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Vor 100 Jahren uraufgeführt
Als Arthur Schnitzlers "Reigen" in die Theaterwelt einschlug

Mit dem Stück "Reigen" löste der Wiener Dramatiker Arthur Schnitzler einen der größten Theaterskandale des 20. Jahrhunderts aus. Es geht darin ausnahmslos um Sex. Am 23. Dezember 1920 kommt das überall verbotene Stück in Berlin erstmals auf eine Bühne und entfacht einen Kulturkampf.

Von Helmut Böttiger |
    Ein schwarzweißes Filmstill aus Max Ophuels' Film "Der Reigen" (La Ronde) von 1950 zeigt eine Szene mit Gerard Philippe und Simone Signoret, ihn in Uniform stehend dieauf dem Bett liegende schmachtend anblickend
    Arthur Schnitzlers " Reigen" hier in der Verfilmung von Max Ophuels mit Gérard Philippe und Simone Signoret (picture-alliance / akg-images)
    Der große Berliner Regisseur Max Reinhardt hat Blut geleckt. 1919, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Aufhebung der Zensur, wittert er die Chance. Er möchte Arthur Schnitzlers skandalumwobenes Theaterstück "Reigen", das überall verboten ist, endlich auf die Bühne bringen. Schnitzler hat im Jahr 1900 das Stück für seine Freunde in einer Auflage von 200 Exemplaren privat drucken lassen, und als drei Jahre später eine reguläre Buchausgabe erschien, gab es gleich die ersten wütenden Attacken: "Reigen", so hieß es in der Presse, sei "nichts als eine Schweinerei".

    Staffellauf der Sexualpartner

    Es geht tatsächlich ganz explizit um Sex. In zehn Dialogen lösen sich in einem Reigen die Sexualpartner ab. Eine Dirne schnappt sich einen Soldaten, der Soldat verführt das Stubenmädchen, das Stubenmädchen den jungen Herrn ihres Haushalts, der junge Herr hat ein Stelldichein mit einer verheirateten Frau, die ein paar Stunden später wiederum mit ihrem Gatten das eheliche Schlafzimmer nutzt:
    "Was soll ich dir erzählen?"
    "Nun, wem bist du in diesem Moment untreu?"
    "Ich bin es ja leider noch nicht."
    "Nun tröste dich, ich betrüge auch jemanden."

    Auf der Suche nach dem Unbewussten

    Schnitzler ist ein Zeitgenosse Sigmund Freuds und gleichzeitig mit dem Erfinder der Psychoanalyse macht auch er sich in Wien auf die Suche nach dem Unbewussten. Vor allem die Sexualität wird von der herrschenden Moral ausgeklammert. Der Autor analysiert Verlangen und Überdruss, Sehnsucht und Enttäuschung, soziale Codes und Abhängigkeiten. Und wie nebenbei kreiert er auch den Typus des "süßen Mädels aus der Vorstadt" als Symbol für die schlüpfrigen Verkehrsformen in Wien.
    "Ich hab‘ glaubt, Robert, du bist ein Doktor."
    "Wieso? Ich hab‘ dir doch gesagt, dass ich ein Schriftsteller bin."
    "Die Schriftsteller sind doch alle Dokters."

    Wie die "unzüchtige Schrift" noch auf die Bühne kam

    Die Uraufführung in Berlin ist hart umkämpft. Max Reinhardt übergibt die Rechte der Direktorin des Kleinen Schauspielhauses, der berühmten Schauspielerin Gertrud Eysoldt. Kurz vor der Premiere am 23. Dezember 1920 erwirkt die Hochschule für Musik, bei der sich das Theater eingemietet hat, eine einstweilige Verfügung zum Verbot der Aufführung. Man beruft sich auf das Landgericht, das den "Reigen" als eine "unzüchtige Schrift" bezeichnet. Gertrud Eysoldt aber tritt vor den Vorhang und sagt, dass nichts sie daran hindern könne, für die Freiheit der Kunst einzutreten. Die Premiere findet statt.
    Gertrud Eysoldt - Die erste Feministin des deutschen Theaters
    An der Seite von Max Reinhardt spielte sich die am 30. November 1870 geborene Gertrud Eysoldt zur bedeutendsten Charakterdarstellerin der deutschen Bühne um 1900 empor. Zugleich gilt sie als erste Feministin des deutschen Theaters – und als eine der aufregendsten Femmes fatales ihrer Zeit.
    Die Kritiken sind, mit Ausnahme der rechtsradikalen Zeitungen, auffallend positiv. Und am 3. Januar 1921 wird das Aufführungsverbot auch zurückgenommen. In Berlin bricht darauf ein wahrer Kulturkampf los, ein hoher Polizeibeamter hetzt mit großem Aufwand gegen das Stück, doch der Siegeszug des "Reigen" ist nicht aufzuhalten. Überall spielen die Theater das Stück nach, auch in Wien findet am 1. Februar 1921 endlich die Premiere statt. Sofort bläst die "Reichspost", das Organ der regierenden Christlich-Sozialen Partei, zum Angriff:
    "Wir verlangen von den Behörden, die uns ja auch vor dem Umsichgreifen einer Pest zu behüten die Pflicht haben, dass sie dieser volksvergiftenden Schmach sofort ein Ende bereiten."

    "Ah, was machen S‘ denn?"

    Das Stück wird heftig weitergespielt, doch der Autor Arthur Schnitzler sieht seine Absicht verfehlt. Er ist von der ganzen Skandalisierung entnervt und untersagt alle weiteren Aufführungen. Im Radio allerdings wird dieses Verbot listig umgangen, indem man das Stück als Hörspiel sendet. In einer Plattenaufnahme von 1966 etwa spricht Helmut Qualtinger den Soldaten, und er intoniert gern den schmierigen Wiener Slang.
    "Oh, du Schatzerl!"
    "Ah, was machen S' denn? Wenn ich das gewusst hätt'!"
    "Also der Teufel soll mich holen, wenn eine heut beim Swoboda mollerter gewesen ist als Sie, Fräul’n Marie."
    "Haben S' denn bei allen so probiert?"
    "Was mer so merkt, beim Tanzen. Da merkt man gar viel!"
    Zeitgenössisches Porträt von Arthur Schnitzler.
    "Ich bin ein Dichter für Schwindelfreie"
    Wie kein Zweiter steht Arthur Schnitzler (1862 – 1931) für die Literatur des Wiener Fin de Siècle. Der Arzt und Schriftsteller diagnostizierte die Alpträume seiner Generation: ihre enttäuschten Liebeswünsche, das Ungleichgewicht in den Beziehungen zwischen Mann und Frau, die Lebensangst und die verzweifelte Suche nach einem Sinn.

    Erst fünfzig Jahre nach Schnitzlers Tod wird der "Reigen" 1982 auch für das Theater wieder freigegeben. Es ist ein zeitloses Stück über gesellschaftliche Normen, dessen Problematik seit jeher nicht im Text, sondern beim Publikum liegt.