Helferin Mirjam Trieb streift einem Besucher im Zelt vorm Wormser Dom die VR-Brille über:
"Jetzt kriegen Sie noch die Kopfhörer aufgesetzt. Und wenn es nicht scharf ist, ein bisschen an der Brille wackeln."
"Ja, passt."
"Und jetzt können Sie anfangen, geradeaus zu laufen."
"Holla!"
"Ja, passt."
"Und jetzt können Sie anfangen, geradeaus zu laufen."
"Holla!"
Hubert Brutzke tastet sich vorsichtig über einen schmalen Teppichstreifen auf Holzboden voran. Begrenzt wird der an beiden Enden durch eine Art Beichtstuhl-Barriere, mit pinkfarbenem Samtkissen in Hüfthöhe. Brutzke ist geübt im PC-Spielen und arbeitet auch mit Virtual-Reality-Technik, doch wie schlagartig die VR-Brille den Teppichstreifen in ein schmales Brett 50 Meter hoch über der Stadt verwandelt und wie echt sich das Balancieren zwischen den romanischen Türmen des Ostchores anfühlt, das verschlägt ihm die Sprache. Zur perfekten Illusion tragen das Vogelgezwitscher aus den Kopfhörern bei und das Lüftchen aus dem Ventilator, das dem Balancierenden wie ein lauer Höhenwind entgegen weht.
Brutzke hat die eine Barriere erreicht. Die beiden Helferinnen dirigieren ihn.
"Genau, jetzt können Sie wieder zurücklaufen in die andere Richtung. Sind noch zwei Meter. Können Sie sich noch mal umgucken, umdrehen."
Brutzke schaut, ohne Worte.
"Okay, dann nehmen wir Ihnen die Brille ab", sagt Mirjam Trieb. Brutzke: "Okay, sehr schön. Ich kenn' das aus dem Büro, da haben wir aber das Problem, dass wir einen Joystick haben und eine Brille aufhaben. Und dann hat man das Problem, dass die Bewegung, die man sieht, nicht übersetzt wird in den Körper, hier ist es insofern einfacher, man läuft wirklich."
Dabei wird jede Kopf- und Körperbewegung über die VR-Brille erfasst und vom PC berechnet wieder eingespeist. Das zieht Besucher sofort komplett in die Illusion des Balancierens hinein. Brutzkes Partnerin winkt ab: Die Bodenhaftung zu verlieren – nichts für sie.
"Ach, eigentlich nicht – nee!"
Das Motto des Domjubiläums ist "Aufgeschlossen"
Torsten Hemke, Vitual-Reality-Künstler und Ideengeber, schaltet sich ein, zeigt zu den Flanken-Türmen.
"Wir wollen da oben, schauen Sie mal hoch, da wollen wir jetzt langlaufen."
Also, Brille auf, wackeln zum Scharfstellen. Die Knie waren eben noch fest, jetzt weich. Will ich wirklich? Ein vorsichtiger Schritt, die Stimme kippt, als sich der Teppichstreifen in ein Brett auf Höhe des Turmhelms verwandelt.
"Das ist keinen Meter breit."
"Nee, 50 Zentimeter", sagt Trieb.
"Ohne Geländer."
"Achtung!"
"Ah, ich bin schon da. Okay, hier kann ich mich festhalten, das ist super angenehm. Der Himmel über Worms ist ganz blau, man sieht die Stadt mit Häusern, Bäumen, den anderen Kirchen zu allen Seiten. Wenn man nicht schwindelfrei ist, sollte man vielleicht nicht zu lange unter sich gucken, denn dann kriegt man einen ganz flauen Magen. Die Herausforderung ist jetzt, sich umzudrehen. Ich mach' das jetzt mal."
"Noch ein Stück nach vorn!"
"Nee, 50 Zentimeter", sagt Trieb.
"Ohne Geländer."
"Achtung!"
"Ah, ich bin schon da. Okay, hier kann ich mich festhalten, das ist super angenehm. Der Himmel über Worms ist ganz blau, man sieht die Stadt mit Häusern, Bäumen, den anderen Kirchen zu allen Seiten. Wenn man nicht schwindelfrei ist, sollte man vielleicht nicht zu lange unter sich gucken, denn dann kriegt man einen ganz flauen Magen. Die Herausforderung ist jetzt, sich umzudrehen. Ich mach' das jetzt mal."
"Noch ein Stück nach vorn!"
Die Augen von dem einen Turmhelm und die Hände von der Samtkissen-Barriere zu lösen, widerstrebt mir, aber der weite Blick ins Rheintal zur anderen Seite zieht mich in den Bann.
"Das oben das hat eine Weite, das öffnet den Horizont", schwärmt der Wormser Dompropst. Tobias Schäfer hat das Projekt des Bistums Mainz auch schon getestet.
"Das ist ja auch etwas, wo man schön eine Brücke zum Glauben schlagen kann und zu dem, wofür wir als Kirche stehen: dass einem der Glaube an Gott eine Weite gibt, eine Freiheit gibt. Und das wird hier auf eine eigene Art erlebbar, das finde ich toll."
Technik im Dienst der Transzendenz? Schäfer nickt.
"Also, das Motto des Domjubiläums heißt 'Aufgeschlossen'. Wir wollen deutlich machen, dass wir für die Menschen da sind, für die Menschen aufgeschlossen sind. Mit dieser Spielerei wird das auf ganz eigene Weise noch mal erfahrbar gemacht."
Modell errechnet auf Basis von Drohnen-Fotos
Die von Torsten Hemke ausgeheckte "Spielerei" basiert auf Drohnen-Fotos. Das Frankfurter Institut für Neue Medien half, diese Aufnahmen mit weiteren Messdaten zur perfekt realistischen Täuschung einschließlich echter Schatten und Lichtverhältnisse zu komponieren. Die VR-Illusion macht die Flankentürme des tausend Jahre alten romanischen Gotteshauses barrierefrei zugänglich, hebt Tobias Schäfer hervor.
"Das ist auch eine Technik, mit der man zum Beispiel Höhenangst bearbeiten kann. Man kann konkret Menschen helfen, und das ist ja noch ein ganz netter Aspekt dabei."
Soeben balanciert wieder jemand zwischen den Türmen. Komplett angstfrei entziffert er in luftiger Höhe die Uhrzeit von einem anderen Kirchturm.
"Wir haben kurz vor zwölf, ich schätze zwei oder eine Minute vor zwölfe."
Kai, ein Zehnjähriger aus der Pfalz. Der Wagemutigste von allen.