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1.000 Folgen "Tatort"
Deutsche Träume, deutsche Albträume

An diesem Sonntag flimmert der 1.000 "Tatort" über den Bildschirm. Er heißt "Taxi nach Leipzig", so wie die erste Folge von 1970. Die älteste deutsche Krimireihe ist mit fast zehn Millionen Zuschauern wöchentlich zugleich die erfolgreichste. Und das, obwohl der "Tatort" in den letzten Jahren immer experimenteller wird.

Von Eric Leimann | 11.11.2016
    Der 1000. Tatort: Kommissarin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) steigt nach einer Polizei-Tagung mit ihren Kieler Kollegen Klaus Borowski (Axel Milberg) in ein Taxi, dessen Fahrer Rainald Klaproth (Florian Bartholomäi) eigentlich gar keine Gäste mitnehmen wollte
    Gefesselte Geiseln auf der Autorückbank: Kommissarin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) und ihr Kieler Kollege Klaus Borowski (Axel Milberg). Das Taxi lenkt Rainald Klaproth (Florian Bartholomäi). (Bild: ARD/NDR/Meyerbroeker)
    Filmausschnitt "Tatort: Taxi nach Leipzig: "Alles hier beruhigt mich. Der Wagen, die Lichter, der Geruch. Alles sagt: Das ist ein ganz normaler Tag für dich. Und dieser Tag kann dir nichts anhaben, den schaffst du, auch wenn Nicky heute Geburtstag hat."
    Der Tag kann ihm, dem Taxifahrer aus "Taxi nach Leipzig", gespielt Florian Bartholomäi, und dem Zuschauer, natürlich doch etwas anhaben. Sonst wäre es schließlich kein "Tatort". Der Fahrer, ein traumatisierter Afghanistan-Soldat, will die Hochzeit seiner Ex-Freundin verhindern und droht auf dem Weg nach Leipzig alle zu töten, die sich ihm in den Weg stellen. Auch die zwei "Tatort"-Kommissare, die sich im Taxi des Psychopathen kennenlernen.
    Filmausschnitt: Charlotte Lindholm: "Sie haben doch sicher nichts dagegen, wenn ich mitfahre bis zum Bahnhof, oder?" Klaus Borowski: "Wenn man so nett fragt."
    Spannender, experimenteller Thriller mit Grusel-Elementen
    Die Ermittler Charlotte Lindholm und Klaus Borowski - Maria Furtwängler und Axel Milberg - sitzen in diesem 1.000. Tatort als gefesselte Geiseln auf der Autorückbank. Es ist ein spannender, experimenteller Thriller mit Grusel-Elementen: Zwei Drittel des Films spielen im klaustrophobischen Innenraum des Taxis. Dazu werden die Gedanken der Insassen für den Zuschauer hörbar gemacht. Das ist außergewöhnlich und geht an die Nerven. Hier und da ist "Taxi nach Leipzig" aber ein wenig zu manieriert, als dass es ein herausragender Film der erfolgreichen Reihe wäre. Ein Erfolg, der anscheinend nach gewissen Regeln funktioniert: Das 46 Jahre alte TV-Fossil "Tatort" wird immer experimentierfreudiger – für Maria Furtwängler kein Widerspruch zum Mainstream-Gedanken, für den der Sonntagabend-Krimi ja auch steht:
    "Ich denke, es löst sich ganz klar über den Erfolg auf. Das ist der Schlüssel sozusagen zu dieser Experimentierfreudigkeit. Diese schier eingebaute Quote, fast Quotengarantie! Und das lässt einfach die Sender-Verantwortlichen, "Tatort"-Verantwortlichen mutig werden. Und viel mutiger als sie es - leider - für viele andere Programme sind."
    So lautet die "Tatort"-Erfolgsanalyse von Maria Furtwängler. Spielpartner Axel Milberg erkennt ein weiteres Prinzip:
    "Erklären kann man ihn möglicherweise dadurch, dass alle, die beteiligt sind, etwas Besonderes schaffen wollen. Drei Personen in einem Auto. Nachts, alles nachts. Man steigt am frühen Abend ein und im Morgengrauen ist die Geschichte eigentlich zu Ende."
    Zuschauer gucken Tatort, weil sie nicht wissen, wie es ausgeht
    Einige der besten Folgen gehen auf das Konto des langjährigen Drehbuchautors und Regisseurs Alexander Adolph. Der Grimme-Preisträger aus München gilt als anspruchsvoller Filmemacher, nicht unbedingt als Mann des Massengeschmacks. Trotzdem durfte er die 1.000. Folge schreiben und inszenieren. Seine Erklärung für den "Tatort"-Erfolg ist fast schon tiefenpsychologischer Natur.
    "Zum einen ist es ein gewachsenes Format: Wo ich am Sonntagabend gemeinsam mit meiner Familie eine Familie im Fernsehen sehe - und ich betrachte Ermittler auch als eine Form von Familie. Und diese Familie löst ein Problem und ich kann mir sicher sein, dass das Problem gelöst wird und dass die Familie am Ende bestehen bleibt. Das ist ein unglaublich tröstliches Versprechen."
    In der sehr empfehlenswerten Dokumentation "Sonntagsmörder", die im Anschluss an den 1.000. Tatorts ausgestrahlt wird, wollen die Macher selber dem Erfolgsgeheimnis auf die Spur kommen. Die erfahrenen Ermittler-Darsteller Udo Wachtveitl und Ulrike Folkerts liefern die vielleicht klügste Analyse für die "Tatort"-Hörigkeit der Deutschen.
    Udo Wachtveitl: "Der "Tatort" ist eigentlich ein gutes Symbol, in welcher Weltanschauung, in welcher westlichen Weltanschauung wir uns so am besten zu Hause fühlen: Die Welt ist nicht magisch. Sie ist nicht mystisch."
    Ulrike Folkerts: "Sie ist nicht schwarz und weiß."
    Udo Wachtveitl: "Sie ist nicht schwarz und weiß, sondern wir nehmen das Verbrechen, wir nehmen die schlimmen Sachen auf und verarbeiten sie in einem logisch, rationalen Vorgang. Und versuchen die Welt wieder zu kitten."
    Alle Erklärungen für den Erfolg des "Tatorts" mögen stimmen, doch eine fehlt. Die Leute gucken den Krimi auch aus den Gründen, aus denen sie zum Fußball gehen: Weil sie nicht wissen, wie es ausgeht.