Auch in den anderen beiden Novellen "Das Plakat" und "Der neue Mieter" täuscht Langes klarer Erzählstil zunächst über den schwarzen Horizont hinweg. Umschmeichelt von einfachen, kühlen Sätzen gleitet der Leser mit Genuß in die Fiktion und verläßt sich auf die Stabilität der Welt-Koordinaten. Daß der Untergrund aus Treibsand besteht, verblüfft ihn dann nicht weniger als die Helden. In "Der neue Mieter" muß die übereifrige Concierge Frau Lehmann, eine Dame in mittleren Jahren, mit den ärgerlichen Angewohnheiten eines neuen Hausbewohners zurecht kommen. Der junge Mann sägt an einem Baum herum, ohne sich um die herunterfallenden Äste zu kümmern, er schleift wochenlang Abend für Abend sein Parkett ab und geht einer undurchsichtigen Beschäftigung nach. Frau Lehmann bemüht sich, ihn in die Hausordnung einzuweisen, und eines Tages steht der neue Mieter mit einem Alpenveilchen vor ihrer Tür, um sich für die Unruhe zu entschuldigen. Ohne daß Frau Lehmann etwas dagegen tun könnte, wird der unbekannte junge Mann zum Angelpunkt ihres Daseins. Als er plötzlich nicht mehr auftaucht, verliert sie den Bezug zur Wirklichkeit. Ähnlich brüchig erweist sich auch die Existenz des biederen Bankbeamten Henninger in der Novelle "Das Plakat". Der Berliner Beamte hält sich aus geschäftlichen Gründen in Wien auf. An einer Litfaßsäule in der Nähe seines Hotels entdeckt er ein Plakat mit der Überschrift "Sie sind verschwunden", darunter steht eine lange Namensliste. Aus ihm selbst unerfindlichen Gründen setzt er seinen eigenen Namen an das Ende der Liste. Ein mysteriöser Fremder in Sandalen kreuzt seine Wege, und statt wie geplant nach Berlin zurückzukehren, beginnt nun eine Odyssee durch Italien bis nach Afrika, wohin er dem Unbekannten am Ende nachreist. Frau Lehmann und Herr Henninger scheinen auf den ersten Blick vollständig der Diesseitigkeit verpflichtet, unvermutet wird ihr geordnetes Leben erschüttert, zurück bleibt ein tiefer Riß. "Es ist sozusagen die Alltäglichkeit des Unheimlichen, wie Heidegger sie auch beschreibt, die Angst hat ja eigentlich keinen Grund", so Lange. "Sie nistet im Alltäglichen, weil sie über das Alltägliche hinausweist, aber sie ist immer auf dem Sprung, sie ist ein schlafender Hund. Der ist in jedem Menschen drin. Das ist keine Frage der Bildung oder des Unglückerlebnisses, sondern unser Dasein ist etwas Unvereinbares, und auch wenn wir es nicht wissen, ist es sozusagen in uns, da es die Struktur des Unvereinbaren hat, und irgendwann platzt das dann auf, und dann finden die Leute, daß ihr Leben, das so durchstrukturiert war und so scheinbar logisch ablief, daß das auch irrational ist. Das ist sozusagen nicht die Psychopathologie des Alltagslebens wie bei Freud, denn die hat ja Krankheitsbilder als Voraussetzung, sondern es ist das Nichts am Leben, auch das Nichts am alltäglichen Leben."
Hartmut Lange erkennt in der Existenzphilosophie Heideggers die Beschreibungen ganz alltäglicher Befindlichkeiten. So resultiert der existentialistischen Lehre zufolge die Empfindung der Angst aus der Einsamkeit des Menschen vor dem Nichts. Zugleich gilt die Angst als eine Lebensprämisse, denn nur durch diese Erfahrung kann man das eigene Sein begreifen. Lange steht in vielem den Überzeugungen Kierkegaards und Heideggers sehr nahe, aber natürlich geht es ihm um die literarische Berarbeitung dieser urmenschlichen Seinszustände. Man kann die "Italienischen Novellen" auch ohne Kenntnis des philosophischen Hintergrunds mit großem Vergnügen lesen, denn sie sind alles andere als abstrakt. Weiß man allerdings darüber Bescheid, beeindruckt die Vielschichtigkeit der auf den ersten Blick so simpel strukturierten Allerwelts-Helden. Eine Erkenntnis des eigenen Daseins gelingt ihnen jedoch nicht, eher drohen die ungewohnten Erfahrungen Herrn Henninger und dessen Leidensgenossen zu verschlingen. Inmitten ihrer vertrauten Umgebung tauchen dunkle Löcher auf und eine unbekannte Sehnsucht treibt sie um. "Die Figuren haben alle eine Eigenschaft, die ich auch an mir spüre, die haben ein unlöschbares Transzendenzbegehren. Das kann man nur nicht so ausdrücken. Wie hat ein normaler Mensch ein unlöschbares Transzendenzbegehren, das ist eben halt, wenn die Frau Lehmann sich verliebt - hoffnungslos, dann erhält sie diese Liebe eben, indem sie sie zur Transzendenz erhebt. Sie bildet sie sich dann ein, und es ist immer besser, man behält eine eingebildete Rose bei sich, als daß man überhaupt nie eine kriegt. Das ist ein Transzendenzbegehren, das nicht christlich, sondern ganz dem Faktischen zugewandt ist."
Frau Lehmann erhofft sich mehr vom Leben, als das, was sie bisher besaß und vermutet das Glück hinter dem Briefschlitz des neuen Mieters. Nur dunkel erahnt sie das Nichts hinter der Welt, dem sie durch ihre Sehnsucht auszuweichen sucht. Die italienische Familie Mambrini ist mit dem Unerklärbaren des Lebens vertraut. Sie hat das unheimliche Hintergrundrauschen längst angenommen, befindet sich damit auf einer höheren Bewußtseinsstufe und kann deshalb das Nichts auch verteidigen. Langes zarte Novellen erzählen von den Abenteuern mit den mysteriösen Abgründen des Daseins, die sich Tag für Tag in Berliner Treppenhäusern, Wiener Hotels oder italienischen Provinzstädten zutragen.