zu einem nicht existierenden Film komponiert hat und insofern ihn natürlich das Konzept, eine Straße zu vertonen, enorm angesprochen hat."

    Das "Flaneur Magazin" lebt von der Geschichte und den Geschichten hinter den Fassaden der Straße. So entstehen intime Einblicke, die Anbieter von großen Suchmaschinen mit ihren Straßenfotos niemals liefern könnten.