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10 Jahre Bürgerkrieg in Syrien
Syrischer Aktivist: Hungersnot treibt eine zweite Revolution an

Die Perspektivlosigkeit in der syrischen Bevölkerung sei so groß wie noch nie, sagte Omar Sharaf von der Organisation "Adopt a Revolution" im Dlf. Sogar unter treuen Gefolgsleuten von Machthaber Baschar al-Assad nehme der Widerstand zu. Auch von ihnen erwartet Sharaf einen Aufstand.

Omar Sharaf im Interview mit Stephanie Rohde |
Syrische Kinder füllen in einem provisorischen Lager für Familien, die infolge der Bombardierung und der Militäroperationen aus dem Idlib-Land vertrieben wurden, Krüge mit Wasser auf.
Hunger sei in Syrien inzwischen die größere Bedrohung als Bomben, sagte Omar Sharaf im Dlf (picture alliance/dpa/Anas Alkharboutli)
Für Reformen sind die Menschen in Syrien vor zehn Jahren auf die Straßen gegangen, doch die hat es nicht gegeben. Bis heute sind in dem Krieg über eine halbe Million Menschen getötet, viele in Gefängnissen gefoltert und etwa 13 Millionen Menschen vertrieben worden.
Täglicher Kampf ums Überleben
Die humanitäre Lage in Syrien sei katastrophal, die Perspektivlosigkeit so groß wie noch nie, sagte Omar Sharaf von der Organisation "Adopt a Revolution", die die syrische Zivilgesellschaft stärken möchte, im Deutschlandfunk. Die Bevölkerung stehe täglich vor dem Kampf ums Überleben, es gebe weder ausreichend Nahrungsmittel, noch Stromversorgung oder Brennstoffe. "Der alltägliche Druck ist einfach so massiv, dass man nicht mehr politisch agiert. Man versucht sein Überleben zu sichern", sagte Sharaf.
Dass Syrien heute in einer solchen Situation sei, liege auch an Versäumnissen der westlichen Demokratien. Diese hätten zugeschaut und Baschar al-Assad weiter als Machthaber akzeptiert, statt ihn international zu deligitimieren. Noch heute müssten sich Flüchtlinge in Deutschland Reisepässe vom syrischen Regime erneuern lassen.
Fast 20.000 tote Häftlinge
Das syrische Regime fürchte keine Sanktionen oder Strafen von außen mehr. Der Staat habe inzwischen sogar preisgegeben, dass inzwischen fast 20.000 Häftlinge im Gefängnis ums Leben gekommen sind. Die Familien bekämen Bescheinigungen über den Tod ihrer Angehörigen.
Assad müsse sich keine Sorgen machen, dass politische Ursachen zu einem erneuten Aufstand führen könnten. Die Hungersnot hingegen bringe die Menschen gegen ihn auf. Sogar Assads eigene Anhänger hätten keine Ressourcen mehr. "Eine zweite Welle ist definitiv auf dem Weg", sagte Sharaf.
Der syrischen Machthaber Baschar al-Assad
Seit 20 Jahren Präsident von Syrien - Assads tödliche Machtgier
Am 17. Juli 2000 trat Baschar al-Assad sein Amt als Präsident Syriens an. 20 Jahre später liegt das Land in Trümmern. Jeder zweite Syrer ist auf der Flucht, Hunderttausende verloren ihr Leben. Einen Plan für den Wiederaufbau gibt es nicht – und Assad kann seine Macht weiter ausbauen.

Das vollständige Interview im Wortlaut:

Stephanie Rohde: Hätten Sie sich vor zehn Jahren vorstellen können, dass friedliche Proteste in so einer Katastrophe enden?
Omar Sharaf: Nein, definitiv nicht, weil wir dachten, dass Assad Junior, einer, der im Westen ausgebildet wurde, der in Kontakt mit Demokratie kam, vielleicht zügig nach wenigen Wochen doch auf die Bevölkerung reagieren würde – positiv reagieren würde.
Rohde: Es ist jetzt ja ganz anders gekommen. Wie muss man sich das Leben denn gerade vorstellen, vor allen Dingen in den ehemals umkämpften Regionen? Würden Sie sagen, die Menschen leben dort, oder überleben sie eher?
Sharaf: Es ist wirklich ein Kampf ums Überleben. Von einem normalen Leben kann man nicht mehr ausgehen. Ich habe, wie Sie gesagt haben, Verwandte vor Ort. Sie starten den Tag jeden Tag und versuchen, wirklich bis zum Abend überhaupt was hinzubekommen an Nahrungsmitteln, an Stromversorgung, an Brennstoff sogar. Das heißt, von einem Leben kann man nicht wirklich sprechen.
Rohde: Das heißt, statt Angst vor Bomben hat man jetzt Angst vor Hunger?
Sharaf: Absolut! Und Sie haben es gesagt: 80 Prozent, 90 Prozent der Bevölkerung lebt inzwischen unter der Armutsgrenze. Das heißt, es ist eine Perspektivlosigkeit, die dort herrscht. Die ist einmalig in der Geschichte des Landes.
Ein syrischer Junge hält ein Plastikfass, im Hintergrund laufen Kinder mit Plastiksäcken.
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Die humanitäre Lage in Syrien sei so schlimm wie noch nie, sagte Konstantin Witschel, Syrien-Koordinator der Deutschen Welthungerhilfe, im Dlf. Die jüngste Militäroffensive des syrischen Regimes habe eine Million Menschen innerhalb des Landes vertrieben. Auch die Kinderarbeit habe zugenommen.
Rohde: Die verfeindeten Gruppen, die leben ja zusammen in dem Land. Wie gehen denn die Menschen mit diesen extremen Spannungen um? Lebt man einfach segregiert, damit man nicht wieder aneinander gerät?
Sharaf: Ich glaube, die Menschen tendieren jetzt dazu, abzuschalten. Wie gesagt, der alltägliche Druck ist einfach so massiv, dass man jetzt nicht mehr politisch agiert, sondern man versucht, wirklich sein Überleben dort zu sichern.

"Das Regime befürchtet keine Sanktionen und Strafen von außen"

Rohde: Viele haben ja Angst vor dem Polizeistaat, vor dem Geheimdienst auch. Was hören Sie denn über verschwundene und in Gefängnissen gefolterte Menschen?
Sharaf: Ja. Leider kam es seit 2018 etwa so, dass der syrische Staat angefangen hat preiszugeben, dass bestimmte Häftlinge, inzwischen fast 20.000, doch in Gefängnissen ums Leben kamen. Wenn Familien ihre vermissten Verwandten suchen, dann kriegen sie inzwischen auch eine Bescheinigung vom Standesamt, von den Behörden vor Ort, dass diese Person an dem und dem Tag verstarb – meistens um sieben Uhr zufälligerweise. Das heißt, das Regime steht dazu, befürchtet keine Sanktionen und Strafen von außen. Es mehren sich auf jeden Fall die Todesanzeigen. Allerdings wird das ganz still gehandelt von den Familien. Es gibt keine Trauerfeier, nichts. Man bekommt auch die Leiche des Verwandten nicht.
Rohde: Sie haben sich stark gemacht mit "Adopt a Revolution". Kann man jetzt in dieser Situation überhaupt noch helfen, zum Beispiel mit Schulunterricht?
Sharaf: Nein, leider nicht. So tief in Ost Ghouta, wie wir auch aktiv waren, unter anderem aktiv waren, können wir nicht arbeiten. Es gibt einen Grund. Das Regime hat ein Machtmonopol. Das Regime duldet keine Zivilgesellschaft und die Arbeit mit Adopt war eine zivilgesellschaftliche Aktivität. Das heißt, das Regime hat nach wie vor die Macht vor Ort, will gerne kontrollieren, was da unterrichtet wird, und auch die Art und Weise, wie unterrichtet wird, wird vom Regime festgelegt.

Sharaf: Westliche Demokratien haben weggeschaut

Rohde: Schauen wir mal auf die größere Perspektive. Der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller hat von der größten Tragödie des Jahrhunderts gesprochen. Eine Tragödie ist im Theater ja eine schicksalshafte Handlung. Das Scheitern ist da unausweichlich. Was antworten Sie, wenn Sie solche Beschreibungen hören?
Sharaf: Es ist definitiv eine Tragödie, aber die ist nicht gestern entstanden. Sie entstand erst 2011, als viele Demokratien, westliche Demokratien weggeschaut haben und somit ermöglichten, egal ob willentlich oder nicht willentlich, dass andere Akteure vor Ort dieses Vakuum erst mal schließen und dass sie quasi als alleiniger Spieler vor Ort agieren.
Rohde: Wo hätte man denn politisch eingreifen müssen, zum Beispiel mit einer Militärintervention der USA unter Obama?
Sharaf: Nein, das eigentlich nicht. Soweit wäre es auch nicht notwendig geworden oder gewesen. Ich glaube, man hätte auf jeden Fall Assad von Anfang an delegitimieren, politisch delegitimieren sollen. Leider ist es so: Bis heute ist Assad und sein Regime der rechtliche, rechtmäßige Repräsentant des syrischen Staates nach außen. Er besetzt nach wie vor den Sitz von Syrien in der UNO, aber auch in vielen internationalen Organisationen, verhandelt auch mit anderen Staaten. Sogar auch hier in Westeuropa beziehungsweise in Ländern, wo die syrischen Geflüchteten angekommen sind, müssen diese Geflüchteten ihre Reisepässe, Reisedokumente beim syrischen Regime erneuern lassen und dazu zwei Milliarden US-Dollar pro Jahr an das Regime überweisen.
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Seit Ausbruch des Kriegs in Syrien vor fast zehn Jahren haben viele Menschen dieses Land verlassen. Knapp 800.000 Syrer leben nun in Deutschland. Doch der Konflikt in ihrer Heimat belastet sie immer noch – und vergiftet das Zusammenleben im Exil in Deutschland.
Rohde: Aber wie genau hätte man das diplomatisch machen sollen, genau diese Grenzverschiebung, die langsam behindern?
Sharaf: Assad hat seine Vernetzungen in den Westen. Sein Geld beziehungsweise das ganze Vermögen der Familie ist ja im Westen. Bis vor wenigen Monaten hat man damit nichts gemacht. Assad konnte seine Versorgung, die Versorgung für das Regime weiter aufrecht erhalten und befürchtete eigentlich keine Konsequenzen.

"Eine zweite Welle ist definitiv auf dem Weg"

Rohde: Das heißt aber, wenn ich Sie richtig verstehe, die politische Strategie auch der internationalen Gemeinschaft zu sagen, es gibt keine Zukunft mit Assad, die ist auch komplett gescheitert?
Sharaf: Ich denke, Assad wird jetzt vielleicht befürchten, dass ein zweiter Aufstand entsteht, nicht aufgrund von politischen Hintergründen oder Ursachen, sondern aufgrund wirklich der Hungersnot, die da vor Ort entsteht. Sogar seine Loyalisten, die für ihn acht oder zehn Jahre gekämpft haben, sitzen jetzt da und die haben keine Ressourcen mehr.
Rohde: Das heißt aber im Moment – Sie haben diese Organisation "Adopt a Revolution" -, Sie sehen da schon noch eine Hoffnung, dass es Aufstände und möglicherweise eine Revolution geben könnte?
Sharaf: Absolut! Eine zweite Welle ist definitiv auf dem Weg. Das sehe ich genauso.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.