EU-Wahlrechtsreform
Spitzenkandidaten-Prinzip und eine Prozent-Hürde

Mehr Einfluss auf das EU-Spitzenpersonal, länderübergreifende Wahllisten und eine Sperrklausel – der Gesetzesvorschlag des EU-Parlaments zur Reform des Europawahlrechts nimmt Punkte aus der EU-Zukunftskonferenz auf. Doch er provoziert auch Kritik. Ein Überblick.

    Logo des Europäischen Parlament an dessen Fassade in Brüssel
    Logo des Europäischen Parlament an dessen Fassade in Brüssel (dpa / Daniel Kalker)
    Mehr Demokratie in der Europäischen Union - das ist das Ziel einer Gesetzesinitiative des EU-Parlaments, die auf eine grundlegende Reform der Europawahlen abzielt. 323 Abgeordnete stimmten am 3. Mai in Straßburg für einen entsprechenden Vorschlag, 262 dagegen, 48 enthielten sich.
    Herzstück der Reform ist die Einführung einer Zweitstimme und länderübergreifender Wahllisten, aus deren Reihen später die Spitzenämter der EU-Kommission besetzt werden sollen. Die anvisierte Stärkung des Spitzenkandidaten-Prinzips dürfte in einigen Mitgliedsländern auf Widerstand stoßen. Dagegen regt sich gegen die geplante Einführung einer 3,5-Prozenthürde bereits jetzt deutliche Kritik.

    Zweitstimme und transnationale Wahllisten

    Nach dem Vorschlag des Europaparlaments bekämen Bürgerinnen und Bürger bei künftigen Europawahlen eine zweite Stimme. Damit sollen sie die Möglichkeit erhalten, zusätzlich zu den nationalen Kandidaten in den Wahlkreisen ihrer Mitgliedsstaaten auch transnationale, unionsweite Listen von politischen Bündnissen oder Parteien zu wählen. Über diese Listen sollen zusätzlich zu den bisherigen 705 Parlamentssitzen weitere 28 Mandate vergeben werden. Zudem sollen aus den Listen-Kandidaten die EU-Kommissare besetzt werden – Kommissionspräsident würde am Ende der Spitzenkandidat einer Liste, der europaweit die meisten Stimmen erhalten hat.
    Ziel ist es, dass Spitzenkandidaten-Prinzip bei der Europawahl zu stärken und zu verhindern, dass bei der Besetzung der Kommisionspräsidentschaft erneut die Kandidaten der Parteibündnisse nicht berücksichtig werden, wie nach der vergangenen Wahl 2019 geschehen. Angestrebt wird außerdem eine möglichst geschlechterparitätische Besetzung von Parlamentssitzen und Ämtern - durch abwechselnd weibliche und männliche Kandidaten auf den Listen oder entsprechende Quoten. Auch die Rechte nicht-binärer Personen sollen dabei berücksichtigt werden. Derzeit sind nur 39 Prozent der Europaabgeordneten weiblich, einige Mitgliedsländer sind nur mit Parlamentariern vertreten. 
    Die Einführung eines Zwei-Stimmen-Systems mit unionsweiten Listen könnte die Demokratisierung der Europäischen Union wesentlich voranbringen, in dieser Einschätzung sind sich alle im EU-Parlament vertretenen deutschen Parteien einig. Die Zweitstimme sei ein „Schritt in die richtige Richtung, nämlich in die der parlamentarischen Demokratie“, sagte Damian Boeselager, Abgeordneten der Volt-Partei, im Dlf.  SPD-Politikerin Gabi Bischoff, stellvertretende Vorsitzende der S&D-Fraktion im Europaparlament, verwies darauf, dass man mit der Idee transnationaler Listen einen Vorschlag des EU-Bürgerdialogs für mehr Demokratie in Europa aufgegriffen habe.
    Auf Ebene des EU-Ministerrats, in dem die Mitgliedsstaaten einer Wahlrechtsreform einstimmig zustimmen müssten, dürfte die Zweitstimme für eine europaweite Wahlliste und das damit verbundene Spitzenkandidaten-Prinzip allerdings zum Hauptdiskussionspunkt werden. Widerstand droht unter anderem von Ungarn, deren rechtspopulistischer Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orban wenig an einer weiteren Demokratisierung der Union gelegen ist. Aber auch Frankreichs wiedergewählter Präsident Emmanuelle Macron könnte sich als starker Bremser erweisen – zumindest was das Spitzenkandidaten-Prinzip betrifft, gegen das er sich nach der vergangenen Wahl 2019 mit am stärksten gewehrt hatte. Andererseits gilt Macron als Befürworter transnationaler Listen, was einen Kompromiss ermöglichen sollte, wie Parlamentarierin Bischoff hofft: „Denn am Ende braucht man sowohl im Parlament wie auch im Rat immer Mehrheiten.“

    3,5-Prozenthürde in den bevölkerungsreichsten EU-Staaten

    Der Gesetzesvorschlag des EU-Parlaments zu einer europäischen Wahlrechtsreform sieht zudem die Einführung einer Sperrklausel für EU-Staaten vor, die aufgrund ihrer Größe und Bevölkerungszahl mehr als 60 Sitze im EU-Parlament stellen. In diesen Ländern sollen Parteien künftig mindestens 3,5 Prozent der Stimmen benötigen, um ins Parlament in Straßburg einzuziehen. De facto würde sich aber nur etwas für Deutschland ändern: In den anderen beiden betroffenen Ländern - Frankreich und Italien - gibt es bereits eine Prozenthürde.
    Auf die einheitliche Einführung einer Sperrklausel drängten vor allem die großen Fraktionen der Sozialisten und Konservativen. Die Vertreter der kleineren deutschen Parteien - Freie Wähler, Volt, die Satirepartei Die Partei oder die Ökologisch Demokratische Partei (ÖDP) – sind strikt dagegen. Ihnen droht mit der Einführung einer 3,5-Prozenthürde der Verlust ihrer Mandate. Bei der vergangenen Wahl 2019 reichten diesen Parteien zwischen 0,7 und 1 Prozent für einen Sitz im EU-Parlament - etwa Volt bereits 250.000 Stimmen.
    Kritik an der geplanten Sperrklausel kommt auch aus Reihen der Grünen und der Linken. Er wolle, dass auch die Ausgeschlossenen, die Enttäuschten und kritische Stimmen besser beteiligt würden, sagte etwa Linken-Politiker Helmut Scholz. Der Grünen-Europaabgeordnete Rasmus Andresen warf CDU und CSU vor, sich für die Sperrklausel eingesetzt zu haben, "um Kleinparteien wie Volt oder die Piraten aus dem politischen Diskurs rauszuhalten".
    Für den Europaabgeordnete Patrick Beyer von der Piratenpartei sind Sperrklauseln der Versuch des politischen Establishments, sich politische Konkurrenz vom Leib zu halten. Er bezeichnete die geplante Einführung einer 3,5-Prozent-Hürde als „einen ganz klaren Affront gegen das Bundesverfassungsgericht“. Die Richter in Karlsruhe hatten 2011 und 2014 eine solche Sperrklausel in Deutschland für die EU-Wahlen gekippt. Sie hatten damals geurteilt, dass diese gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien verstoße und damit verfassungswidrig sei. Mit dem Weg über die EU-Ebene würde der Einflussbereich des Bundesverfassungsgerichts umgangen, denn EU-Recht hat Vorrang vor nationalem Recht.
    Eine neuerliche Klage vor dem Bundesverfassungsgericht hätte damit wenig Aussicht auf Erfolg. „Die vorherigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bezogen sich auf ein Bundesgesetz, nämlich das Europagesetz und seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz“, erläuterte Mathias Ruffert, Professor für Europarecht an der Humboldt Universität zu Berlin, im Dlf. Bei einer europarechtlichen Regelung könnten die Richter in Karlsruhe nur noch auf eine Verletzung der deutschen Verfassungsidentität prüfen. Sperrklauseln bei Wahlen seien jedoch eher verfassungskonform. Schließlich gelten sie in Deutschland sowohl für Bundes- als auch für Landtagswahlen.
    Befürworter der 3,5-Prozent-Hürde argumentieren, diese sichere stabile Mehrheiten und damit letztlich das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie. „Wir haben im europäischen Parlament aktuell über 200 Parteien bei 705 Abgeordneten. Sperrklauseln braucht es für stabile Mehrheiten in jedem vollwertigen Parlament für die Funktionsfähigkeit des Parlaments. Und das europäische Parlament sollte da nicht anders behandelt werden als Landtage oder der Bundestag“, so der CDU-Europaabgeordnete Sven Simon im Dlf.
    Tatsächlich kann ein allzu fragmentiertes Parlament die Demokratie lähmen oder sogar gefährden. Tatsache ist aber auch: Kommt die umstrittene 3,5-Prozent-Hürde, sichern sich große Parteien Sitze zulasten der kleinen – und damit zulasten der Repräsentation demokratischer Vielfalt. Zwar soll es Ausnahmeregel für Parteien geben, die in mindestens sieben EU-Ländern unter dem gleichen Namen antreten, dennoch müssen sie EU-weit mindestens eine Million Stimmen bekommen. Eine Hürde, die für Parteien wie Volt oder ÖDP, unüberwindbar sein dürfte. Beyer von den Piraten betont: Nicht einmal seine Partei, die derzeit mit vier Abgeordneten im EU-Parlament vertreten sei, erreichte die Voraussetzungen annähernd.

    Einheitlicher Wahltag und Absenkung des Wahlalters

    Weit weniger problematisch dürften weitere Vorschläge sein: Unter anderem schlagen die EU-Parlamentarier vor, das der Wahlalter europaweit auf 16 Jahre abzusenken. Harmonisiert werden sollen auch das passive Wahlrecht ab 18 und die Möglichkeit der Briefwahl. Für alle Wahlberechtigten, auch solche mit Behinderungen, will die Reform eine Teilnahme an den Abstimmungen gewährleisten.
    Zudem sollen Europawahlen künftig in allen EU-Staaten gleichzeitig stattfinden und zwar jeweils am 9. Mai, der Tag könnte dann von den einzelnen Ländern zum Feiertag erklärt werden. Am 9. Mai, dem Europatag, hatte der französische Außenminister Robert Schuman 1950 die Produktionsgemeinschaft Kohle und Stahl vorgeschlagen, aus der sich die Europäische Gemeinschaft entwickelte, der Vorläufer der EU.

    Große Hürden für die Reformen

    Damit die vorgeschlagene EU-Wahlrechtsreform umgesetzt werden kann, muss sie im Rat der Europäische Union von allen 27 Mitgliedern einstimmig angenommen werden. Um Einstimmigkeit herzustellen, dürften zahlreiche Kompromisse nötig werden. Widerstand an einer stärkeren Demokratisierung dürften vor allem aus Länder wie Ungarn und Polen kommen. Aber auch aus nördlichen EU-Ländern soll es Vorbehalte geben. Auch von grundsätzlich EU-freundlichen Ländern wie etwa Frankreich dürfte weiter Widerstand gegen das Spitzenkandidatenprinzip zu erwarten sein.
    Reformbefürworter hoffen auf Unterstützung durch die gerade zu Ende gegangene Konferenz zur Zukunft Europas. In diesem Rahmen von Bürgerinnen und Bürger gemachte Vorschläge zum europäischen Wahlrecht gehen noch über die Pläne des EU-Parlaments hinaus. Ob eine Wahlrechtsreform schon vor der nächsten Europawahl - voraussichtlich 2024 - in Kraft tritt, erscheint indes eher unwahrscheinlich. Schließlich müssen dafür nach der wohl schwierigen Einigung im Ministerrat, zunächst die nationalen Parlamente der EU-Staaten das neue EU-Recht ratifizieren, bevor abschließend das EU-Parlament dem ratifizierten Entwurf des Ministerrat final zustimmen kann.
    Quelle: dlf, dpa, afp, Wulf Wilde