"Guten Abend noch einmal. Ich freue mich, Sie wieder hier zu sehen. Bitte sagen Sie, wie geht es Ihnen?"
Viktor sucht einen Moment nach der richtigen Antwort.
"Danke, nicht so schlecht."
"Gefällt Ihnen das heutige Wetter?" – "Nein, das Wetter ist nicht fair", sagt Tatjana, die nächste in der Reihe.
"Es ist schmutzig… – Weil-Sätze, wir wiederholen Weil-Sätze."
Vor Nina Minina sitzen zwölf erwachsene Russinnen und Russen. Sie haben ihre Hefte und das Lehrbuch aufgeschlagen, "Hallo Nachbarn" steht darauf. Alle im Raum sind konzentriert – denn sie wollen Deutsch lernen.
Deutsche Zungenbrecher
Dann geht es um deutsche Städte. Dazu werden Zungenbrecher geübt:
"Der Potsdamer Postkutscher putzt den Potsdamer Postkutschkasten." Die Gruppe reagiert: "Der Potsdamer Postkutscher putzt den Potsdamer Postkutschkasten."
Dieser Beitrag ist Teil der Reportagereihe Zwischen Geschichte und Gegenwart - Die Russlanddeutschen in Westsibirien.
Der Sprachkurs ist nur eine von vielen Veranstaltungen, die regelmäßig im deutsch-russischen Haus in Omsk stattfinden. Lesekreise, Kinderbastelstunden, Diskussionsrunden etwa gehören auch zum Programm.
"Die Leute wollen das wirklich. Sie wollen ihre Geschichte, Kultur und Tradition bewahren, die Sprache lernen. Früher konnten sie das nicht, sie wussten nicht wo. Und heute reicht der Platz kaum mehr aus, jeden Tag kommen fast 150 Menschen. Jeden Tag." Das erzählt Pavel Ekkert. Der studierte Lehrer und ehemalige Dorf-Bürgermeister leitet das Kultur- und Geschäftszentrum. Das wurde 2016 eröffnet, die Idee dazu kursierte schon seit Jahrzehnten.
50.000 Russlanddeutsche in und um Omsk
Pavel Ekkert kommt selbst aus einer russlanddeutschen Familie. Und er freut sich, dass es zum ersten Mal eine zentrale Anlaufstelle gibt. In einer Gegend, die immer noch von Deutschen geprägt wird, obwohl in den 90er Jahren, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, so viele in die Bundesrepublik ausgewandert sind.
"Heute leben 50.000 Russlanddeutsche im Omsker Gebiet. 20.000 in der Stadt und 30.000 in der Region. Das ist Platz zwei nach dem Altai-Gebiet. Das heißt: Jeder vierte Russlanddeutsche wohnt in Sibirien."
Diese Entwicklung geht zurück auf Katharina II. Die russische Zarin lud Mitte des 18. Jahrhunderts Ausländer ein, sich in ihrem Reich anzusiedeln. Es kamen vor allem Deutsche. Die brachten ihre Sprache, ihre Religion, Traditionen und Bräuche mit.
Youtube-Videos über Omas Rezepte
Und: ihre Gerichte. "Wir erzählen über verschiedene Gerichte, unsere Lieblingsgerichte oder traditionelle russlanddeutsche Gerichte."
Irina Ekkert, die Tochter von Pavel Ekkert, sitzt in der Teeküche des deutsch-russischen Hauses. Auf ihrem Smartphone zeigt sie ein Youtube-Video, in dem sie an ihrem Herd steht und kocht. Alle paar Tage veröffentlicht sie einen kurzen Film und stellt Rezepte vor, die mit ihrer russlanddeutschen Familiengeschichte zu tun haben.
"Suppe, Riwwelkuchen, Strudel, Gebäck und so weiter und so fort… lecker wie bei Oma."
Von der kommen viele Rezepte. Irina Ekkerts Biografie steht exemplarisch für die vieler Russlanddeutscher hier. Die Sprache hat sie unter anderem zu Hause gelernt, ihre Mutter beherrscht den Dialekt von früher noch etwas, ihr Vater hingegen kann kaum Deutsch. Im Alltag spricht sie Russisch, sie hat einen russischen Pass – aber die deutsche Kultur und die Familiengeschichte sind ihr wichtig.
"In jedem Leben gibt es weiße Flecken. Und in jeder Familie. Alle wollen wissen, woher kommen wir, wie sind wir hierhergekommen, um das der nächsten Generation weitergeben zu können."
Das ist ein Grund für den Erfolg des deutsch-russischen Hauses in Omsk, glaubt Pavel Ekkert. Ein anderer: Alle Angebote sind kostenlos.
"Das Geld für die Kurse hier kommt aus Deutschland, aus dem Innenministerium. Wissen Sie, es kommt alles wieder zurück. Wenn Hitler damals nicht angegriffen hätte, hätten wir nicht so gelitten und man müsste uns nicht so stark helfen und unterstützen."
Das historische Trauma der Russlanddeutschen
Das historische Trauma sitzt immer noch hörbar tief. Als Deutschland 1941 die Sowjetunion überfiel, wurden die im Land lebenden Deutschen pauschal als Spione und Saboteure betrachtet. Etwa 900.000 von ihnen wurden [*] nach Sibirien und Kasachstan deportiert, Hunderttausende wurden danach in Arbeitslager gebracht, viele starben dort. Auch Pavel Ekkerts Großväter.
Die Bundesrepublik fühlt sich den Russlanddeutschen deswegen bis heute verpflichtet. Die Kosten für die Renovierung der zwei Büroetagen etwa hat Berlin übernommen, mehrere hunderttausend Euro. Die russische Seite stellt die Räume 45 Jahre kostenlos zur Verfügung. Beim Thema Russlanddeutsche funktioniert die Zusammenarbeit beider Länder gut, findet Pavel Ekkert.
"Ich habe hier eine eher philosophische Collage gemacht. Es geht darum, dass wir viele Sachen immer auf morgen verschieben", erzählt Katharina, die regelmäßig an Kursen im deutsch-russischen Haus in Omsk teilnimmt. Vor ihr auf dem Tisch liegen deutsche Zeitschriften, bedächtig sucht sie nach Wörtern, schneidet sie aus und klebt sie auf eine Pappe. Im Hintergrund läuft Pink Floyd.
"Wir haben hier nach der Vorlage von Herta Müller Collagen gebastelt. Ich habe kurz die Herta Müller vorgestellt und die Collagen, die sie macht. Und sie hat einmal gesagt, dass die Collage der intensivste Kontakt mit Sprache ist, weil man jedes Wort einzeln anfassen muss."
"Schreiben mit Scheren" heißt der Kurs, den Magdalena Sturm anbietet. Sie arbeitet seit einigen Jahren in Omsk als Kulturvermittlerin, entsandt vom deutschen "Institut für Auslandsbeziehungen".
Rückkehr der Russlanddeutschen nach Russland?
Für Pavel Ekkert, den Leiter des deutsch-russischen Hauses, sind das alles Schritte in die richtige Richtung, Sprachkurse, Internet-Kochvideos, Collagen basteln. Er wünscht sich aber noch mehr:
"Ich wäre auch froh, wenn unsere Leute aus Deutschland wieder zurückkehren würden. Und wenn eure Leute auch kommen würden, um hier Firmen zu gründen. Warum sind Deutsche 250 Jahre lang nach Russland gekommen und jetzt nicht mehr? Es gibt genug Platz, kein Land ist größer als Russland."
[*] Hinweis der Redaktion: Es wurden circa 900.000 Deutsche aus verschiedenen Gebieten der Sowjetunion deportiert und nicht nur aus der Wolgaregion, wie ursprünglich an dieser Stelle geschrieben. Den Fehler im Text sowie in der Audiofassung haben wir korrigiert.