Am Anfang ist er nur ein roter Punkt, unten im Krater des Kilimandscharo, in der Aschewüste. Der Erzähler sieht ihn schon von weitem, oben vom Kraterrand aus. Und er ärgert sich über diesen Kerl in der roten Jacke, der ihm sein ersehntes Alleinsein mit dem Berg verdirbt. Was sucht der da, unter dem schneebedeckten Gipfel, wo Hans im Zelt übernachten will? Nur drei von Hans' einheimischen Bergführern und Trägern kommen mit, zwei andere lehnen dankend ab. Im Krater schlafen, das sei zu gefährlich.
"Dort wohnten böse Geister, die verwandelten sich nachts in schlimme Schwefeldämpfe oder kämen im Eishagel und holten sich, wen immer sie wollten. Selbst die, die sie verschonten, schlügen sie mit Übelkeit und Wahn, einfach so, weil sie die Macht dazu hätten."
Übelkeit und Wahn
Natürlich ist diese Eröffnung des Romans eine Empedokles-Variante. Allerdings soll hier nicht im Tod das Einssein mit der Natur und der Welt gesucht werden, sondern durchaus im Leben, im Wagnis. Die Vorahnungen der afrikanischen Begleiter, Übelkeit und Wahn, sind dennoch ganz realistisch. Es ist gefährlich da oben - und auch im Flachland. Aber deshalb ist Hans ja da, der Bleistiftspitzer aus dem langweiligen Deutschland: Er hat noch eine Rechnung offen mit Afrika, wo er vor vielen Jahren fast an einer Blutvergiftung gestorben wäre. Er will beweisen, dass er es kann, dass extreme Temperaturen (und die extreme Armut der Bevölkerung) ihn nicht schaffen – und die Anstrengungen des Bergsteigens schon gar nicht.
Aber der Tod holt ihn dann doch ein, auf ganz banale Weise: Er bietet sich ihm als Reisebegleiter an. Etwas heruntergekommen sieht er aus, der Mensch im roten Anorak, "der Tscharli", der sich bald als bayerisches Urviech erweist.
"Er hatte halblange zerzauste Haare, einen buschigen Schnauzbart, der sich beidseits des Mundes bis zum Kieferknochen hinabzog, [...] alles in Silbergrau. […] Ein Zausel, […] vielleicht Ende sechzig, der immer noch den Rocker geben wollte."
"Der Tscharli", weißhäutig, spindeldürr und doch viril, strotzt nur so vor sprachlicher Vitalität. Er sagt in seinem Miesbacher Slang ständig politisch fragwürdige Sachen, er nennt Afrikaner bisweilen "Neger" und will von Frauen nur das eine - aber er hat lange in Afrika gelebt und kennt sich da aus. Er liebt diesen Kontinent, er sieht seine Schönheiten und Widersprüche, und er macht sich nichts vor, weder über sich selbst noch über die dritte Welt. Und: Der Tscharli ist krank, wie sich schon in der ersten, kalten Nacht im Krater erweist: ständig muss er aufs Klo, und er hat Blut im Stuhl.
Afrika ohne Kompromisse
Einen solchen Charakter zu erfinden, ist schon ein Ding. Oder ist er gar nicht erfunden? Ist er einem realen nomadischen Freak nachempfunden, einer Vorbildfigur? Das scheint fast wahrscheinlich. Matthias Politycki ist ja selbst lange unterwegs gewesen, nicht nur als Weltreisender, sondern auch literarisch - von seinem verspielt-ironischen, mit Fußnoten versehenen "Weiberroman" (über die Liebe in den Siebzigerjahren) bis zur Zukunftsvision "Samarkand, Samarkand", wo muslimische Truppen Europa besetzen und ein Geheimagent im steinigen Usbekistan gegen den Islam kämpft.
Jetzt also Afrika, ebenfalls ohne Kompromisse. Nur in der Fremde kommt man sich selber näher. Hans, der eher schüchterne Schriftsteller aus Hamburg, und "der Tscharli", das mephistophelische bayerische Monster, tragen ihren auch politischen Konflikt immer neu aus und werden einander natürlich immer sympathischer.
Tscharli schmeißt mit Geld um sich und reißt Frauen auf, und er weiß alles über afrikanische Gepflogenheiten (denn er hat früher in Tansania Bushaltestellen gebaut). Hans kommt immer mehr ins Zweifeln, ob der todkranke Tabubrecher nicht doch mehr vom Leben und auch von der Politik versteht als er, der brave Hamburger Humanist. Und Tscharli, eine Art prolliger großer Bruder, nimmt "den Hansi" mit auf seine letzte große Reise. Die führt zwar in den Tod, aber zunächst einmal durch die tansanische Massai-Steppe nach Daressalam und von dort auf die Insel Sansibar.
King of Fulalu
Auf dieser Abschiedstour lässt Tscharli die Kronkorken knallen, spricht eine Art bayerisches Spaß-Suaheli und wird von den Einheimischen als "King of Fulalu" begrüßt. Er hat street credibility. Nebenbei erfährt man einiges über Schmiergelder und die ökonomische Invasion der Chinesen in Afrika, über die Blauäugigkeit europäischer Entwicklungshilfe, die in dunklen Kanälen landet, über Armut, Aberglauben, Ausbeutung, Tourismus. Über die Fragwürdigkeit europäischer Migrationspolitik: Wird es Afrika wirklich helfen, wenn die Männer den Kontinent verlassen und in Europa Sozialhilfe bekommen?
Das alles ist eingebettet in großartige Landschaftsbeschreibungen und Schilderungen des afrikanischen Alltags, in Beschreibungen von Pflanzen, Bäumen, Düften, Geräuschen und Menschen. Und von afrikanischer Improvisationskunst und Apathie.
"Direkt neben der Straße hatten Händler Bettgestelle und gewaltige Sofas aufgestellt. Immer wieder passierten wir eine winzige Moschee oder einen Baum, unter dessen ausladender Krone ein Bildschirm stand. [...] In den Stuhlreihen davor zwanzig bis dreißig Männer, die Bier tranken. Dann steckten wir schon im Stau."
Jeder der beiden Männer schleppt eine tragische Frauengeschichte, eine Lebensliebe mit sich herum: "Der Tscharli" berichtet von der Kellnerin Kiki, die qualvoll an amyotropher Lateralsklerose starb. "Der Hansi" erzählt von seiner ersten Afrika-Tour mit der Literaturagentin Mara, die das Paar völlig überforderte und Hans an den Rand des Todes brachte, per Blutvergiftung. Das Ganze fand – Apokalypse Now - im tropischen Regenwald von Uganda, Burundi und Ruanda statt und streift immer wieder den Völkermord der Hutus an den Tutsi. Diese Rückblenden haben ihren Sinn, wirken aber etwas bemüht eingeschoben, nach dem Motto: Erzähl mir deine Story; die unheilvolle "Mara-Geschichte" nimmt zudem fast ein Drittel des Buches ein. In der Mitte des Romans wird es auch ein wenig viel mit all den Kneipenbesuchen, Streifzügen durch fremde Städte, durch Ruinen auf Sansibar und all den Motorradfahrten. Da ist viel Tagebuch dabei.
Gegen den Mainstream angeschrieben
Insgesamt macht das aber wenig aus, denn die fast zärtlich geschilderte seltsame Männerbeziehung trägt das Buch. Da ist auch viel faustische Wahrheitssuche in der Verkleidung des Abenteuerromans. Politycki lässt sich fast liebevoll auf afrikanische Landschaften, Märkte, Hotels, Bars und ihre Menschen ein, und das alles ist absolut präzise und uneitel geschrieben.
Polityckis Roman ist also eher nichts für Gender-Theoretiker, Feministinnen, Anhänger der politischen Korrektheit und Freunde des postmodernen Puzzles. Oder vielleicht gerade für sie. Politycki zeigt uns nämlich, wie produktiv es ist, einfach mal gegen den Mainstream anzuschreiben. Wenn man als Leser den AIDS-infizierten Tscharli im Krankenhaus von Moshi zurücklässt, am Fuß des Kilimandscharo, ist man doch ein wenig traurig, dass dieser im bayerischen O-Ton herumraunzende Rauhbauz nun die Klappe halten muss. Tscharli hätte auch der deutschen Politik einiges zu sagen. Leider wird auf ihn wohl niemand hören.
Matthias Politycki: "Das kann uns keiner nehmen"
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg. 304 Seiten, 22 Euro.
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg. 304 Seiten, 22 Euro.