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Leipziger Begegnungen

Die Geschichte der Leipziger Messe im Kalten Krieg erzählen Karsten Rudolph und Jana Wüstenhagen in ihrem Buch "Große Politik - Kleine Begegnungen". Sie schildern, wie widersprüchlich die Führung der Bundesrepublik, aber auch die SED agierten, wenn es darum ging, handfeste wirtschaftliche Interessen gegen politische Grundsätze abzuwägen.

Von Henry Bernhard |
    "Und nun, verehrte Hörer, ist es soweit: In wenigen Minuten wird die 2. Leipziger Friedensmesse feierlich eröffnet werden. Der schöne Raum des Leipziger Schauspiels, der, wie so vieles hier in Leipzig, nach dem Zusammenbruch neu entstanden ist, gibt der Feier einen gediegenen Rahmen. Es ist ein Bild, wie wir es in Leipzig seit den Tagen des Niedergangs nicht wieder gesehen und nicht erlebt haben. Und es werden wohl seit dieser Zeit kaum einmal so viele führende Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft, aus dem kulturellen Leben und von der Presse, über alle Zonengrenzen hinweg so vereinigt gewesen sein wie heute hier."

    Es war 1947, als die zweite Nachkriegsmesse in Leipzig mit Beethovens Leonoren-Ouvertüre eröffnet wurde, für die Messegesellschaft, für die Leipziger, für die durch Hunger, Kälte, Besatzerwillkür und Demontage gebeutelten Menschen in der Sowjetischen Besatzungszone ein großer Tag, zumal 1945 noch nicht allgemein klar ist, ob man Deutschland wieder einen wirtschaftlichen Aufschwung erlauben oder doch als Agrarland niederhalten will. Aber umtriebige Leipziger unterbreiten den russischen Besatzern einen Plan, der ihnen schmeichelt, und bekommen prompt den Befehl, den regelmäßigen Messebetrieb wieder aufzunehmen. Dabei vergessen die Russen auch nicht, jeweils eins von zwei eingereichten Warenmustern sofort nach Moskau zu verschicken. Nach einer regionalen Leipziger Messe 1945 folgt die erste reguläre 1946, zu der auch schon einige wenige Aussteller aus den westlichen Besatzungszonen kommen. 1947 dann beginnt die Messe voller Hoffnung, ausgedrückt durch den sächsischen Wirtschaftsminister Fritz Selbmann:

    "Die Leipziger Frühjahrsmesse 1947 steht im Zeichen des zentralen Problems aller deutschen Politik, insbesondere der deutschen Wirtschaftspolitik, des Problems der Wiederherstellung der wirtschaftlichen und in unerlässlicher Verbindung damit der politischen Einheit Deutschlands. Und noch in einer anderen Frage möge diese Messe als ein Bekenntnis gewertet werden: In der Frage nämlich, ob Deutschland die Möglichkeit behalten wird, durch die Nutzbarmachung seiner industriellen Möglichkeiten und seines Gewerbefleißes dem deutschen Volk einen mittleren Lebensstandard zu sichern und seinen Menschen zu ernähren und zu begleiten."

    So war die Leipziger Messe nach dem Krieg immer auch eine politische. Der Wechselwirkung zwischen Politik und Wirtschaft widmet sich das Buch "Große Politik - kleine Begegnungen. Die Leipziger Messe im Ost-West-Konflikt" der beiden Autoren Karsten Rudolph und Jana Wüstenhagen. Es handelt davon, wie sich die Akteure "SED-Staat", "Bundesregierung" und "westdeutsche Industrie" jeweils miteinander oder gegeneinander zur Institution Leipziger Messe verhalten haben.

    "Die Staats- bzw. Parteiführung der SED verfolgte zwei sich auf Dauer widersprechende Ziele: Sie betrachtete die Messe als Propagandaveranstaltung in eigener Sache und als wirtschaftlicher Motor des Landes. Unbenommen davon blieb die Leipziger Messe - drittens - als Publikumsmesse eine der wenigen grenzüberschreitenden Begegnungsstätten zwischen West- und Ostdeutschen."

    Grob vereinfacht kann man sagen, dass die Beteiligung westdeutscher Aussteller und Besucher an der Leipziger Messe von 1946 bis in die 80er Jahre immer weiter anstieg, dass es aber mehrere heftige Rückschläge gab, die die bundesdeutsche Beteiligung jeweils ernsthaft in Frage stellten. Dem Buch gelingt es, Brüche und Widersprüche in dieser Entwicklung sehr deutlich zu machen. Der erste Rückschlag kam schon 1948: die Währungsreform im Westen und die darauf folgende Berlin-Blockade.

    "Am 6. August 1948 setzte die amerikanische Militärregierung ein Ultimatum. Sie würde den Einsatz der 43 Messesonderzüge, die Besucher und Aussteller aus den Westzonen nach Leipzig bringen sollten, erst dann genehmigen, wenn der Eisenbahnverkehr von und nach West-Berlin wieder reibungslos funktioniere."

    Die Lösung des Problems erscheint so inkonsequent wie typisch für den weiteren Umgang des Westens mit der Leipziger Messe: Die Sonderzüge fahren zwar nicht, die DDR verzichtet aber auf eine Propagandawelle und organisiert stattdessen mit den westdeutschen Industrie- und Handelskammern einen Omnibusverkehr nach Leipzig. Die Amerikaner lassen alle Messebesucher in den Osten passieren. Das bayerische Wirtschaftsministerium schickt heimlich Vertreter nach Leipzig.

    Der nächste Rückschlag 1953: Der Arbeiteraufstand am 17. Juni. Die westdeutsche Industrie ist verunsichert: Macht sie sich "aus hemmungslosem Gewinnstreben zum Helfer der Bolschewisierung", wie die SPD anklagt? Oder soll sie weiterhin westliche Lebensweise nach Leipzig tragen und die Überlegenheit des Westens demonstrieren? Die Bonner Regierung vermeidet eine eindeutige Festlegung. Die großen Namen der West-Wirtschaft bleiben fern. Aber die DDR lockt mit einer Einkaufsgarantie und holt so die zweite Garde nach Leipzig, Fazit:

    "Der 17. Juni gefährdete weder den innerdeutschen Handel noch störte er die von der westdeutschen Industrie wieder aufgenommene Wirtschaftsdiplomatie gegenüber dem Osten."

    1955 sind auch Krupp, Hoechst, BASF und MAN wieder da. Geschäftsinteressen siegen über politisch-moralische Skrupel. Leipzig ist der Schlüssel zu Osteuropa. Die amtlichen Vertreter der Bundesrepublik und der Wirtschaftsverbände fahren nach Leipzig, aber halten sich im Hintergrund.

    Nächster Rückschlag: Mauerbau 1961. Im Westen reißen wütende Bürger die Messeplakate von den Litfasssäulen, die Bundesregierung erwägt ein Handelsembargo. Aber Paris und London winken ab, damit ist das Embargo gestorben. Immerhin boykottiert die Hälfte der westdeutschen Aussteller die Herbstmesse '61. Andere westliche Länder dagegen verstärken ihre Präsenz in Leipzig. Es gibt Diskussionen, auch Streit im Westen über Moral und Geschäft – und zur Frühjahrsmesse 1965 sind alle namhaften Aussteller wieder da. Letztlich hat der Mauerbau die Messe stabilisiert.

    "Die SED machte die Messe zu ihrer Messe und funktionierte sie um in einen Jahrmarkt der ideologischen Auseinandersetzung, in eine Bühne selbstherrlicher Außendarstellung und in ein innenpolitisches Spektakel. Aus der ehemals selbstverwalteten Mustermesse wurde eine Messe nach politischem Muster, eine Staatsveranstaltung mit kommunistischer Ideologie."

    Doch neben all der ideologischen Klingelei einen handfeste wirtschaftliche Interessen West-Industrie und Ost-SED. 1965 erklärt der DDR-Ministerpräsident Willy Stoph: "Wirtschaft ist Wirtschaft und Politik ist Politik", was die SED jedoch nicht davon abhält, überall Verschwörungen von westdeutscher Wirtschaft und Politik zu wittern. Für die 80er Jahre - die Messe verkommt zu einem inszenierten Staatsschauspiel jenseits der ökonomischen Realität - bleibt noch zu diskutieren, was peinlicher ist: Die 80 Fotos von Honeckers Messerundgang im "Neuen Deutschland" oder die Servilität westdeutscher Unternehmer, die auf diesem Rundgang bedacht werden wollen.

    "… und Kuba schickt das Zuckerrohr und Spanien Apfelsinen
    die Ungarn stellen Autos vor und wir unsere Maschinen
    mit vollen Händen kommen sie aus Norden, Süden, Osten
    und jeder der nach Leipzig fährt, der kommt auf seine Kosten"

    Was wäre die Leipziger Messe ohne die Stasi? Sie fand hier ein breites Betätigungsfeld: Einreiseanfragen mussten bearbeitet, Messegäste überwacht, Privatquartiere überprüft und die Opposition während der Messe mundtot gehalten werden. Zur Leipziger Herbstmesse 1989 arbeiteten fast 2400 Stasi-Leute an dieser Aufgabe.

    "Für die Stasi war die Messe eine Welt von Feinden, Risikogruppen und potentiellen Störern."

    Besonderes Augenmerk widmete die Stasi den ehemaligen DDR-Bürgern, die als Messegäste die Möglichkeit nutzten, Verwandte in der DDR zu besuchen. In den späteren Jahren wurden Weiterreisemöglichkeiten der Messebesucher immer weiter eingeschränkt: Sie sollten sich auf die Messe konzentrieren. Die Anwesenheit einer großen Zahl von Westdeutschen, noch dazu in unkontrollierbaren Privatunterkünften in Leipzig, war für die Stasi von Beginn an eine Herausforderung.

    All dies zeigen die Autoren anschaulich und detailreich, aber nicht ausschweifend. Einzig die Ausstrahlung der regelmäßig wiederkehrenden Westdeutschen auf die Stadt Leipzig und die ganze DDR wird recht knapp und nur anekdotisch abgehandelt. Hier hätte man sich mehr gewünscht. Trotzdem ist diese politische Geschichte der Leipziger Nachkriegsmesse lesenswert. Fotos, umfangreiche Statistiken und Verzeichnisse runden das Buch angenehm ab.

    Karsten Rudolph, Jana Wüstenhagen: Große Politik – kleine Begegnungen. Die Leipziger Messe im Ost-West-Konflikt.
    vorwärts buch, Berlin 2006
    224 Seiten
    28 Euro