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10:9 für Stroh

Die Behauptung, das Leben schreibe Geschichten, ist bekanntlich gelogen. Sie ist der ebenso häufige wie aussichtslose Versuch, der Kolportage eines einzuhauchen. Daß im Leben Geschichten passieren, ist dennoch nicht zu leugnen. Eckhard Henscheid hat drei von ihnen aufgenommen und sie einer Bearbeitung unterzogen. Geschichte Nr.3 zum Beispiel nimmt eine Odyssee des Dichters Wolfgang Hildesheimer durch die Alpen zum Anlaß einer Erzählung, in der die Fortbewegung nur mühsam und mit Rückschlägen die Oberhand über den Stillstand gewinnt. Sie sollte in keiner künftigen Reise-Anthologie fehlen. Mehr öffentliche Aufmerksamkeit hat bisher die erste und titelgebende Geschichte gefunden, der nachgetragene Bericht über ein Rigorosum an einer deutschen Reformuniversität. Auch hier sind die Figuren aus dem Leben gegriffen. Eckard Henscheid dazu: "Dem Titelhelden Stroh, der im Buch eine eher unsympathische Figur ist, stehe ich in Wirklichkeit, weil ich ihn zu wenig kenne, neutral gegenüber. Sein Gegenspieler Greif, der im Buch doch überwiegend oder zumindest partiell unsympathische Züge hat, hat sie in Wirklichkeit kaum. Die unsympathischen Züge sind sehr aufgeblasen. Mit dem bin ich befreundet, den schätze ich sehr als Autor, als Kritiker und auch als Freund. Das stellt natürlich manchmal auch gute und bedachte Freundschaften auf die Probe, diese Art von Literarisierung. Mir würde umgekehrt auch nicht jede Form gefallen, in der sich jemand über mich als literarische Figur ausläßt. Er muß es entweder freundlich tun oder dann schon sehr gut. Auch wenn ich sehr unsympathisch oder gebrestenhaft daherkomme, damit ich's trotzdem gut finde, muß es schon sehr viel Technik und Können bieten. Der Mensch ist da etwas empfindlich."

Joachim Büthe |
    An Technik und Können mangelt es dieser Geschichte keineswegs. Wie in ihr die Sprödigkeit der geisteswissenschaftlichen Materie einerseits erfahrbar und andererseits, kurz bevor sie den Leser zu langweilen beginnt, durch die Musikalität der Henscheidschen Sprache gebrochen wird, das ist nur einer der Kunstgriffe, die es Greif, der in Wirklichkeit Gustav Seibt heißt, erleichtern wird, seine partielle Verzeichnung zu verschmerzen. Zumal der Erzähler ja auch nicht ungebrochen gut wegkommt. In der Wiedergabe der geisteswissenschaftlichen Auseinandersetzung mischen sich fraglos Nachprüfbares mit offenbar falsch Verstandenem und absichtsvoll Getürktem. "Ich habe da versucht, aus der Not eine Tugend zu machen", so Henscheid. "Wo ich selber die neuesten geisteswissenschaftlichen Moden, um die es ja auch geht, nicht mehr so kenne, habe ich den Erzähler als so einen Halb-Dummi gestaltet, der das ja auch ausreichend oft mitteilt. Wobei natürlich der phantastische Charakter des Ganzen auch dem schlampigen Leser deutlich werden müßte. Einerseits teilt er immer mit, er sei ein Naiver und Amateur, andererseits kann er ohne mitzuschreiben angeblich über hundert Seiten Zitate aufbewahren. Also von daher wird schon die etwas schwebende Wirklichkeitsebene des Ganzen erkennbar."

    Obwohl die Figuren der Erzählung ihre Pendants im richtigen Leben haben, ist dies keine Schlüsselgeschichte, denn man muß sie nicht entschlüsseln können, um sie zu genießen. Eine Wissenschaftssatire in Zeiten knapper werdender Sinn- und Planstellenressourcen ist sie schon eher, jedoch nicht nur. Sie ist auch eine ironische Verbeugung vor dem Kampfgeist ihrer Kontrahenten und nicht zuletzt vor der Gelehrsamkeit an sich. "In gewisser Weise ist das Thema die Bewunderung dessen, daß zu einer Zeit - es ist ja nicht unwichtig, wann das spielt - bei fast vierzig Grad Hitze, fünf oder zehn erwachsene Menschen, statt ins Schwimmbad zu gehen, sich so etwas Närrisches antun wie über Mittelalter-Spezialprobleme zu reden. Ich glaube, das war mir beim Schreiben am wichtigsten oder am spaßigsten zumindest. Diese etwas gegenläufige Verhaltensweise der Figuren, die ich mit einem Wort sehr lobenswert finde."

    Das ursprüngliche Ereignis, dem die Erzählung nachgebildet ist, hat im Jahr 1991 stattgefunden. Seitdem ist die ein oder andere Kontroverse ins Land gegangen, nicht ohne Beteiligung ihrer Protagonisten, und so rückt sie unter der Hand wieder näher an die Schlüsselgeschichte heran. Nicht nur der damalige Doktorkandidat, der spätere und nun schon wieder ehemalige Literaturchef der F.A.Z., Gustav Seibt, kommt in ihr vor, sondern auch sein Vorgänger in dieser Funktion und heutige Herausgeber des Blattes, Frank Schirrmacher. Zu allem Überfluß erscheint das Buch im Verlag von Alexander Fest, dessen Vater wiederum Vorgänger Schirrmachers als Herausgeber war. Letzteres sei, wie der Autor versichert, reiner Zufall. Wie dem auch sei: fast sieht es so aus, als mische sich das Leben hinterrücks in seine Literarisierung wieder ein, um die Ebenen vollends durcheinanderzubringen. Eckhard Henscheid wird solche Kapriolen eher zu goutieren wissen als die Redaktion der Frankfurter Allgemeinen. Trotz ihres enormen Ausstoßes an Literaturkritiken hat sie dieses Buch bisher nicht zur Kenntnis genommen. "Ich habe inzwischen eher die Vermutung, daß es gar nicht rezensiert werden wird, was ich schon auch überleben werde", so Henscheid. "Es hat mich aber doch überrascht, die Reaktion, wenn's denn bei der bleibt, weil ich eigentlich in den letzten zehn Jahren bei der F.A.Z. große Hochschätzung genossen habe. Es könnte aber sein, daß ein ehemaliger Literaturchef, der sich jetzt Herausgeber nennt, sich nun von seiner Rolle im Buch etwas getroffen fühlt. Es gibt ein amerikanisches Journal, Newsweek, glaube ich, daß ihn vor einigen Jahren zu einer der Führungspersönlichkeiten der westlichen Welt erklärt hat. Bei mir spielt er eher die Rolle des Chefs einer Gaunerorganisation, die irgendwelche Gelder, die eigentlich in die DDR gehen sollten, abzweigt. Das begeistert ihn, glaube ich, nicht so sehr. Da werden dann junge Leute - und er ist ja noch jung - wenig humorfähig. Es hat sich rein zufällig so ergeben, daß auch in Wirklichkeit romanhafte Vorgänge stattgefunden haben zwischen Figuren, die auch bei mir auftreten, aber unter ganz anderen Voraussetzungen. Es gäbe inzwischen schon eine kleine, wenn nicht Doktorarbeit, aber doch Seminararbeit, diese Verflechtungen zu entflechten."

    Diejenigen, die sich getroffen fühlen von einer Flinte, die am raschen Vorbeimarsch ihrer Ziele zwar durchaus interessiert, aber möglicherweise doch ganz andere im Auge hat, mögen sich Entschädigung suchen in Geschichte Nr.2, einer Krankengeschichte des Autors. In ihr fährt der Schmerz blitzschnell in den Verfasser, so daß der Leser schwankt zwischen Mitleiden und Bewunderung für des Schmerzes Variantenreichtum, der zugleich einer des Verfassers ist, auf dessen Kosten er ja geht. Er muß es erleiden, doch weiß er sich zur Wehr zu setzen. "Auch der Autor quält sich zwar noch mal, indem er zumindest einen fiktiven Tagebuchreport über seine Krankheit abliefert. Aber er macht sich ja auch lustig über sie, in vielen Formen, mehr so auf der spirituellen Ebene, als Rache quasi an seiner Krankheit. Das habe ich versucht, ein bißchen in der Schwebe zu halten. Dem Leser zu vermitteln, daß es hier um ein veritables Geschehen geht, aber daß es kein Krankheitsbericht ist, der entweder auf einer wissenschaftlichen Ebene stattfindet oder auf einer symphonisch-lamentierenden Ebene, sondern auch ein Spiel ist. Phasenweise treten das Schmerz-Ich und das schreibende Ich in Konkurrenz zueinander, wenn man so will, eine Spiegelung im Kleinen der Prüfungssituation der anderen Geschichte."